Das Scheitern des Dialogs
Die Bundeswehr zieht sich, genau wie die Streitkräfte der westlichen Alliierten, allmählich aus Afghanistan zurück. Eine militärische Niederlage bedeutet das nicht. Mit ihrer Lufthoheit, ihren isoliert gelegenen, stark befestigten Lagern und ihren gepanzerten Patrouillenfahrzeugen sind die ISAF-Truppen wenig verwundbar, geschweige denn militärisch von Aufständischen in Afghanistan zu besiegen.
Die Niederlage Deutschlands und des westlichen Bündnisses am Hindukusch ist keine militärische sondern eine politische. Vor mehr als 11 Jahren begann die Intervention. Sie sollte Afghanistan von den Taliban und al-Qaida befreien, dauerhaft Frieden, Stabilität und Wohlstand bringen und die Grundlagen für einen demokratischen Rechtsstaat schaffen. Die Frauen sollten aus ihrer Unterjochung durch die Männer befreit werden.
Die Ziele wurden, abgesehen vom Sturz der Taliban und der Vertreibung von al-Qaida aus Afghanistan gleich zu Beginn, auf geradezu verstörende Weise verfehlt. Nach mehr als elf Jahren Nato-Einsatz ist das Land unsicher. Die ISAF-Panzerwagen rasen, wenn sie überhaupt ihre Lager verlassen, aus Angst vor Anschlägen mit hoher Geschwindigkeit durch Städte und Dörfer. Mit Hightech-Ausrüstung vorbei an ärmlichen Lehmhäusern ohne Strom und fließendes Wasser.
Unpopulär und ohne Autorität
Der vom Westen eingesetzte Hamid Karzai ist immer noch Präsident von Afghanistan. Bei zwei Wahlen ist er im Amt bestätigt worden. Zumindest die zweite Präsidentschaftswahl im Jahre 2009 ist mit dem Makel massiver Fälschungen behaftet. Ein drittes Mal darf Karzai nicht antreten, aber seine Kritiker werfen ihm vor, bei den Wahlen 2014, die mit dem westlichen Truppenabzug einhergehen, einen seiner Brüder als Nachfolger installieren zu wollen.
Die Regierung Karzai ist unpopulär und ohne Autorität. Ihr Arm reicht längst nicht in alle Provinzen des Landes. Die politische Misere wird von einer wirtschaftlichen begleitet. Trotz aller internationalen Drogenbekämpfungsprogramme bleibt Rohopium der einzige Exportschlager des Landes. Die Anbaufläche des Schlafmohns, aus dem die Droge gewonnen wird, erreicht dieses Jahr einen neuen Rekord.
Ansonsten geht es der Landwirtschaft schlecht. Afghanistan ist weit davon entfernt, sich selbst zu ernähren, geschweige denn Produkte wie Nüsse oder Pistazien zu exportieren. Lebensmittel müssen eingeführt werden. Und die reichen nicht für alle. Der Hunger ist ein Problem.
Internationale Konzerne, vor allem chinesische und US-amerikanische, sichern sich Schürfrechte für die Rohstoffe des Landes, zum Beispiel die Kupferminen. Aber der tatsächliche Beginn der Arbeiten lässt auf sich warten, so dass vorerst keine Jobs vor Ort entstehen.
Die Afghanen fragen sich: wie wird es nach 2014 weitergehen? Die Aufständischen, heterogene Gruppen, in denen die wiedererstarkten Taliban den Ton angeben, machen weite Teile des Landes unsicher. Ihren Krieg gegen die Regierung Karzai finanzieren sie mit dem Drogengeschäft. Außerdem erhalten sie Unterstützung aus Pakistan. Werden sie nach dem Abzug der Nato-Truppen die Zentralregierung in Kabul stürzen?
Was ist schief gelaufen?
Aus der Sicht des Westens hat in Afghanistan das nicht funktioniert, was als Leitmotiv über diesem Internetportal steht: der Dialog mit der Islamischen Welt. Diesen Ansatz erfand die rot-grüne Bundesregierung als Antwort auf die Anschläge des 11. September 2001, und in Afghanistan wurde er zum ersten Mal in der Praxis erprobt.
Vor zehn Jahren traf man Bundeswehrsoldaten, die von der Mission beseelt waren, dem Land bei dem Aufbruch in eine neue Zeit zu helfen. Heute trifft man Soldaten wie Lagerkommandant G. im ISAF-Camp bei Mazar-e Sharif. Der deutsche Offizier teilt seine Freude darüber mit, dass er in zwei Wochen das Land verlassen werde.
Nach dem Abzug der ISAF-Truppen müssten die Afghanen sehen, "dass sie allein zurecht kommen." Auf den Einsatz insgesamt blickt er mit Zynismus zurück. Die Afghanen hätten die Chance verpasst, "mit ausländischer Hilfe etwas zu erreichen." Die Schuld daran gibt er allein den Einheimischen.
"Afghanistan ist Mittelalter plus Iphone", fasst G. seine Erfahrungen zusammen. Dann spricht er eine Warnung an solche Afghanen aus, die künftig wieder die Welt bedrohen wollen: "Afghanistan ist von Bergen umgeben und hat keinen Zugang zum Meer. Wenn es sein muss, können wir das Land einkesseln."
Man fragt sich erneut, ob es richtig war, den Schwerpunkt des deutschen und westlichen Engagements in Afghanistan auf die Entsendung militärischer Streitkräfte zu legen und den zivilen Wiederaufbau stiefmütterlich zu behandeln. Hätte man es umgekehrt gemacht, wäre "der Dialog" womöglich besser gelaufen. Aber so liefert der Einsatz ein ernüchterndes Resultat: Misstrauen und sogar gegenseitige Abneigung zwischen Vertretern des Westens und Einheimischen sind in Afghanistan augenfällig und weit verbreitet.
"Wir Afghanen können uns nur selbst helfen"
"Jeder Angriff der Nato-Truppen, der Opfer fordert, schürt den Hass auf die Ausländer", sagt Ahmadjan M., Angestellter des UN-Landwirtschafts- und Ernährungsprogramms (FAO) in Mazar-e Sharif. Der Begegnung mit den bewaffneten Emissären des Westens kann er in der Bilanz nichts Gutes abgewinnen. "Wir Afghanen können uns nur selbst helfen", meint er.
Der Mann ist Paschtune und lenkt beim Gespräch die Aufmerksamkeit auf die ethnische Fragmentierung des Landes. Dem Westen wirft er vor, die Paschtunen - "die eigentlichen Afghanen", wie er sich ausdrückt – beim Versuch der Neuordnung des Landes benachteiligt zu haben. Das habe zu großen Ressentiments bei dieser größten afghanischen Volksgruppe geführt. "Wir sympathisieren im Stillen mit den Taliban, die gegen die bestehenden Verhältnisse aufbegehren."
In der Tat ist die religiöse Bewegung der Taliban zu einer Art robustem Sprachrohr der Paschtunen geworden, aus denen sie sich fast ausschließlich rekrutiert. Die ethnische Teilung Afghanistans in einen überwiegend paschtunischen Süden und Osten und einen überwiegend tadjikischen und uzbekischen Norden ist heute schärfer als jemals zuvor. Der Zusammenhalt des Landes steht ganz grundsätzlich in Frage.
Deutschland hält es mehr mit dem Norden, wo die Bundeswehr seit Beginn des Einsatzes stationiert ist. Um "den Dialog" mit den Afghanen zu führen, hatte die Bundeswehr einen Radiosender namens "Stimme der Freiheit" (Sedaye Azadi) ins Leben gerufen. Afghanische Journalisten funken im Auftrag Deutschlands Nachrichten ins Land, die sowohl das ausländische Engagement als auch die Regierung Karzai in günstigem Licht erscheinen lassen sollen. Bezeichnenderweise ist der Sender kürzlich umbenannt worden in "Bayan-e Shomal", frei übersetzt "Nordafghanischer Rundfunk".
Mitra M. arbeitet als Moderatorin für den Sender. Für sie ist der Job eine echte Chance. Aber in der Nachbarschaft und gegenüber Verwandten verschweigt sie lieber, für wen sie arbeitet. "Bei den Ausländern beschäftigt zu sein, ist bei vielen nicht gut angesehen", erklärt die junge Frau.
Für die Zeit nach dem Abzug der ausländischen Truppen macht sie sich große Sorgen. "Ich habe Angst, dass man sich an denen rächen wird, die mit den Ausländern zusammengearbeitet haben", sagt sie. "Und wir Frauen sind dann am Verwundbarsten."
Mitra hofft, dass die Bundesregierung ihr zumindest anbieten wird, mit dem Abzug der Bundeswehr nach Deutschland zu gehen. 1.700 afghanische Mitarbeiter der Bundeswehr und anderer deutscher Arbeitgeber teilen ihre Situation: Fahrer, Übersetzer, Wachleute. Viele von ihnen sind von den Gegnern des ausländischen Militäreinsatzes bedroht worden.
"Kollaborateure mit dem Feind"
Im Gegensatz zu den USA und anderen ISAF-Staaten hat Deutschland kein Visaprogramm für afghanische Mitarbeiter aufgelegt. Die Bundesregierung verspricht lediglich, Sicherheitsbedenken der Mitarbeiter für die Zeit nach dem Truppenabzug in jedem "Einzelfall" zu prüfen.
Das Schicksal der afghanischen Mitarbeiter verdeutlicht das Dilemma des Abzugs. Lässt man sie zurück, begeht man Verrat und setzt sie womöglich der Rache von Extremisten aus. Nimmt man sie 2014 mit nach Deutschland, gesteht man das Scheitern des Einsatzes ein. Denn was ist von einem dann 13-jährigen Militäreinsatz zu halten, an dessen Ende die einheimischen Mitarbeiter außerhalb des Landes in Sicherheit gebracht werden müssen, weil sie von Teilen der Bevölkerung als "Kollaborateure mit dem Feind" betrachtet werden?
Offizier G. aus dem ISAF-Feldlager bei Mazar-e Sharif hat auf dieses Dilemma eine klare Antwort: "Die Afghanen sollen hier bleiben. Wer was von persönlicher Bedrohung erzählt, lügt. In Afghanistan erzählt man den ganzen Tag Geschichten aus Tausendundeiner Nacht."
Stefan Buchen
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de