Ein türkischer Ödipus

Yusuf Atilgans "Müßiggänger" wurde vor rund 50 Jahren zum ersten Mal publiziert. Der Züricher Unionsverlag hat den Roman jetzt im Rahmen der "Türkischen Bibliothek" herausgebracht. Das Buch ist exemplarisch für moderne Literatur des 20. Jahrhunderts. Eine Rezension von Volker Kaminski

Yusuf Atilgan; Foto: Ülkü Tamer, Unionsverlag
Geboren 1921 in Manisa, Westanatolien, arbeitete Atilgan lange Zeit als Türkischlehrer. Ab 1976 wirkte er als Übersetzer und Lektor für verschiedene Verlage. 1989 starb Yusuf Atilgan in Istanbul.

​​C. ist ein nervöser, streitlustiger, mitunter flegelhafter junger Mann, ein "Kerl" mit Ecken und Kanten. Er bezeichnet sich selbst als 'Müßiggänger', doch von entspanntem Nichtstun kann bei C. keine Rede sein. Rastlos durchstreift er die Großstadt, kauft Bilder in Malerateliers und lernt Ayse kennen, eine junge Malerin, mit der er eine wechselvolle Liebesbeziehung eingeht. Außerdem ist er Intellektueller, Vielleser, passionierter Kino- und Theatergänger und ein kritischer Beobachter seiner Umwelt, der seinen Mitmenschen ein "ameisenhaft" angepasstes Verhalten vorwirft.

Allerdings fragt man sich als Leser bald, was C. dazu veranlasst, derart unermüdlich durch das wuselige Istanbul zu laufen, mit der Straßenbahn kreuz und quer zu fahren und ein Café nach dem anderen aufzusuchen, ohne je irgendwo anzukommen.

Das Geheimnis der Ziellosigkeit

Atilgans Roman "Der Müßiggänger" ist in der Türkei ein Klassiker. Als der Roman 1957 zum ersten Mal erschien, stieß er bei der Kritik auf ein geteiltes Echo. Man warf dem Autor vor, er ignoriere gesellschaftlich-soziale Aspekte und stelle allein die Entfremdung des Einzelnen in den Mittelpunkt. Genau das macht aus heutiger Sicht den Reiz der Geschichte aus.

Der Roman wirkt – nicht zuletzt dank der hervorragenden Übersetzung von Antje Bauer – erstaunlich modern. Durch die Konzentration auf C., den unangepassten jungen Mann mit rebellischen Zügen, entsteht ein präzises Porträt eines vom Leben zerschlissenen Menschen. C. vertritt seinen Müßiggang zwar offensiv als Lebensform, doch im Laufe des Romans wird klar, dass sein Umherirren signifikant ist für seinen seelischen Zustand und dass sich dahinter ein Geheimnis verbirgt.

Cherchez la femme

Atilgan erzählt in einer glasklaren Sprache in der dritten Person, bietet jedoch mittels eingestreuter Briefe und Tagebuchaufzeichnungen auch eine Außensicht, so dass die Geschichte passagenweise von anderer Seite – von C. Freundinnen Ayse und Güler – beleuchtet wird. Nach einiger Zeit erkennt man, dass C. offensichtlich immer auf der Suche nach einer "Sie" ist, er folgt ihr durch alle Straßen Istanbuls, SIE scheint ein Phantom zu sein, dem er nachjagt, er wartet in Cafés ungeduldig darauf sie auf der Straße zu sehen, und wenn er glaubt sie entdeckt zu haben, springt er vom Tisch auf und rennt hinaus auf die Straße.

​​Diese zeitraubende Hingabe an seine Suche kann sich C. nur leisten, weil er, abgesichert durch das Vermögen seines Vaters, keiner geregelten Arbeit nachgehen muss. Dieser Vater jedoch ist gleichzeitig der Schlüssel zum Verständnis von C.s seltsamer Fixierung.

Hinter C.s zwanghaftem Verhalten liegt ein aus der Kindheit stammendes Trauma, an dem er leidet und das insgeheim seine Schritte lenkt. Seine fanatische 'Frauensuche' erinnert fast ein wenig an den Film "Vertigo" von Hitchcock, der übrigens fast zeitgleich entstanden ist (1958). Wie bei Hitchcock liegt C.s quälender Suche ein seelisches Trauma zu Grunde. Die Suche führt zurück in die Vergangenheit – das Aufdecken des Traumas bildet den Höhepunkt des Romans.

Seiner Freundin Ayse erzählt C. eines Tages, was in seiner Kindheit vorfiel: C. verlor seine Mutter, als er ein Jahr alt war, er wuchs mit seinem Vater auf, einem reichen Makler, sowie mit seiner zärtlichen Tante Zehra, die zu seiner Ersatzmutter wurde. Eines Tages erlebt C. mit, wie sein Vater, ein Trinker und notorischer Frauenheld, Tante Zehra verführt. Als der Vater bemerkt, dass C. sie beobachtet, wird er zornig, ergreift seinen Sohn mit harter Hand und verletzt ihn. Von nun an hasst C. seinen Vater und ist später sogar erleichtert, als dieser stirbt.

Ein türkischer Ödipus

Nach dieser Katastrophe, die für heutige Leser freilich allzu bemüht der ödipalen Mechanik folgt, was sich aber aus dem Zeitgeschmack erklären lässt, beginnt C. sein ruheloses Wanderleben. Er startet eine Militärkarriere, scheitert und begibt sich auf Reisen. Er neigt immer häufiger dazu in schwierigen Lebensphasen zu trinken – genau wie sein Vater, dem er doch auf keinen Fall ähneln wollte. Auch in seiner Fixierung auf Frauen, der rastlosen Suche nach "ihr" setzt er ungewollt das Erbteil seines Vaters fort – wenngleich C. sich wirklich nach echter Zweisamkeit zu sehnen scheint.

​​Am Ende haben wir begriffen, in welcher Tragik C. lebt, warum es ihm so schwer fällt sein Leben frei und selbstbestimmt zu führen und warum er "im Heute keine Ruhe finden" kann.

Es ist das Verdienst des Schweizer Unionsverlags diesen spannenden, vielschichtigen "Klassiker" in der Reihe "Türkische Bibliothek" neu herausgebracht zu haben. Dem Roman angefügt ist ein kenntnisreiches Nachwort von Yüksel Pazarkaya, das nicht nur Angaben zu Biografie und Werk Yusuf Atilgans enthält, sondern auch eine Inhaltsangabe samt Interpretationsvorschlag.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2008

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