Der Blick über die Schulter

Sankofa bedeutet auf Twi, einer in Ghana gesprochenen Sprache, so viel wie „zurückholen“ oder „wiedererlangen“. Es ist gleichzeitig der Name eines mystischen Vogels, der nach vorne fliegt, dabei aber zurückblickt. Er steht für die Notwendigkeit der Menschen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, um eine bessere Zukunft zu gestalten. Das Motiv durchzieht den Roman von Doğan Akhanlı, der 2021 verstarb. Veröffentlicht wurde das Buch 2024.
Von seinem Geburtsort Şavşat an der türkisch-georgischen Grenze bis nach Köln, vom türkischen Militärputsch 1980 über die rassistischen Anschläge von Mölln und Solingen bis zur Black Lives Matter-Bewegung in den USA: Akhanlıs imposanter Roman „Sankofa“ schlägt einen Bogen über fünfzig Jahre deutsch-türkische Flucht-, Migrations- und Weltgeschichte und schickt dabei seine Held:innen auf eine Mission: Wie lässt sich durch den Blick in die Vergangenheit eine bessere Zukunft gestalten?

Die Vergangenheit, die er befragt, erstreckt sich über einen Zeitraum von fünfzig Jahren, angefangen vom Erstarken der linken Bewegung in der Türkei in den 1970er Jahren bis zur Ermordung von George Floyd 2020. Viele ineinander verschlungene, teils parallel verlaufende Erzählungen verhandeln die großen Themen: Gewalt, Rechtsextremismus, Femizid, Gewalt, Flucht.
Zwei Geflohene treffen sich in Köln
Handlungsrahmen ist die Geschichte des „Oberleutnants“, eines ehemaligen Offiziers aus der Türkei, der seine Heimat verlassen hat und als Fotograf in Köln lebt. Während er Fotos für seine Ausstellung „Sankofa“ zusammenstellt, reist er durch seine Erinnerungen und damit in die Vergangenheit.
Er erinnert sich an Tayfun Kara, einen linken Revolutionär, dessen Verhör „der Oberleutnant“ einst überwachte und dem später die Flucht aus dem Militärgefängnis gelang. Mit wunderbar bissigem Humor beschreibt Akhanlı, der selbst im türkischen Gefängnis saß, die zunehmende Obsession des „Oberleutnants“ mit den Liebesbriefen, die der Inhaftierte mit seiner Frau austauscht.
Der „Oberleutnant“ erinnert sich auch, wie er Tayfun Kara Jahre später wiedersah: unerwartet, in Köln, wohin beide geflohen waren. Der eine als reuiger ehemaliger Handlanger des repressiven türkischen Regimes, der andere als dessen Opfer.
Dieser Hauptstrang der Erzählung ähnelt einem ironisch geschriebenen Katz-und-Maus-Spiel. Danach verliert sich die Handlung jedoch bald in viele Nebenarme. Nach und nach werden immer weitere Charaktere eingeführt. Der rote Faden des Beginns verblasst, die neuen Personen werden zu ebenso zentralen Hauptcharakteren. Sie drehen die Geschichte weiter, reisen zurück – wiederum in ihre eigene Vergangenheit – oder erzählen die Geschichten der anderen aus ihrer eigenen Perspektive.
Hinter all dem steht Akhanlıs Leben
In diesem, seinem letzten, Buch schreibt Akhanlı über seine Welt und nicht zuletzt über sich selbst. Akhanlı selbst stammte, wie der linke Revolutionär Tayfun Kara, aus Şavşat, saß als politischer Gefangener im Militärgefängnis und floh nach Köln. Die ausführlichen Darstellungen von Proben zu Theaterstücken, an denen Akhanlı selbst mitgewirkt hat, lesen sich wie eine Dokumentation dieser Zusammentreffen.

Die fiktionalen Charaktere des Romans treffen auf reale Personen, die in den jeweiligen Kontexten eine große Rolle spielen, etwa auf den Journalisten Günter Wallraff, den türkeistämmigen Psychologen Dr. Ali Kemal Gün oder den türkischen Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi.
Ein Handlungsstrang über einen „Sketchautor“, der – wie Akhanlı selbst – in Granada inhaftiert wird, lässt keinen Zweifel daran, dass Akhanlı auch seine eigene Geschichte hat einfließen lassen. „Sankofa“ dient als Zeitdokument und einer zwischen Realität und Fiktion mäandernden Hommage an viele Wegbegleiter Akhanlıs.
Eingebettet werden die Geschichten in die großen weltpolitischen Zusammenhänge. „Der Oberleutnant“ dokumentiert als Fotograf in den 1990er Jahren die Kriege in Jugoslawien und Ruanda, seine Ehefrau Lisa berichtet über den NSU-Prozess. Akhanlıs Charaktere setzen sich außerdem mit Ereignissen wie der Eröffnung der Zentralmoschee in Köln 2018, dem Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019, der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink in Istanbul, oder dem Foto des ertrunkenen syrischen Jungen Alan Kurdi auseinander. Teilweise gar mit historisch und geografisch weiter entfernten Dingen wie der Bürgerrechtsbewegung 1965 in Selma, USA.
Die Universalität von Gewalt
An vielen Stellen werden die Begegnungen der Charaktere jedoch nur nachskizziert, ohne Einblick in ihre Gefühlswelt. Die Lesenden bleiben mit einer Aneinanderreihung von Ereignissen zurück. Auch die Zufälle, mit denen die Schicksale der Personen, die alle auf die ein oder andere Weise einen Türkei-Bezug haben, verbunden werden, erscheinen selbst für einen fiktionalen Roman teils konstruiert. Doch die Botschaft des Autors ist klar: Als Teil eines großen Beziehungsgeflechts sind alle Menschen miteinander verbunden, im Guten wie im Schlechten.
Das Ende des Romans unterstreicht noch einmal die Botschaft, die das gesamte Schaffen des Autors durchdringt: Menschenverachtung und Gewalt sind universal. Im Roman wird in den USA George Floyd durch einen Polizisten an einem Tag ermordet, an dem auch das Theaterstück „Die Ermittlung“ von Peter Weiss über den Frankfurter Auschwitzprozess aufgeführt werden soll.
Wie in allen seinen Werken unterstreicht Akhanlı in „Sankofa“ die Verflechtung: Historische Ereignisse wirken sich auf Menschen aus, die wiederum die Ereignisse beeinflussen und die Geschichte weiterschreiben, die dann wiederum andere Menschen prägt. Es ist eine unendliche Geschichte, die sich nur zum Besseren wenden kann, wenn die Menschen – wie Sankofa – zurückschauen. Wenn sie ihre Geschichten begreifen, aus ihnen lernen.
Sankofa
Doğan Akhanlı
Aus dem Türkischen von Recai Hallaç
Sujet Verlag 2024
© Qantara.de