Der Himmel im Quadrat

Haftbedingungen in der Türkei
Die rund 20 Frauen, die in Asiye Müjgan Güvenlis Band "Sind immer wir schuldig?" mit ihren Schicksalen zu Wort kommen, sind nicht aus politischen Gründen verhaftet worden und sie bestreiten ihre Taten nicht. Doch für Güvenli ist eine patriarchale Gesellschaft für ihre Situation verantwortlich, in der sie keinen anderen Ausweg sahen.

Die Autorin Asiye Müjgan Güvenli hat in den 1970er und 1980er Jahren Berichte von Frauen in türkischen Gefängnissen aufgezeichnet. Nun sind die Texte auf Deutsch erschienen und geben Einblick in verstörende patriarchale Verhältnisse.

Von Gerrit Wustmann

Es heißt, fast jeder, der oder die in der Türkei literarisch oder journalistisch etwas zu sagen hat, bekommt irgendwann Gelegenheit, ein Gefängnisbuch zu schreiben. In den letzten acht Jahren hat die Anzahl der Gefängnisbücher jedenfalls wieder deutlich zugenommen, viele sind auch auf Deutsch erschienen – von Can Dündar, Ahmet Altan, Selahattin Demirtas, Deniz Yücel, Adil Demirci, um nur ein paar der aktuelleren Publikationen zu nennen. 

Die Jahre, in denen die Türkische Republik seit ihrer Gründung vor einem Jahrhundert über ein einigermaßen gut funktionierendes rechtsstaatliches System verfügte, sind, vorsichtig formuliert, überschaubar. 

Nach einer kurzen Reformphase nach der Jahrtausendwende folgte mit Recep Tayyip Erdogan und der AKP ein rasanter Umbau hin zu einer gleichgeschalteten Justiz, und spätestens nach dem gescheiterten Putschversuch vom Sommer 2016 kehrte auch die Folter wieder zurück in die Haftanstalten, die derweil kräftig ausgebaut wurden, um Platz zu schaffen für die neuen politischen Häftlinge. 

Zeitweise konnte jeder und jede willkürlich verhaftet werden, der oder die sich auch nur ansatzweise kritisch über den Präsidentenpalast äußerten. 

Um diese politischen Gefangenen geht es im gerade unter dem Titel "Sind immer wir schuldig? Lebensgeschichten aus dem Frauengefängnis" erschienenen Buch von Asiye Müjgan Güvenli ausnahmsweise einmal nicht – sondern um Frauen, die tatsächlich aufgrund von Mord, schwerer Körperverletzung, Diebstahl oder anderen Delikten hinter Gitter gelangt sind.   

Cover von Asiye Müjgan Güvenli Sind immer wir schuldig?
In den letzten acht Jahren hat die Anzahl der Gefängnisbücher aus der Türkei deutlich zugenommen, viele sind auch auf Deutsch erschienen – von Can Dündar, Ahmet Altan, Selahattin Demirtas, Deniz Yücel, Adil Demirci, um nur ein paar der aktuelleren Publikationen zu nennen. (Quelle: Verlag auf dem Ruffel)

Kein anderer Ausweg

Die Autorin, Jahrgang 1957, hat Soziologie studiert und in der Türkei als Journalistin gearbeitet. Seit 1997 lebt sie in der Schweiz und schreibt Bücher auf Deutsch und Türkisch sowie weiterhin Artikel für türkischsprachige Onlinemedien. 

In den Siebzigern und Achtzigern war sie selbst als politische Gefangene in mehreren türkischen Gefängnissen inhaftiert – über die Hintergründe erfährt man im Buch leider nichts. 

Stattdessen gibt die Autorin die gesammelten Geschichten ihrer Mitinsassinnen aus jener Zeit, also den Jahren rund um den Militärputsch von 1980, wieder. Die Geschichten sind stets anonymisiert, nie erfährt man einen vollen Namen und auch die Vornamen sind wahrscheinlich fiktiv, zum Schutz der Frauen, darf man annehmen. 

Jene zwanzig Frauen, die in diesem Band zu Wort kommen, haben alle eines gemeinsam: Sie sind der Taten, aufgrund derer sie verurteilt wurden, schuldig, und bestreiten das auch nicht. Dennoch setzt Güvenli den Begriff 'kriminell' in ihrem knappen Vorwort in Anführungsstriche und spricht den Frauen ihr Verständnis aus. 

"Diese Frauen fanden aus familiären und gesellschaftlichen Gründen, unter dem Druck patriarchaler Regeln, wegen Armut und Gewalt keinen anderen Weg, als zu töten oder zu stehlen. Frauen, die ihre Männer töteten, mussten das tun, um von ihren Männern nicht ermordet zu werden. Oder sie töteten ihre Männer, weil sie darin die einzige Möglichkeit sahen, sich von diesem Mann zu befreien", schreibt Güvenli. 

Kaum Chancen für Frauen

Das ist, abermals vorsichtig formuliert, problematisch, zumal es längst nicht auf alle der nachgezeichneten Schicksale zutrifft – zum Beispiel auf jene Frau, die nicht ihren Mann ermordete, sondern dessen Geliebte, die er aus Deutschland mit nach Hause gebracht hatte. Oder jene, deren Motiv Blutrache ist, und die nachzeichnet, wie omnipräsent dieses Prinzip in ihrem und dem Leben ihres bäuerlich-dörflichen Umfeldes war. 

Güvenli liefert eine Menge Berichte, in denen sich die Taten der Frauen, die Ausweglosigkeit ihrer Situation, das Ausgesetztsein angesichts von häuslicher Gewalt, Missbrauch, Diskriminierung und familiärem Druck gut nachvollziehen lassen. Man versteht, warum sie handelten, wie sie handelten und warum sie, geplant oder im Affekt, zu Mörderinnen wurden.  

Wie jene Frau mit dem Namen Serap im ersten Text des Bandes. Sie verliert sich darin, Quadrate in Bettlaken zu schneiden und durch die Löcher den Himmel zu betrachten (was den Blick in den Himmel durch quadratische Zellenfenster evoziert). Nachdem sie ihren Mann aus Liebe gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet hat, landete sie dennoch in einer Ehehölle, in der sie zur Putzfrau und zum Sexspielzeug degradiert wird.  

Ihr Schicksal ist längst nicht das verstörendste Beispiel, das Güvenli anführt. Nein, es sind wirklich oft zermürbende Geschichten, die verdeutlichen, wie wenig Chancen Frauen selbst in den linken und vermeintlich progressiven Milieus in jener Zeit hatten.

Ihr Vertrauen in eine faire Justiz ging gegen null, was nicht auf Vorurteilen, sondern auf Erfahrungswerten beruhte. Längst nicht alle, aber sehr viele von ihnen wurden vom Opfer zur Täterin, weil sie schlicht keinen anderen Ausweg sahen – und wir wissen, dass solche Dinge in der Türkei bis heute geschehen, dass Femizide und Missbrauch zur traurigen Tagesordnung gehören. 

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Gewalt gegen Frauen ist omnipräsent

Nur ändert all das nichts an der Tatsache, dass Mord Mord bleibt – eine Perspektive, die Güvenlis Buch zu keinem Zeitpunkt einnimmt. Dabei sind damals wie heute neben den misogynen gesellschaftlichen Normen die fehlende Rechtsstaatlichkeit das Problem. Hätten die Frauen die Möglichkeit, sich aus solchen Beziehungen zu befreien, ohne familiäre oder anderweitige Konsequenzen fürchten zu müssen und könnten sie gegen prügelnde Ehemänner vor Gericht ziehen, dann hätte es viele dieser Taten nicht gegeben, nicht geben müssen. 

Das soll nicht heißen, dass funktionierende rechtsstaatliche Instanzen das Problem aus der Welt räumen – auch in Deutschland ist das Thema Gewalt gegen Frauen ja omnipräsent, leider. Auch in Deutschland wird nicht gerne darüber gesprochen, auch hier mangelt es nach wie vor an breitem Bewusstsein und an Unterstützung, wenn es darum geht, gegen patriarchale Verhältnisse anzugehen. 

Das Buch von Güvenli ist so wichtig macht, weil es Frauen eine Stimme gibt, die üblicherweise keine haben. Obwohl die Berichte bereits rund vierzig Jahre alt sind, stehen sie doch zweifellos stellvertretend für das Schicksal vieler Frauen, die auch heute noch, und längst nicht nur in der Türkei, Vergleichbares durchmachen müssen.

Gerrit Wustmann 

© Qantara.de 2024  

Asiye Müjgan Güvenli: Sind immer wir schuldig? Lebensgeschichten aus dem Frauengefängnis, Verlag auf dem Ruffel