Istanbul, ein Bellen, ein Möwenlachen

Eine Moschee im Abendlicht am Bosporus
Man kann nicht von Istanbul erzählen, ohne von den Tieren der Stadt am Bosporus zu berichten, von Katzen und Hunden, Möwen, Tauben, Pferden und Delphinen, Foto: Givaga/Shotshop via picture alliance

Istanbuls Könige sind die Möwen, die Katzen und Hunde in den Gassen und die Tauben am Taksim-Platz. Auch aus der Literatur sind sie nicht wegzudenken. Eine neue Anthologie mit Kurzgeschichten von türkischen Autorinnen und Autoren setzt den Tieren der Stadt ein erzählerisches Denkmal.

Von Gerrit Wustmann

Man kann nicht von Istanbul erzählen, ohne von den Tieren der Stadt am Bosporus zu berichten, von Katzen und Hunden, Möwen, Tauben, Pferden und Delphinen. Die Straßenhunde bekommen aktuell, wieder einmal, besondere Aufmerksamkeit, denn die türkische Regierung will nicht vermittelbare Tiere einsammeln und einschläfern lassen. Angeblich, weil sie eine Gefahr für die Menschen darstellen. 

Das stimmt zwar nicht, aber die gelegentlichen Storys von Hunderudeln, die Zweibeiner gejagt, verletzt oder getötet hätten, sorgen für den ein oder anderen Aufreger. 

Wer die Istanbuler Hunde kennt, weiß, wie harmlos sie sind. Selbst die abgemagerten Exemplare in jenen Stadtvierteln, in denen sich kaum jemand um sie kümmert, sind nicht aggressiv, ebenso wenig wie die nachts umherstreunenden Rudel.

Im Gegenteil: Wer den Hunden ein wenig Aufmerksamkeit schenkt, ihnen die Ohren krault und Futter besorgt, gewinnt schnell gute neue Freunde und Beschützer, die einem nicht mehr von der Seite weichen (wie der Autor dieser Zeilen aus eigener Erfahrung zu berichten weiß). 

Die sporadischen Fälle von Aggression liegen in aller Regel in grobem menschlichem Fehlverhalten begründet oder aber darin, dass jemand einen Kampfhund ausgesetzt hat – und auch dann ist das Problem menschengemacht. "Hunde wie diese machten Jahre später Schlagzeilen, immer wieder griffen sie jemanden an, und man sagte, es sei sehr gefährlich, sie ohne Maulkorb herumlaufen zu lassen", heißt es dazu in Emrah Polats Kurzgeschichte "Die Brutalität selbst ging um". Brutal sind in der Geschichte aber in erster Linie Menschen, nicht die Hunde. 

Menschen, die sich für Möwen halten

Der Text ist Teil der von Tuğçe Isıyel edierten und von Sara Heigl ins Deutsche übersetzten Sammlung "Von Tieren, Menschen und der Stadt. Geschichten aus Istanbul" (Dagyeli Verlag, Juni 2024). In 18 Erzählungen geht es nicht nur um missbrauchte Hunde, sondern auch um Möwen, um Menschen, die sich für Möwen halten, um weitgereiste Tauben und, natürlich, um Katzen, denen die Filmemacherin Ceyda Torun 2016 in ihrem Film "Kedi" bereits ein cineastisches Denkmal gesetzt hat.

Die Autorinnen und Autoren, unter ihnen zum Beispiel Mario Levi, Ömür Iklim Demir, Melike Ilgün, Haydar Ergülen und Ethem Baran, schreiben dabei nicht nur über die Tiere, sondern nehmen manches Mal auch deren Perspektive ein. In Irmak Zilelis "Die Gerüche von Istanbul" erleben wir die Stadt aus der Perspektive eines Hunderudels, das einen Müllsammler auf seinem Weg durch die Gassen begleitet und schon genau weiß, wann und wo ein wenig Futter abfällt. 

Der aktuelle Versuch der türkischen Regierung, die Hunde loszuwerden, ist nicht der erste. Bereits im Jahr 1910 verfrachteten die Osmanen Tausende Hunde auf eine unbewohnte Prinzeninsel im Marmarameer, wo diese nichts zu Fressen fanden und sich schließlich gegenseitig massakrierten. Seitdem scheiterten ähnliche Versuche von Regierungen und Stadtverwaltungen mehrfach an massivem öffentlichem Protest – der sich auch jetzt wieder regt. 

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"Möwen haben kein Geschichtsbewusstsein, das heißt, sie haben schon eines, aber nicht in dem Maße wie Krähen“, schreibt Ömür Iklim Demir (dessen hervorragende Storysammlung "Das Buch der entbehrlichen Gedanken" seit 2018 im inzwischen leider nicht mehr existierenden binooki Verlag auf Deutsch vorliegt. Der Verlag hatte sich auf junge türkische Literatur in deutscher Übersetzung spezialisiert).

"Das alte Lied der Möwe" ist seine makabere Short Story betitelt, in der eine Möwe einer Krähe nacheifert. Diese berichtet ihr, wie eine Artgenossin sich "während des Russisch-Osmanischen Kriegs eine Woche lang bei drei Mahlzeiten am Tag den Magen vollschlug, allein indem sie den Leichen die Augen auspickte“. Allerdings: Bei der erzählenden Möwe handelt es sich um einen zum Serienmörder mutierten Geschichtslehrer, der sich für eine Möwe hält.

Haydar Ergülen hingegen liefert "10 gute Gründe, Katzen zu lieben" - zum Beispiel, weil sie einen zu einem besseren Menschen machen. An anderer Stelle geht es um die seltsam geformte Möwe am Denkmal des Dichters Orhan Veli oder um die Abenteuer der Tauben, die von Istanbuls Dächern aus die Welt erkunden, während die Menschen ihnen neidisch hinterherblicken.

Der Ansatz dieser Anthologie ist so naheliegend, dass man sich fragen muss, warum noch niemand zuvor auf die Idee gekommen ist, eine derartige Sammlung von Geschichten herauszugeben. Das Ergebnis jedenfalls ist gelungen. Die Anthologie ist ein vielstimmiger Kanon der jüngeren türkischen Gegenwartsliteratur, der sich mal auf sanften Schwingen, mal auf leisen Tatzen seinem Thema nähert. Wer Istanbul kennt, wird sich in diesem Buch sofort heimisch fühlen und obendrein viele neue Aspekte über die Stadt und ihre Tiere kennenlernen. 

Wer die Stadt nicht kennt, wird das nach der Lektüre alsbald ändern wollen. Abgesehen vielleicht von denjenigen, die Hunde einschläfern lassen wollen – bleibt zu hoffen, dass auch der aktuelle Versuch dazu im Sande verläuft. 

Gerrit Wustmann

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