Ziviler Ungehorsam statt Gewalt
Wie zuvor kein anderer Anschlag in Indien hatte der Terrorakt vom 26. bis zum 29.November 2008 die internationale Öffentlichkeit erregt. In Indien wurde er sogar mit dem Anschlag auf das World Trade Center am 11.September 2001 verglichen.
Indische Muslime aus Mumbai, die selbst schon oft Ziel gewalttätiger Attacken fanatischer Hindu-Nationalisten waren und nach dem Angriff ebenfalls zahlreiche Opfer zu beklagen hatten, verurteilten den Terrorakt und organisierten zusammen mit Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften Proteste und Friedensmärsche.
Mit dabei war das Zentrum für die Studien der Gesellschaft und des Säkularismus (CSSS) des islamischen Reformtheologen Ashgar Ali Engineer.
"Terrorismus hat keine Religion"
"40 Prozent der Opfer waren Muslime", sagt Kutub Kidwai, die rechte Hand von Ashgar Ali Engineer. Sie spricht sich dafür aus, Terrorismus und Religion scharf voneinander zu trennen. "Terrorismus hat keine Religion und kennt keine Freunde, keine Brüderlichkeit", erklärt die indische Sunnitin Kidwai. "Sie hatten nicht eine bestimmte Glaubensgemeinschaft angegriffen, sondern uns alle."
Der 1939 geborene Ashgar Ali Engineer hat sich mit seiner ursprünglichen Glaubensgemeinschaft – den schiitischen Dawoodi-Bohras – seit Jahrzehnten überworfen. Mit zum Team gehören auch Hindus und Angehörige anderer Religionen.
Ob Christen, Sikhs, Hindus, Muslime oder Juden – Ashgar Ali Engineer tritt allen Gläubigen – und Nichtgläubigen – mit Respekt entgegen. Er ist der bekannteste islamische Reformtheologe Indiens.
"Alle Menschen, auch die Frauen, müssen in Würde leben können und die gleichen Freiheitsrechte genießen", hält er denjenigen vor, die aus dem Koran eine Vorherrschaft der Männer ableiten. "Sie müssen selbst entscheiden können über ihre eigene Zukunft und Gegenwart – darin besteht für mich der Geist des Korans."
Im Visier der Dawoodi-Bohras
Engineer stellt deshalb auch die Scharia in Frage, denn sie habe den Koran in einer historischen Phase ausgelegt, als die Gesellschaft noch feudal geprägt gewesen sei. "Heute müssen wir alle Gesetze der Scharia neu überdenken", so Engineer.
Sein Engagement machte ihn zur Zielscheibe der Dawoodi-Bohras. "Fünf Mal haben Sie versucht, mich umzubringen", blickt der Reformtheologe zurück. Einschüchtern konnten die Täter ihn allerdings nicht. Seit vielen Jahrzehnten organisiert er Seminare und Kongresse, ist im ständigen Dialog mit Vertretern religiöser, sozialer und politischer Organisationen.
Der letzte Angriff auf Ashgar Ali Engineer ereignete sich im Jahr 2000. Zeitungen und Fernsehkanäle berichteten, viele kritische Intellektuelle bekundeten ihre Solidarität mit dem Reformtheologen.
2004 wurde Ashgar Ali Engineer für seinen aufrechten Gang zusammen mit Swami Agnivesh, einem Hindu-Reformer und Gegner der Hindu-Nationalisten, der alternative Friedensnobelpreis verliehen.
Ort seines Wirkens ist seit vielen Jahrzehnten die 18-Millionen Einwohner Stadt Mumbai, führendes Wirtschaftszentrum des Subkontinents und die Stadt in Indien, die wie keine andere westlich orientiert ist. Mehr als jede andere indische Metropole wurde sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten von Terroranschlägen und Pogromen heimgesucht.
Gegen Extremismus und für Toleranz
Seit mehr als 15 Jahren regiert die rechtsradikale Hindu-Partei Shiv Sena, die "Armee des Gottes Shiva". Die Shiv Sena betrachtet die indischen Muslime als "fünfte Kolonne" ihres Erzfeindes Pakistan.
Nicht zufällig, sondern genau deshalb unterhält Ashgar Ali Engineer sein Zentrum für die Studien der Gesellschaft und des Säkularismus in Mumbai. In seinem Kampf gegen den Fundamentalismus baut er auf die indische Tradition im Umgang mit unterschiedlichen Religionen.
"Dank unserer Mischkultur unterscheidet sich der Islam in Indien von dem arabischer Länder", so Engineer. "Muslime sind hier eine Minderheit und schon die muslimischen Dynastien, die in Indien herrschten, mussten ihre Religiosität mäßigen, denn die Bevölkerungsmehrheit gehörte einer anderen Religionsgemeinschaft an", erklärt der Theologe.
Die indische Zivilisation und Kultur habe einen starken Einfluss auf den Islam, genau wie der Islam umgekehrt auch die indische Kultur beeinflusst habe.
Diese Tradition der Mischkultur greife auch heute noch: "Trotz des einflussreichen Hindu-Fundamentalismus hat sich die Mehrheit der Hindus nicht davon infizieren lassen", ist Engineer überzeugt, "die meisten Hindus sind sehr entgegenkommend und säkular."
Kutub Kidwai blickt skeptischer in die Zukunft. Sie befürchtet, dass verdrängte und ungesühnte Angriffe auf indische Muslime und ihre religiösen Stätten jüngere Glaubensbrüder radikalisieren. Jedenfalls benutzten auch die Attentäter von Mumbai diese Vorfälle, um ihre Tat zu rechtfertigen.
"Einer erwähnte während eines Interviews mit einem Fernsehsender die Zerstörung der Babri-Moschee von 1992 und das Pogrom gegen Muslime in Gujarat im Jahr 2002", so Kidwai. Er habe ein Ende der Grausamkeiten gegen Muslime gefordert.
"Wir müssen endlich begreifen, dass wir auch unsere internen Konflikte in Indien wahrnehmen müssen", insistiert Kidwai, "sonst werden andere daraus ihren Vorteil ziehen und versuchen, unsere Jugend in ihre Organisationen zu locken."
Ökonomische Gerechtigkeit als religiöser Auftrag
Aber Muslime in Indien sind nicht nur öfter brachialer Gewalt durch Hindu-Nationalisten und ausgesetzt, sondern haben im Vergleich zur hinduistischen Bevölkerungsmehrheit in Indien außerdem weniger Zugang zu Bildung, sind ärmer und im öffentlichen Dienst unterrepräsentiert.
Das zu ändern sei Teil seines religiösen Auftrags, so Engineer, denn auch der Islam betone die ökonomische Gerechtigkeit.
Die Lektüre von Werken des britischen Philosophen Bertrand Russel und von Karl Marx hat das Lebenswerk Engineers ebenfalls beeinflusst. Nach Engineers Auffassung hat Marx nicht die Religion an sich – sowie deren spirituellen Inhalt – verdammt, sondern ihre soziale Funktion.
Mit Karl Marx ist sich Ashgar Ali Engineer einig, dass Religion ein Instrument der Tyrannei sein kann, wenn sie benutzt wird, um Verhältnisse der Unterdrückung aufrecht zu erhalten, anstatt sie zu verändern.
In seinem Buch "Islam und Revolution" entwickelt Ashgar Ali Engineer die Perspektive einer Befreiungstheologie, die der Religion eine andere soziale Funktion zuweist, die Gerechtigkeit nicht im Jenseits, sondern im Hier und Jetzt verortet.
Dabei setzt Ashgar Ali Engineer nicht auf einen bewaffneten, heiligen Krieg, sondern auf gewaltfreie Aktionen des zivilen Ungehorsams, um den Formen der unmittelbaren und strukturellen Gewalt entgegen zu treten.
Für Kutub Kidwai ist Ashgar Ali Engineer ein großes Vorbild. "Manchmal nenne ich ihn einen modernen Sufi", sagt sie, "manchmal auch einen wahrhaftigen Gandhi".
Gerhard Klas
© Qantara.de 2009
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