Al Dschasira – das Rätsel aus Katar
Taysir Alony ist ein bekannter Mann: Als die Taliban im März 2001 die Buddhastatuen von Bamian sprengten, war es der einstige Starreporter von Al Dschasira, der die Sprengung mit seiner Kamera festhielt. Die Bilder gingen damals um die Welt.
Derzeit läuft mit "The Giant Buddhas" von Christian Frei ein Film in den Kinos, der der Sprengung der berühmten Buddhastatuen nachspürt. Auch Taysir Alony kommt im Film zu Wort. Und als die USA nach den Anschlägen vom 11. 9. 2001 gegen die Taliban in Afghanistan vorgingen, was es gleichfalls Taysir Alony, der als einziger Reporter live vom Kriegsgeschehen berichtete.
Die Berichterstattung aus Afghanistan machte den in Katar ansässigen arabischen Satellitensender Al Dschasira weltweit bekannt, die Bilder aus Afghanistan fanden auch ihren Weg in deutsche Wohnzimmer; CNN hatte mit Al Dschasira einen Exklusivvertrag geschlossen.
Lichtblick in der arabischen Medienlandschaft
Fünf Jahre später und zehn Jahre nach Gründung des erfolgreichsten arabischen Satellitensenders am 1. November 1996 hat es "Al Dschasira" auf den fünften Platz der internationalen Markenrangliste geschafft - hinter Apple, Google, Ikea und Starbucks.
Der Sender konnte ein nahezu weltweites Korrespondentennetz sowie mehrere Spartenkanäle – drei Sport-, einen Dokumentations- und einen Kinderkanal – aufbauen. Besonders Interessierte können sich die Nachrichten sogar direkt aufs Handy schicken lassen.
Zwischen 40 und 50 Millionen arabischsprachige Zuschauer, so schätzt man, erreicht der Sender; ein eigener TV-Kanal in englischer Sprache ist seit über einem Jahr geplant und soll auch das nicht-arabische Publikum mit Informationen aus der arabischen und über die arabische Welt versorgen.
Am 26. März 2003 wurde dem Sender von der britischen Organisation "Index on Censorship" ein besonderer Preis für seinen Mut bei der Umgehung von Zensurmaßnahmen verliehen.
Professionalität und Ausgewogenheit
Der kometenhafte Aufstieg des von der katarischen Regierung finanzierten Fernsehsenders liegt in der Professionalität seines Teams und in dem Willen begründet, ein Gegengewicht zu CNN und BBC für die "arabische Straße" zu produzieren.
Einst zu 80 Prozent mit ehemaligen Mitarbeitern des kurzfristig auf Arabisch sendenden BBC vom Emir von Katar ins Leben gerufen, machte man sich daran, die westliche Medienhoheit bei der Berichterstattung im arabischen Sprachraum zu durchbrechen.
Bereits zwei Jahre später waren Al Dschasira-Korrespondenten während der Angriffe der alliierten Streitkräfte gegen den Irak 1998 die einzigen Reporter, die live aus Bagdad berichteten. Schon machte das Wort vom "arabischen CNN" die Runde.
Zum ersten Mal war mit Al Dschasira im arabischen Sprachraum ein Nachrichtenkanal auf Sendung gegangen, der kein Blatt vor den Mund zu nehmen schien. Die Macher hatten sich die Förderung der Demokratisierung der arabischen Welt und die Stärkung der Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben und schickten sich an, politische und gesellschaftliche Tabus zu brechen.
Diskussionsrunden und Talkshows mit Namen wie "Die andere Richtung" oder "Mehr als eine Meinung", in denen die unterschiedlichsten Standpunkte vertreten waren und in denen zum ersten Mal auch arabischen Oppositionellen das Wort gegeben wurde, waren ein Novum für die arabische Welt, die bisher nur staatlich regulierte und zensierte Medien kannte.
Gleichzeitig war Al Dschasira der erste arabische Fernsehsender, der auch israelische Experten, Journalisten und Politiker zu Wort kommen ließ. Dies alles erhöhte die Glaubwürdigkeit des neuen Fernsehkanals und setzte neue journalistische Maßstäbe für die arabische Welt.
Eigene politische Linie?
Doch die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. So etwa warf die Exklusivität der Berichterstattung – 1998 im Irak sowie später in Afghanistan – viele Fragen auf, war Al Dschasira doch in beiden Fällen der einzige von der jeweiligen Regierung akzeptierte Nachrichtenkanal. Man warf dem Sender zu große Nähe zu den Taliban vor, ebenso zu Saddam Hussein.
Ähnlich verhielt es sich im Irakkrieg 2003: Bis zum Sturz Saddam Husseins habe Al Dschasira den irakischen Oppositionellen praktisch keinen Raum gegeben, wurde kritisiert.
Das Büro von Al Dschasira in Bagdad wurde 2004 geschlossen. Sogar in Staaten wie Kuwait, Algerien oder Jordanien haben die Regierungen allerdings ihre Schwierigkeiten mit dem Sender, Saudi-Arabien indes hat Al Dschasira-Mitarbeitern noch nie die Arbeit vor Ort gestattet.
Aber auch die USA taten sich anfangs schwer mit der Konkurrenz aus Katar, widersprachen doch die Bilder getöteter US-Soldaten und afghanischer und irakischer Zivilisten dem Sieges-Diskurs der US-Administration, die die Möglichkeit des "sauberen Kriegs" propagierte.
Al Dschasira als Trendsetter
Immer wieder wurde Al Dschasira deshalb von US-Seite "falsche Berichterstattung" vorgeworfen, 2001 gar das Al Dschasira-Büro in Kabul von der US-Luftwaffe zerstört. Bei einem US-Angriff auf das Büro in Bagdad 2003 kamen ein Journalist und ein Techniker ums Leben, die gerade auf Sendung waren.
Die größte Kritik aber musste sich Al Dschasira aufgrund der Tatsache gefallen lassen, dass sich der Sender von Topterroristen wie Usama Bin Laden und Aiman al-Sawahiri oder von Abu Mussab al-Sarkawi und weiteren terroristischen Gruppen im Irak als Sprachrohr instrumentalisieren ließ.
Die dem Sender zugespielten Videobänder, in denen entführten Geiseln mit dem Tod gedroht wird, sowie Bekennervideos von Terroristen wurden zum Teil in voller Länge und im Originalton ausgestrahlt. Erst nach scharfer internationaler Kritik wurde diese Politik geändert und nur noch einzelne Sequenzen der zugespielten Bänder gezeigt.
Doch dass auch kurze Ausschnitte ihre Wirkung auf arabische Jugendliche, die, arbeitslos und ohne Aussicht auf eine Zukunft, ihren Hass auf die eigenen Regierungen wie auf "den Westen" pflegen, mitunter nicht verfehlen, zeigt ein Beispiel vom April dieses Jahres, als Al Dschasira ein Videoband von Abu Mussab al-Sarkawi zugeschickt bekam, das in Ausschnitten über den ganzen Tag verteilt immer wieder ausgestrahlt wurde.
Zu sehen war der Terrorchef der irakischen al-Kaida-Gruppe, wie er, bis auf die Zähne bewaffnet, durch die irakische Wüste marschierte und seinen virtuellen Zuschauer über die Pflicht eines jeden Muslims zum Kampf gegen die Besatzungsmacht aufklärte.
Gekleidet ganz in Schwarz, trug er seine charakteristische Wollmütze auf dem Kopf. Einige Tage später konnte man in einer arabischen Zeitung lesen, dass in den besetzten palästinensischen Gebieten ein neues Phänomen zu beobachten sei: Viele Jugendliche trügen seit kurzem eine so genannte Sarkawi-Wollmütze, die sie als neues Symbol des Widerstands für sich entdeckt hatten!
Sprachrohr der al-Kaida
Letzte Woche nun, kurz vor dem fünften Jahrestag des 11. September, konnte sich auch Usama Bin Laden erneut über Al Dschasira an die Weltöffentlichkeit wenden. Dem Sender war ein knapp 90-minütiges Videoband zugespielt worden, produziert von der al-Kaida-eigenen-Produktionsfirma "as-Sahab", die auch gleich die englischen Untertitel mitlieferte.
Auf den ausgestrahlten Ausschnitten ist unter anderem Usama Bin Laden zusammen mit dem in US-Haft einsitzenden Ramzi Ibn al-Schiba (Ramzi Binalshibh) zu sehen, wie sie die Anschläge vom September 2001 planen.
Auch zwei Attentätern vom 11. September wurde fünf Jahre nach den Anschlägen - dank Al Dschasira - die Gelegenheit geboten, ihre Abschiedsrede an die Welt zu halten. Dass Al Dschasira derartige Videos überhaupt zeigte, wurde von Seiten des Senders stets damit erklärt, man sende nur, was eine Nachricht wert sei.
Anlass zu Kritik gab auch immer wieder die Bildsprache des Senders, der nicht davor zurückschreckt, entstellte Leichen oder Verletzte groß ins Bild zu setzen, Aufnahmen, die nach europäischem Verständnis einer Verletzung der Menschenwürde gleichkommen – vor kurzem wieder einmal verstärkt zu beobachten während des Kriegs im Libanon.
Der Büroleiter von Al Dschasira in Berlin, Aktham Suliman, rechtfertigt die Ausstrahlung solcher Bilder mit dem unterschiedlichen Verständnis vom Umgang mit dem Tod in den verschiedenen Kulturen. "Dass die Würde eines Toten verletzt wird, wenn ich die Leiche zeige, ist ein westliches Verständnis. So etwas existiert nicht in der arabischen Welt", meint Suliman im Interview mit Qantara.de.
Die Kritik einiger arabischer Intellektueller geht in jüngster Zeit allerdings in eine ganz andere Richtung: Sie beschuldigen den Sender, sich zunehmend von den Muslimbrüdern vereinnahmt haben zu lassen. Besonders rigoros drückt es der in Rotterdam lebende tunesische Jurist und Publizist Khaled Choukat aus: Der Sender habe seine Unabhängigkeit verloren und sei "zu einer politisch-ideologischen Organisation verkommen, die dem arabischen Publikum seine Standpunkte verkünde".
Instrument der Muslimbruderschaft
Er geht sogar noch weiter, wenn er schreibt: "Al Dschasira ist von der internationalen Organisation der Muslimbrüder gekapert worden (...), die Treue zur Organisation habe mittlerweile Vorrang vor der Professionalität des Mitarbeiters". Dass hinter dieser Entwicklung der islamische Rechtsgelehrte Yusuf al-Qaradawi stecke, daran lässt Choukat keinen Zweifel.
Yusuf Al-Qaradawi, der sich selbst gern einem "Islam der Mitte" zurechnet, ist mit seiner sonntäglichen Sendung "Das islamische Recht und das Leben" von Anfang an auf Sendung gewesen. Welche Standpunkte der in der islamischen Welt hoch geschätzte Rechtsgelehrte vertritt, ist nachzulesen auf seiner Website, wo er etwa Selbstmordattentate der Palästinenser als legitime Verteidigung gegen die Politik Israels rechtfertigt. Für al-Qaradawi haben solche Attentäter den Status von Märtyrern.
Was ist nun, zehn Jahre nach Gründung des heute bedeutendsten arabischen Satellitensenders Al Dschasira , aus den hehren Zielen von damals geworden? Ist Al Dschasira zu einem Bin-Laden-TV verkommen? Wird der Sender mittlerweile von den Muslimbrüdern dominiert? Wie sieht es mit dem Bruch gesellschaftlicher oder religiöser Tabus aus? Hat die mutige Berichterstattung die arabischen Diktatoren das Fürchten gelehrt?
Viele Fragen, deren Beantwortung nicht eindeutig möglich ist. In jedem Fall hat die Gründung von Al Dschasira die arabische Welt in Unruhe versetzt. Die arabischen Regimes sind zwar keinen demokratischen Regierungen gewichen, doch die Diktatoren können dank Al Dschasira nicht mehr völlig unbeachtet von der Öffentlichkeit und nach eigenem Gutdünken schalten und walten.
Einer der in der Gründungsphase wichtigsten Korrespondenten von Al Dschasira allerdings, Taysir Alony, saß einige Jahre hinter spanischen Gardinen. Er wurde 2003 verhaftet und im Jahr 2005 für schuldig befunden, Kurierdienste für al-Kaida geleistet zu haben.
Larissa Bender
© Qantara.de 2006
Qantara.de
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