"Menschenrechte lassen sich nicht importieren"
Sie sind die erste Frau, die erste Asiatin und die erste Muslima als Generalsekretärin von Amnesty International. Inwiefern berühren diese Identitäten Ihre Position?
Irene Khan: Amnesty wurde 1961 gegründet; 2001 wurde ich zur Generalsekretärin gewählt. Warum dauerte es 40 Jahre, bis die Organisation eine Frau an ihre Spitze stellte? Wenn man sich unsere Organisation anschaut, fällt auf, dass sehr viele Mitglieder Frauen sind. Ich denke schon, dass Organisationen die Gesellschaft insgesamt widerspiegeln und - wie die Gesellschaft insgesamt - tat sich auch Amnesty wohl längere Zeit schwer damit, Frauen an der Spitze zu akzeptieren. Die Frage von Diskriminierung ist eine Frage der Führung – oder anders ausgedrückt: Es geht darum, ob man sich ihr stellt und versucht, sie zu überwinden oder ob man sie toleriert. Ich glaube, dass eine Führungspersönlichkeit nicht darauf warten sollte, bis sich die öffentliche Meinung ändert, sondern versuchen sollte, die öffentliche Meinung in dieser Frage zu beeinflussen.
Die Kulturen sind heute in vielen Ländern Europas stärker miteinander verwoben als jemals zuvor. Auch Deutschland ist heute ein multiethnisches, multikulturelles Land. Aber was bedeutet Integration heute aus der Perspektive der Menschenrechte und wie lässt sich Diskriminierung wirksam bekämpfen?
Khan: Es ist immer eine Frage der Balance, die vielfältige multikulturelle Gesellschaft zu bewahren und - wenn man in eine andere Gesellschaft kommt -, die Werte und Normen dieser anderen Gesellschaft zu akzeptieren. Beide Seiten müssen sich aufeinander zu bewegen. Ich sehe durchaus eine Bereitschaft hierzu - und das auf beiden Seiten. Kulturen sind ja keine statischen Einheiten. Wenn Türken nach Deutschland kommen, ändert sich irgendwann auch die deutsche Kultur durch den türkischen Bevölkerungsanteil.
Die Türken ihrerseits müssen jedoch die Kultur und Gepflogenheiten in Deutschland akzeptieren, wenn sie aus der Türkei dorthin kommen. Auf beiden Seiten muss es also Offenheit und Verständnis füreinander geben. Und das macht es auch so interessant und spannend - nämlich die Möglichkeit zu haben, in der Welt von heute verschiedene Identitäten zu leben. Wir müssen erkennen, dass die Menschen sich nicht auf eine einzige Identität reduzieren lassen. Wir müssen uns auf unsere Gemeinsamkeiten besinnen und nicht darauf, was uns trennt. Wenn wir diese Gemeinsamkeiten akzeptieren, können wir in einen wirklichen Dialog treten. Voneinander zu lernen und sich verändern, kann eine Bereicherung der Gesellschaft darstellen.
Wie kann dieser Dialog, dieser kulturelle Austausch gelingen?
Khan: Ich glaube, Veränderungen setzen dann ein, wenn die Menschen den Eindruck haben, fair und gleichberechtigt behandelt zu werden und ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis besteht. Wenn sich aber die Türken in Deutschland diskriminiert und ausgeschlossen fühlen, werden sie sich diesen Veränderungen widersetzen.
Wenn die Deutschen auf der anderen Seite glauben, dass die Türken in irgendeiner Weise minderwertig sind, wird es automatisch Spannungen geben. Deshalb denke ich, dass der Wandel nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn auf beiden Seiten der nötige Raum für Gleichberechtigung und gleichberechtigten Dialog geschaffen wird. Kultureller Wandel lässt sich nicht erzwingen. Dieser muss aus der Diskussion, aus dem Dialog und dem gesellschaftlichen Miteinander entstehen. Das ist der Grund, warum die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit von so großer Bedeutung sind.
Was halten Sie von der These, dass die Durchsetzung der Menschenrechte von Kultur zu Kultur variieren kann, was auch als "kulturelle Relativität der Menschenrechte" bezeichnet wird?
Khan: Wenn man auf die ursprüngliche Definition der Menschenrechte im Jahr 1948 zurückblickt und sie mit all den Menschenrechtsfragen vergleicht, die seitdem thematisiert wurden, so sind doch bereits einige wichtige Unterschiede festzustellen: Anfangs ging es doch darum, für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen einzustehen – das, was gut für die Männer ist, sei, so glaubte man, selbstverständlich auch gut für die Frauen. Dabei wurde jedoch übersehen, dass eine ganze Reihe von Verletzungen der Frauenrechte in den Familien stattfinden. Auch die Menschenrechtsbewegung brauchte lange Zeit, um dies zu erkennen.
Gerade im Kontext der Frauenrechte ist es wichtig festzuhalten, dass ein großer Teil der Debatte in den Gesellschaften stattfindet, die im Wandel begriffen sind. Diese Diskussionen lassen sich nicht von außen aufdrängen. Jedoch kann man sie fördern, erleichtern, man kann den Teilnehmern an dieser Diskussion Raum geben. Und doch ist es wichtig, dass sie selbst von der Notwendigkeit des Wandels überzeugt sind. Das Engagement muss von innen kommen. Menschenrechte lassen sich nicht importieren.
Die Debatte über die kulturelle Relativität dreht sich zum großen Teil um die Rechte der Frauen. Teilen Sie diese Auffassung?
Khan: Gewalt gegen Frauen ist nichts anderes als Gewalt. Zu sagen, dass es ein Teil der eigenen Kultur ist, die eigene Frau zu schlagen oder die eigene Tochter zu töten, weil sie jemanden heiraten will, den man nicht selbst ausgewählt hat, ist absolut inakzeptabel. Die Frage, ob in einer Kultur ein Kopftuch getragen wird oder eben nicht getragen wird, kann dagegen schon ein Teil der Kultur sein. Und doch muss es internationale Standards dazu geben, was als akzeptabel und was als nicht akzeptabel angesehen werden muss. Bei einigen dieser kulturellen Fragen um die Rolle der Frau geht es doch gar nicht um kulturelle Relativität, sondern um Machtfragen. Um Macht und Politik geht es hierbei viel eher als um kulturelle Relativität.
Sie erwähnten die Kopftuchdebatte. Welchen Standpunkt nehmen Sie als Menschenrechtsaktivistin hierzu ein?
Khan: Beim Thema Kopftuch geht es um Meinungsfreiheit: Eine Frau hat das Recht, ein Kopftuch zu tragen – ebenso wie sie das Recht hat, es nicht zu tragen. Es ist ihre eigene Wahl. Es liegt nicht in der Verantwortung eines Staates, ihre Kleidung zu reglementieren, sondern vielmehr darin, eine Umgebung zu schaffen, die es ihr ermöglicht, ihre Wahl frei, ohne jegliche Beeinflussung und Gewaltandrohung zu treffen. Es ist falsch, Frauen zum Tragen eines Kopftuches zu zwingen, genauso wie es falsch ist, von Frauen zu verlangen, es in öffentlichen Einrichtungen nicht zu tragen.
Interview: Ayse Karabat
© Qantara.de 2009
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Irene Khan ist seit 2001 Generalsekretärin von Amnesty International (ai), der weltgrößten Menschenrechtsorganisation und damit die siebte Person in diesem Amt seit der Gründung von ai im Jahr 1961. Sie studierte Jura an der Universität von Manchester und an der Harvard Law School, wo sie sich bereits auf Menschenrechtsfragen spezialisierte. Sie begann ihre Arbeit als Menschenrechtsaktivistin 1979 bei der International Commission of Jurists. Ein Jahr später kam sie zum Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), für den sie in verschiedenen Positionen tätig war. Khan erhielt mehrere akademische Auszeichnungen, ein Stipendium der Ford-Stiftung und 2002 den "Pilkington Woman of the Year Award".
Qantara.de
Amnesty-Bericht 2004
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Dossier
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