Ägyptens Diven der Goldenen Zwanziger Jahre
Singen, Tanzen, Alkohol: In den 1920er Jahren war der Kairoer Stadtteil Azbakeya das Zentrum der ägyptischen Unterhaltungsindustrie. Im Vorwort Ihres neuen Buches "Midnight in Cairo – the Divas of Egypt’s roaring `20s" schreiben Sie sogar, dass “es das Nachtleben von Kairo zu seinen Glanzzeiten mit dem von London, Paris oder Berlin aufnehmen konnte.” Was war so besonders am Kairo der 1920er Jahre mit seinem Stadtteil Azbakeya?
Raphael Cormack: Azbakeyas Herzstück, die Gärten von Azbakeya, wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter der Herrschaft von Mohammed Ali angelegt. Es hat aber noch bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gedauert, bis Alis Enkel, “Ismail der Prächtige“, Azbakeya zum modernen ägyptischen Ausgeh- und Unterhaltungsviertel machte. Hier öffnete 1869 die erste Oper Ägyptens ihre Türen, es wurden Theater gebaut und ein Zirkus eröffnet.
Zur gleichen Zeit entstanden immer mehr Hotels und Tanzlokale im Viertel. In den 1920ern, war aus Kairo eine boomende Stadt und eine der kosmopolitischsten Metropolen der Welt geworden, voll von neuen Investitionen und Bauprojekten. Wenn man so will, war Kairo „das Dubai der 20er Jahre“. Aber Orte wie Kairo kommen in den Geschichtsbüchern über die 1920er nur selten vor. Mein Buch ist ein Versuch, das nachzuholen.
Welchen Spuren dieser Geschichte können Touristen und Einwohner Kairos begegnen, wenn sie heute durch die Straßen von Azbakeya laufen?
Cormack: Das Opernhaus ist 1971 bekanntlich abgebrannt und wurde durch einen Parkplatz ersetzt. Aber wenn man sich heute in Azbakeya umschaut, stößt man noch immer auf viele Spuren und Überreste alter Gebäude. Zum Beispiel gibt es eine alte Tür, die früher zu einem der Theater gehörte und heute den Eingang einer Postfiliale schmückt. Im alten Alhambra Casino, einst von der Künstlerin Naima al-Misriyya geleitet, werden jetzt Autoteile verkauft. Das alte Ägyptische Theater in der Abd al-Aziz Straße war später ein Kino und das was von ihm heute noch übrig ist, dient den umliegenden Geschäften als Lagerhalle.
Geht man die Emad al-Din Straße entlang, den Hauptschauplatz der 1920er Jahre, begegnen einem einige alte Theater und Kinos aus verschiedenen Jahrzehnten. Dazu gehört etwa das Naguib al-Rihani-Theater, das frühere Ramses Theater, in dem der Schauspieler und Regisseur Youssef Wahbi und seine Theatergruppe in den 1920ern und 1930ern aufgetreten sind. Viele dieser Orte sind in einem fürchterlichen Zustand. Aber 2018 ist das beste moderne Arthouse Kino Kairos – das Zawya – in eines der alten Theater auf der Emad al-Din Straße umgezogen.
"Midnight in Cairo" erzählt die Geschichte Azbakeyas anhand der Biografien von sieben Frauen. Eine von ihnen ist die Sängerin und Schauspielerin Mounira al-Mahdiyya. Verglichen mit den anderen Frauen in Ihrem Buch, füllt Al-Mahdiyyas Leben die meisten Seiten. Was hat Sie an der “Königin des Tarab“, wie sie in der damaligen Presse genannt wurde, so fasziniert?
Cormack: Mich interessiert, wie sie ihre Rolle als Prominente perfektioniert hat. Sie war immer darauf bedacht, in den Schlagzeilen zu sein – mit Aussagen, die über die Stränge der damaligen Zeit schlugen und mit legendären Partys, die sie auf ihrem Hausboot veranstaltete.
Eine Anekdote, die in meinem Buch nicht vorkommt, aber Mouniras Bild in der Öffentlichkeit gut zusammenfasst, handelt von den Feierlichkeiten anlässlich des Thronjubiläums von König Fouad im Jahr 1925: In der ägyptischen Stadt Mansoura wurde ein großes Fest veranstaltet, zu dem viele berühmte Sängerinnen anreisten und ihre Kunst vortrugen. Unter ihnen waren auch Umm Kulthum und Mounira al-Mahdiyya. Die Zeitung Al-Ahram veröffentlichte daraufhin einen Artikel mit der Überschrift „Umm Kulthums Sieg“, wonach sie die beste Sängerin des Abends gewesen sei.
Bald darauf schrieb jemand einen Leserbrief, um Mounira zu verteidigen: „Diese falschen Schlagzeilen überraschen mich.“ Der Brief argumentierte, dass Mounira die klare Gewinnerin des Abends gewesen sei: Obwohl alle Sängerinnen um Mitternacht fertig waren, standen die Menschen um zwei Uhr nachts noch immer dicht an dicht vor ihrer Bühne. Um dem Gedränge auf der Straße Herr zu werden, zog sie zum Haupttheater der Stadt und trat noch bis vier Uhr morgens auf.
Abgesehen von ihrer Kühnheit - warum ist Mounira al-Mahdiyya aus künstlerischer Sicht interessant?
Cormack: Mounira al-Mahdiyya hat als Sängerin, Schauspielern und Performerin dieser Zeit große Spuren hinterlassen. Außerdem stellt sie die Brücke zwischen zwei Welten der ägyptischen Unterhaltungsindustrie dar: Ihre Karriere begann vor dem Ersten Weltkrieg in den alten Musicalhallen, später gründete sie ihre eigene Theatergruppe und schauspielerte wohl als erste ägyptische Muslimin auf einer Bühne.
Nach dem Ersten Weltkrieg tauchte sie in die neue Welt des Kabaretts auf der Emad al-Din Straße ein. Der Krieg und die Revolution von 1919 gegen die britische Besatzung, markieren einen Wendepunkt in der ägyptischen Kultur. Die Menschen hatten das Gefühl von Fortschritt. Mounira al-Mahdiyya war mittendrin im Geschehen und hat es geschafft, in verschiedenen Bereichen der Unterhaltungsindustrie unglaublich erfolgreich zu sein.
Welche Quellen haben Sie benutzt, um die Leben der Diven in "Midnight in Cairo” zu rekonstruieren?
Cormack: Um vom Leben der Frauen zu erzählen, habe ich mich hauptsächlich auf zwei Arten von Quellen gestützt – auf die Presse der damaligen Zeit und auf Memoiren, die die meisten der Frauen verfasst haben. Im Buch finden sich autobiographische Erzählungen von allen sieben Frauen. Diejenigen, die keine Memoiren veröffentlichten, haben zumindest oft kurze Zeitungsartikel hinterlassen.
Besonderen Spaß hat es mir gemacht, die alten Showbiz-Magazine der 1920er Jahre zu lesen. Sie sind randvoll mit Klatsch und Tratsch und eine wahre Fundgrube für gute Geschichten. Die beste Sammlung dieser Art befindet sich in der Ägyptischen Nationalbibliothek. Auch in der Amerikanischen Universität in Beirut gibt es eine beträchtliche Sammlung. Ergänzt habe ich diese Funde mit verstreutem Material aus den USA und Großbritannien, sowie mit einigen Quellen, die online einsehbar sind.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass „die Geschichte Azbakeyas die Geschichte des modernen Ägypten sei“ und verweisen auf verschiedene Entwicklungen jener Zeit wie die Entstehung der modernen ägyptischen Frauenbewegung. Allerdings rückt Ihr Buch Hoda Shaarawi – eine der Ikonen dieser Bewegung – in ein zweifelhaftes Licht. Zumindest, wenn es um Shaarawis Umgang mit der Sängerin und Schauspielerin Fatima Sirri geht, die eine Liebesbeziehung mit Shaarawis Sohn Mohammed hatte.
Cormack: Nachdem sie bereits eine Weile zusammen waren, gingen Fatima Sirri und Mohammed Shaarawi 1924 eine urfi-Ehe ein – also eine privat getroffene Vereinbarung, die im Beisein von Zeugen unterschrieben wird, ohne aber bei den staatlichen Behörden registriert zu werden. Shaarawi hielt diese Ehe vor seiner Familie und seinen Freunden geheim. Kurz darauf brachte Fatima ihre Tochter Leyla zur Welt, aber Mohammed verließ die Familie. Fatima Sirri entschied sich, vor Gericht zu gehen und verklagte ihn erfolgreich auf Unterhalt.
Während des Prozesses zwischen 1926 und 1927 veröffentlichte Fatima Sirri ihre Sicht der Dinge in der Zeitschrift Al Masrah (Das Theater). Sie behauptete, Hoda Sharaawi wäre gegen eine Beziehung ihres Sohnes mit einer Sängerin gewesen sei und habe versucht, das Paar auseinander zu bringen. Es war nicht meine Absicht, die Errungenschaften bedeutender Feministinnen der 1920er wie die von Hoda Shaarawi zu schmälern. Ihre Leistungen sind bewundernswert und unbestreitbar. Allerdings wollte ich zeigen, dass es damals auch eine andere Seite im ägyptischen Feminismus gab; sie wird oft ignoriert, weil man sie mit der Unterschicht oder einem angeblich verdorbenen Lebensstil assoziierte.
Fatima Sirris Geschichte legt nahe, dass das Leben für Frauen in der ägyptischen Unterhaltungsindustrie der 1920er und 1930er Jahre fernab des Scheinwerferlichts nicht immer glamourös war. Was haben Sie darüber herausgefunden?
Cormack: Über diese Frauen zu schreiben, bedeutet einerseits wichtig, ihre Errungenschaften zu feiern. Aber es ist auch wichtig zu betonen, dass Azbakeya weit davon entfernt war, ein feministisches Paradis zu sein. Fälle von sexueller Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung prägten diese Zeit genauso. Sogar Frauen, denen der Durchbruch gelang, waren nicht davor sicher. Jenen Frauen, die heute in Vergessenheit geraten sind, ging es vermutlich noch schlechter.
Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Tänzerin Imtihal Fawzi. Sie hat versucht, ihr eigenes Kabarett auf die Beine zu stellen. Eine Männergang stellte sich ihr entgegen und wollte Schutzgeld von ihr erpressen. Als sich Fawzi weigerte zu zahlen, brachte ein Gangmitglied sie in ihrem eigenen Nachtclub um. Nur weil dieser Fall so brutal war und die Zeitungen darüber berichtet haben, wissen wir heute überhaupt davon. Ich bin mir sicher, dass es viele solcher Fälle gab, die nicht überliefert sind.
In welche Fallen kann man beim Schreiben über diese Epoche sonst noch tappen und wie haben Sie versucht, diese zu vermeiden?
Cormack: Nostalgie ist die größte Falle, in die man beim Schreiben über die 1920er und 1930er Jahre in Ägypten tappen kann. Viele Menschen blicken durch eine rosarote Brille auf jene Epoche und betrachten sie als eine Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten. Dabei bekamen Ägypterinnen erst in den 1950er Jahren das Wahlrecht und generell hatten Ägypter dann mehr Rechte als in den Goldenen Zwanzigern.
Ein anderer Aspekt, der vor allem von europäischen Schriftstellern gerne romantisiert wird, ist der Kosmopolitismus jener Tage, der gerne als etwas Ausgrenzendes dargestellt wird. Ich versuche in meinem Buch zu zeigen, dass im kosmopolitischen Kairo arabischsprachige Ägypter genauso ihren Platz hatten, wie Griechen, Engländer, Franzosen und andere.
Umm Kulthum, deren Durchbruch ebenfalls im Kairo der 1920er Jahre begann, hat ein unbestreitbares und internationales Erbe hinterlassen, an das man sich wahrscheinlich auch in 100 Jahren noch erinnern wird. Abgesehen von ihrem Erfolg – wie lässt sich das künstlerische Erbe Azbakeyas beschreiben?
Cormack: Es gibt so viele künstlerische Strömungen! Theater, Tanz, Gesang und Kino – sie bedingen sich gegenseitig, weil viele Künstler jener Jahre in verschiedenen Bereichen der Unterhaltungsindustrie aktiv waren. Zu dieser Zeit wurde der Grundstein für die heutige ägyptische Kultur gelegt – mit Frauen an vorderster Front. Man kann nicht über die Glanzjahre des ägyptischen Kinos der 1950er und 1960er Jahre sprechen, ohne Azizza Amir zu erwähnen. Sie spielte die Hauptrolle im womöglich ersten ägyptischen Film “Laila” von 1927.
Was das Theater betrifft, war Fatima Rushdi eine der größten Leiterinnen von Theatergruppen der 20er und 30er Jahre. Sie hat Kairos Theaterszene nicht nur dominiert, sondern ist mit ihren Stücken durch den Nahen Osten und Nordafrika getourt. Und das, obwohl man sich heute nur noch an Youssef Wahbi erinnert. Sie und Bahiga Hafez waren außerdem Pionierinnen des ägyptischen Kinos.
Bei der Revolution von 2011 war auf den Straßen auf einmal wieder die Musik der 1920er Jahre zu hören.
Cormack: Es gab während der Protestbewegung 2011 eine Welle, die ich als “inklusiven Nationalismus” bezeichnen würde. Dieser Nationalismus drückte sich in Liedern aus, die von Sayed Dawish während der Revolution von 1919 gegen die britische Besatzung geschrieben wurden und mit denen sich die Menschen 2011 wieder identifizieren konnten. Autorin und Theaterdirektorin Leila Soliman brachte 2014 ihr Stück "Hawa el Horreya", also ‘Wind der Freiheit’’ zur Uraufführung. Das Stück zieht klare Parallelen zwischen 1919 und 2011.
In Ägypten gibt es gegenwärtig ein wachsendes Interesse an den 1920ern und 1930ern wegen eben diesem Gefühl von neuen Möglichkeiten und Fortschritt, die diese Ära charakterisiert haben. "Midnight in Cairo" möchte die Komplexität dieser Zeit aufzeigen und jene Eigenschaften herausstellen, die sie bis heute so reizvoll machen.
Interview und Übersetzung: Anna-Theresa Bachmann
© Qantara.de 2021
Raphael Cormack: “Midnight in Cairo: The Divas of Egypt's Roaring '20s”. W.W. Norton 2021, 384 Seiten.