Pluralität im kolonialen Marokko

„Dis-orienting the Maghreb“ beginnt mit der Analyse ausgewählter Beispiele britischer und amerikanischer Reiseliteratur aus den Jahren 1880 bis 1920. Der Autor Sadik Rddad zeigt, dass diese Texte einerseits ein heute stereotypes Bild von Marokko zementierten, andererseits aber auch alternative Darstellungen beinhalten, die dem traditionellen orientalistischen Diskurs widersprechen.
Das im Februar auf Englisch erschienene Buch will die von Edward Said in seinem kanonischen Werk „Orientalismus“ etablierte monolithische Perspektive auf den Maghreb überwinden.
Laut Rddad tendiert Saids Ansatz dazu, „den Osten“ als homogene Einheit, als Gegenstück zu einem vereinten Westen, zu behandeln. Dadurch gingen die historischen und kulturellen Besonderheiten der Maghreb-Region verloren.
Rddad rückt Marokko in den Mittelpunkt seiner Kritik am orientalistischen Diskurs. In seiner Darstellung ist das Land ein Ort mit einer ausgeprägten Identität, der in weiten Teilen der postkolonialen Literatur lange übersehen wurde.
Reiseliteratur als koloniales Schlachtfeld
Das Buch besteht aus fünf Kapiteln, die eine entscheidende Phase der kolonialen Vergangenheit Marokkos untersuchen, vom späten 19. Jahrhundert bis zum Beginn der französischen Kolonialherrschaft 1912.
Es enthält Analysen der Schriften von vier britischen und amerikanischen Reisenden aus dieser Zeit:
- „Our Mission to the Court of Marocco in 1880“ (1880) von Philip Durham Trotter,
- „A Ride In Morocco Among Believers And Traders“ (1902) von Francis MacNab,
- „Morocco The Bizarre, Or, Life in Sunset Land“ (1914) vom amerikanischen Vize-Generalkonsul George Edmund Holt und
- „In Morocco“ (1920) von der amerikanischen Autorin Edith Wharton.

Rddad argumentiert, dass Reiseberichte nicht bloß als ein Instrument kolonialer Propaganda zu betrachtet werden können. Vielmehr seien sie ein Ort, in dem ideologische und nationale Konflikte ausgetragen werden, insbesondere zwischen konkurrierenden Kolonialmächten, die ein Interesse an der Modernisierung Marokkos hatten.
So propagierten beispielsweise britische Reisende wie Trotter und MacNab das Bild britischer kultureller Überlegenheit nicht nur gegenüber Marokkaner:innen, sondern auch gegenüber europäischen Rivalen, insbesondere Frankreich und Spanien. Die Texte spiegeln politische und wirtschaftliche Rivalitäten des Imperialismus im 19. Jahrhundert wider.
Aus dieser Perspektive kritisiert der Autor Edward Saids klassischen Ansatz der Orientalismuskritik. Dieser übersehe die inneren Widersprüche und Unterschiede innerhalb des westlichen Diskurses.
Rddad stützt sich dabei auf die Arbeit des Literaturwissenschaftlers Ali Behdad von der University of California, der sich mit postkolonialen Darstellungen des Nahen Ostens beschäftigt. Er argumentiert, dass „Differenz, Mehrdeutigkeit und Pluralität“ zentrale Strukturmerkmale orientalistischer Literatur seien.
Rddad zeigt, dass britische und amerikanische Reiseberichte oft eine Spannung zwischen scheinbarer Bewunderung für die marokkanische Kultur und einer eher latenten Bevormundung und Überlegenheit widerspiegeln.
Während einige Reisende Marokko als statisches, zeitloses Gebilde darstellten, erkannten andere Anzeichen von Widerstand gegen den Kolonialismus und kultureller Widerstandsfähigkeit.

Sozialbewusstsein über Nationalbewusstsein
Als Edward Said starb, war er als einflussreicher Theoretiker weithin anerkannt und hinterließ ein beeindruckendes Werk, das bis heute nachwirkt. Weshalb es notwendig ist, Edward Saids Gedankenwelt in Erinnerung zu rufen, schildert Adania Shibli.
Er zeigt auch, wie koloniale Erzählungen den Diskurs der „Zivilisierungsmission“ des 19. Jahrhunderts instrumentalisierten, um den marokkanischen Widerstand zu unterdrücken und lokale Geschichten zu marginalisieren.
Die marokkanischen Reaktionen auf diese Erzählungen variierten und waren abhängig von Faktoren wie Bildung, Klassenzugehörigkeit, Nähe zur Kolonialmacht sowie Geografie, historischem Erbe und regionalem politischen Kontext. Diese Meinungsvielfalt untermauert Rddads These, dass der Orientalismus ein von Widersprüchen und Vielfalt geprägter Raum war.
Geschlecht und Imperialismus
Rddad widmet sich auch den Schriften reisender Frauen. Dabei konzentriert er sich auf die Beziehung zwischen Geschlecht und kolonialem Diskurs. Einige Frauen wie Edith Wharton und Frances MacNab hätten sich gegen das Kolonialprojekt ausgesprochen. Gleichwohl waren ihre Schriften sicherlich nicht frei von orientalistischen und rassistischen Vorurteilen.
Obwohl MacNab christliche Missionsreisen ablehnte und sie als gewalttätig bezeichnete, beschrieb sie Marokkaner:innen als minderwertig. Sie hielt sie sogar für unwürdig, bekehrt zu werden. Durch Widersprüche wie diesen enthüllt Rddad die komplexe Verflechtung von Geschlecht und Imperialismus in der Reiseliteratur.
Rddad merkt an, dass auch Whartons Erzählung voller Widersprüche ist. Manchmal habe sie Bewunderung für marokkanische Traditionen und Widerstandsfähigkeit geäußert. Auch habe sie ihre Angst vor dem Verlust dessen zum Ausdruck gebracht, was sie kulturelle „Authentizität“ und sogar Exzentrizität nennt, durch die angestrebte westliche Modernisierung. Gleichzeitig habe sie die isolationistische US-Politik in dieser Zeit kritisiert.

Rddads Buch bietet zudem eine detaillierte Analyse des geopolitischen Kontexts und zeigt, dass der Kolonialdiskurs weder monolithisch noch statisch war, sondern sich entsprechend den historischen und politischen Bedingungen entwickelte.
Vor der Errichtung des französischen Protektorats betonten britische Reiseberichte tendenziell die britische Überlegenheit. Nach 1912 begannen sich Texte wie die von Wharton jedoch stärker an der französischen „Zivilisierungsmission“ zu orientieren.
Laut Rddad sind diese Veränderungen nicht nur auf eine Verschiebung der kolonialen Machtverhältnisse zurückzuführen, sondern wurden auch vom Geschlecht der Autor;innen, ihrer nationalen Identität und ihrer Stellung innerhalb des imperialen Systems beeinflusst.
Aus diesem Grund plädiert Rddad für eine neue Lesart der Reiseliteratur – nicht als bloße Spiegelung von Herrschaft, sondern als Raum eines Kampfes und des kulturellen Dialogs.
„Disorienting the Maghreb“ versucht, die Strukturen des kolonialen Diskurses aufzubrechen und Stimmen wiederzuentdecken, die zuvor an den Rand gedrängt wurden – seien es die der westlichen Reisenden selbst oder die der lokalen Kulturen in all ihrer Vielfalt und Differenz.
„Dis-orienting the Maghreb: Morocco in British and American Travel Writing“
Sadik Rddad
278 Seiten (Englisch)
Peter Lang Publishing, 2025
Dies ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Übersetzt aus dem Englischen von Clara Taxis.
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