Auf verlorenem Posten
Am 29. Juni bestätigte der Wächterrat den umstrittenen Ausgang der Präsidentschaftswahlen und schloss damit alle Türen für weitere Anfechtungen. Für die beiden unterlegenen Kandidaten Mehdi Karroubi und insbesondere Mirhossein Mussawi, die das Ergebnis anzweifeln, gibt es jetzt nur noch eine Chance: Sie müssen versuchen, Millionen Menschen über Demonstrationen, Versammlungen oder Streiks zu mobilisieren. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass dies gelingen kann, tendiert gegen Null.
Das iranische Regime kann noch immer Millionen von Regimetreuen mobilisieren und ist imstande, seinen Unterdrückungsapparat zu aktivieren. Beides setzt es – wenn auch widerstrebend – ein, um kleinere Kundgebungen und Aktionen mit Gewalt zu unterdrücken.
Um seine Kampagne fortzusetzen und die Bevölkerung auch weiterhin für Proteste zu gewinnen, bräuchte Mussawi jedoch eine Demonstrationserlaubnis des Innenministeriums oder zumindest das Signal der Sicherheitskräfte, sich zurückzuhalten. In diesem Zusammenhang setzte Mussawi noch bis vor wenigen Tagen seine Hoffnung auf die Beziehungen seines Verbündeten Rafsandschani zum religiösen Führer Khamenei sowie auf dessen Einfluss innerhalb der Schlüsselgremien der Regierung (Wächterrat, Schlichtungsrat, einem Teil des Parlaments etc.) und den betagten, aber einflussreichen Ayatollahs.
Doch zeigt die Vergangenheit Rafsandschanis, dass er im Machtkampf der letzten 30 Jahre keiner Allianz und keinem Bündnispartner treu geblieben ist. Während Mussawi am 27. Juni dem Wächterrat erneut Parteilichkeit vorwarf, trat Rafsandschani dafür ein, dass jener Wächterrat "gottgefällig und unter Heranziehung von Experten" die Wahlen prüfen solle.
Sechs zentrale Konfliktfelder
Die vergangenen Unruhen in Iran sind geprägt von sechs zentralen Konflikten. Bei zweien spielt Rafsandschani eine entscheidende Rolle:
1. Der Konflikt zwischen einem Teil der Bevölkerung, der gesellschaftliche und politische Freiheit fordert, und einer Regierung, die diese verwehrt.
2. Der Konflikt zwischen den armen Bevölkerungsschichten in den Städten und Dörfern und der städtischen Mittelschicht. Bei den letzten Wahlen haben vor allem die Mittellosen Ahmadinedschad ihre Stimme gegeben. In seinen nationalistischen und populistischen Parolen versprach er, die Einnahmen aus Erdöl- und Gasverkäufen gerechter zu verteilen, korrupten Machthabern den Kampf anzusagen und über Militär- und Atomprogramme Iran zur regionalen Hegemonialmacht aufzubauen. Mussawi wurde vor allem von der städtischen Mittelschicht gewählt, die mangels einer Alternative ihre Wünsche und Hoffnungen auf ihn als Symbolfigur projizierten. Er genießt außerdem die Unterstützung eines Teils der Großvermögenden, der Intellektuellen und weiterer Teile der Gesellschaft.
3. Der Widerspruch zwischen der despotischen Regierung und den Errungenschaften der Informationsrevolution, insbesondere dem Internet.
4. Die Auseinandersetzung zwischen den vier Flügeln der Regierung: den traditionalistischen Konservativen, den Fundamentalisten, den religiösen Reformern und den islamischen Pragmatikern.
5. Die Auseinandersetzung zwischen der ersten Generation der Anführer der Revolution, der alten Garde, die sich vor allem aus konservativen und traditionalistischen Geistlichen zusammensetzt, und der zweiten Generation, der neuen Garde, die dem Militärapparat und Geheimdienstkreisen entstammt und den Fundamentalisten nahe steht.
6. Die Auseinandersetzung zwischen zwei korrupten Wirtschaftseliten, die durch ihren Einfluss bei staatlichen Organen umfangreiche ökonomische Privilegien genießen: die ältere Gruppierung, für die die Familie Rafsandschani steht, und die jüngere Gruppierung, die wiederum dem Militärapparat und Geheimdienstkreisen entstammt. Bei dem Konflikt zwischen der alten und neuen Garde und den beiden korrupten Wirtschaftseliten spielt Rafsandschani eine zentrale Rolle.
Problemfall Ahmadinedschad für den Westen
Hinzu kommt die besondere Ablehnung Ahmadinedschads in der westlichen Staatengemeinschaft. Zwar werden die Außen-, die Militär- und die Atompolitik Irans nicht allein vom Präsidenten, sondern auch vom religiösen Führer, dem Hohen Nationalen Sicherheitsrat, dem Parlament, einflussreichen Vereinigungen und komplizierten Verflechtungen innerhalb der Regierung bestimmt.
Auch verfolgen die Kandidaten der Präsidentschaftswahlen, die vom Wächterrat zugelassen wurden, hinsichtlich des iranischen Atomprogramms und der Unterstützung radikaler palästinensischer Organisationen die gleiche Politik.
Jedoch ist es nicht der gesamte Flügel, sondern die Person Ahmadinedschad, die sich für die Regierung Obamas und die europäischen Staaten zu einem Problem entwickelt hat. Die Regierung Obamas möchte direkte Verhandlungen mit Iran aufnehmen. Ahmadinedschad hat durch Worte und Taten - mehr als alle seine Vorgänger - zu verstehen gegeben, dass er dazu bereit ist.
Doch die Aufnahme direkter diplomatischer Beziehungen zu einem Präsidenten, der den Holocaust leugnet und offen dazu auffordert, Israel von der Weltkarte zu tilgen, wäre nur schwer vor der amerikanischen Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Die antiisraelischen Äußerungen Ahmadinedschads geben den Kampagnen der Gegner direkter Verhandlungen mit Iran Auftrieb.
Jeden anderen Präsidentschaftskandidat würden Europa und die USA als Gesprächspartner bevorzugen. Sollte jedoch alles letztlich auf Ahmadinedschad hindeuten, wird ihnen wohl nichts anderes übrig bleiben, als auch dies zu akzeptieren. Die iranische Wirtschaft basiert auf der Verteilung der Erdöl- und Erdgaseinnahmen.
Aufgabe der Regierung ist es, diese Verteilung vorzunehmen. Der Widerspruch zwischen den Gesellschaftsschichten, die unter Nutzung ihres politischen Einflusses aus den Erdöl- und Erdgasverträgen, Importgeschäften und großen Wirtschaftsprojekten immensen Reichtum einstreichen, und den Armen, die nichts von all dem abbekommen, ist grotesk. Die Mittelschicht profitiert von den Erdöleinnahmen, ist jedoch unzufrieden über die Einmischung des Regimes in ihr Privatleben. Mangels Alternative unterstützen sie die religiösen Reformer, die eine liberalere Interpretation des Islam vertreten.
Politischer Machtpoker
Die Wahlergebnisse sind für den Ausgang des Machtkampfes der verschiedenen Flügel der iranischen Regierung entscheidend. Korruptionsvorwürfe spielen dabei ebenfalls eine große Rolle.
Bei den iranischen Präsidentschaftswahlen im Jahre 2005, die die Regierung Khatamis ausrichtete, gewann Ahmadinedschad mit seiner Parteinahme für die Armen und Entrechteten - ganz ohne Wahlbetrug - gegen Rafsandschani. Eines seiner Ziele war es, die monopolartige Vorherrschaft der Familie und Clique Rafsandschani im Erdölministerium, in den zentralen Wirtschaftsministerien sowie den wirtschaftlich einflussreichen religiösen Stiftungen zugunsten der neuen, dem Militärapparat und dem Geheimdienst entstammenden Garde zu brechen.
Rafsandschani versuchte Ahmadinedschad zu kontrollieren, indem er seine Politik offen kritisierte, einflussreiche ältere Ayatollahs gegen ihn aufwiegelte und seinen Einfluss einsetzte – bei Organen wie dem Schlichtungsrat, der auch das Kabinett überwachen kann, und dem Expertenrat, der das formelle Recht besitzt, den religiösen Führer zu überwachen, ihn zu ernennen und abzusetzen.
Ahmadinedschad konterte mit der Festnahme einiger Vertrauter Rafsandschanis und der Enthüllung von Korruptionsfällen in dessen Clique. Rafsandschani, der anstrebt, im Falle des Todes des religiösen Führers Khamenei dessen Nachfolge anzutreten, kämpft an verschiedenen Fronten, um diese Chance nicht zu verlieren und die privilegierte Position seines Flügels und Klüngels zu bewahren ebenso wie die Machtposition der alten Garde. Er ermunterte die "Partei der Diener des Aufbaus" (hezb-e kargozaran-e sazandegi), eine Partei vermögender religiöser Pragmatiker, Mussawi zu unterstützen.
Diese Partei genießt, genauso wie Rafsandschani selbst, innerhalb der Bevölkerung keinen Einfluss, nicht einmal bei der Mittelschicht. Sie verfügt jedoch über gewaltige finanzielle Mittel und setzt moderne Agitationsmethoden ein.
Rafsandjani nutzte seine biographischen Bindungen und seinen gewaltigen Reichtum, um das Netz seiner Unterstützer bei den Geistlichen der ersten Generation der Revolution und weiteren einflussreichen Ayatollahs auszubauen und sich den religiösen Reformern anzunähern. Dabei kamen ihm die politischen Fehler Ahmadinedschads zugute.
Die Achillesferse Ahmadinedschads ist das Scheitern seines Wirtschaftsprogramms. Er konnte seine Versprechen einer gerechteren Verteilung der Erdöleinnahmen und des Kampfes gegen korrupte Machthaber nicht in die Tat umsetzen und verlor so einen Teil seiner Anhängerschaft.
Die religiösen Reformer setzten bei der Wahl ihre Hoffnung zunächst auf Mohammad Khatami. Seine Kandidatur stieß in Teheran auf Zustimmung, doch Reisen in andere Provinzen machten deutlich, dass seine Popularität gesunken war.
Mehdi Karroubi, gestützt auf fünf Millionen Stimmen bei den letzten Präsidentschaftswahlen, erklärte seine Bereitschaft gegen Ahmadinedschad zu kandidieren. Rafsandschani und die gemäßigten religiösen Reformer lehnten allerdings dessen populistisches Wirtschaftsprogramm und seine Slogans vom Kampf gegen die Korruption ab.
Hinter dem grünen Banner
Mirhossein Mussawi genoss zu seiner Zeit als Premierminister die Unterstützung Khomeinis und Rafsandschanis, der damals noch erster Berater Khomeinis und Parlamentspräsident war. Der Bevölkerung galt er als unbestechlich.
Während seiner Amtszeit setzte er die Hinrichtung von Oppositionellen entschieden und gnadenlos durch und genoss das Vertrauen der traditionalistischen konservativen Geistlichkeit. Rafsandschani und seine Entourage stellten einen großen Teil der Kosten der Mussawi-Wahlkampagne. Rafsandschani war sicher, dass mit dem Sieg Mussawis die zentralen Wirtschaftsministerien und -vereinigungen unter seine Kontrolle gelangen und Mussawi seine Politik der Privatisierung - wenn auch nicht gänzlich kritiklos - umsetzt.
Der Wahlstab um Mussawi, eine Mischung aus seinen Vertrauten, Mitgliedern der Clique um Rafsandschani und Anführern der religiösen Reformer, verbarg mit verblüffendem Geschick die Persönlichkeit, die Biographie und die Überzeugungen Mussawis unter einem grünen Banner. Für Mussawi stellte das Grün einen Verweis auf dessen religiöse Symbolik dar und für die Mittelschicht ein Symbol für die farbige Revolution.
Die westlichen Medien, die zum großen Teil aus Teheran und vor allem aus Sicht der Mittelschicht berichteten, ignorierten die Anwesenheit von Millionen von Menschen auf den Wahlkundgebungen Ahmadinedschads im Umkreis von Teheran und in den Provinzen und prognostizierten voller Freude den Sieg Mussawis.
Die Mittelschicht erhielt erneut Auftrieb und die Hoffnung auf eine Reform des islamischen Systems, die nach dem Scheitern Khatamis verblasst war, blühte auf. Allerdings wirkten sich sowohl die Anwesenheit Rafsandschanis in dem Dreierbündnis mit Khatami und Mussawi, als auch die hohen Ausgaben für die Wahlkampagne Mussawis bei den armen Bevölkerungsschichten zu dessen Nachteil aus.
Ahmadinedschad verwandelte das Fernsehduell mit Mussawi geschickt in einen Angriff auf Rafsandschani und Mussawi lief ihm in die Falle. Ahmadinedschad versprach im Falle eines Sieges die Korruptionsfälle, die im Zusammenhang mit Rafsandschani und weiterer einflussreicher Politiker stehen, aufzudecken und diese vor Gericht zu bringen.
Ein politisches Erdbeben
Niemand hatte das politische Erdbeben, dass nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse ausgelöst wurde, vorhergesehen und war darauf vorbereitet. Millionen von Menschen gingen in einer der größten Protestaktionen der letzten 30 Jahre auf die Straße und die Polizei sah tagelang nur zu.
Mussawi bekannte sich vor den Wahlen – und auch nach der brutalen Niederschlagung der Demonstrationen seiner Anhänger – unverhohlen zu den "Gesetzesorganen des heiligen Systems", die islamische Verfassung und den Islam gemäß der Interpretation Khomeinis. Seine Kritik am Rechtsbruch Ahmadinedschads und die Betonung seiner eigenen Gesetzestreue zählten zu seinen wichtigsten Slogans.
Zwei dieser "Gesetzesorgane des heiligen Systems", nämlich der religiöse Führer und der Wächterrat, haben nun die Korrektheit des Wahlergebnisses bestätigt, welches doch Mussawi selbst als gefälscht bezeichnet hatte.
Drei weitere dieser "legitimen Organe" und Stützen des Systems – die Polizei, die Pasdaran und Basij-Miliz – haben die Anhänger Mussawis brutal niedergeschlagen. Das Innenministerium stellte keine Genehmigungen für die Protestaktionen Mussawis aus. Die Geschichte hat Mussawi in eine Falle tappen lassen.
Will Mussawi seine Kampagne fortsetzen, so muss er die "Gesetzesorgane des heiligen Systems" übergehen. Die Akzeptanz dieser Rolle ist für Mussawi äußerst schwer, will er das von ihm so wertgeschätzte System durch Reformen retten. Vor dem Übergriff der Polizei auf die Demonstrierenden stand Mussawi der Weg zu einem Kompromiss offen.
Dabei hätte Rafsandschani die Zusicherung erhalten, dass er selbst, seine Familie und der engere Kreis seiner Clique gerichtlich nicht belangt werden und Korruptionsvorwürfe in den Medien nicht aufgegriffen werden. Er hätte seine aktuelle Machtposition behalten und wäre weiter möglicher Nachfolger im Amt des religiösen Führers sollte Khameneis versterben.
Außerdem hätte er die Kontrolle über das Erdölministerium und weitere zentrale Wirtschaftsministerien und -vereinigungen erhalten. Mussawi hätte sich die Chance bewahrt, bei den nächsten Parlamentswahlen als erster Abgeordneter Teheran gewählt zu werden und bei den nächsten Präsidentschaftswahlen erneut zu kandidieren. Dem Regime wären die gefährlichen Folgen der gewaltsamen Niederschlagung der Protestierenden erspart geblieben.
Zeit der Ruhe
Bei seiner vielbeachteten Rede sprach der religiöse Führer Khamenei Rafsandschani vom Vorwurf der Korruption frei. Ein Vertrauter Khameneis äußerte, dass Ahmadinedschad bei der Wahl der Minister auch Rafsandschani zu Rate ziehen würde.
Die Zeitung "Jomhuriy-e Eslami", die Rafsandschani nahe steht und Mussawi unterstützte, hob in ihrem Leitartikel den Freispruch Rafsandschanis vom Korruptionsvorwurf durch Khamenei als letzter Entscheidungsinstanz hervor und gab bekannt, dass nun eine Zeit der Ruhe einkehre. Die Worte des religiösen Führers und der Leitartikel der regimetreuen Presse erhärten den Eindruck, dass Rafsandschani seine gewünschten Privilegien im Rahmen des Möglichen zugestanden bekommen und Mussawi in der Krise allein gelassen hat.
Rafsandschani hatte bereits in seiner ersten Rede nach der Wahl erklärt, dass er die Position des religiösen Führers unterstütze und der Wächterrat das Recht besitze, die Wahlergebnisse zu prüfen.
Sollte sich diese Vermutung als richtig herausstellen und sollte Mussawis Kampagne zunehmend an Kraft verlieren, so ist Rafsandschani zumindest kurzfristig der einzige Gewinner der jüngsten Ereignisse. Selbst wenn die Wahlergebnisse richtig wären, geht Ahmadinejad geschwächt hervor, während Rafsandschani einmal mehr seine Macht behauptet hat.
Faraj Sarkohi
© Qantara.de 2009
Aus dem Persischen von Sabine Kalinock
Faraj Sarkohi begründete 1985 das Kulturmagazin "Adineh" (Freitag), deren Chefredakteur er für elf Jahre war. Er lebt heute als Schriftsteller in Frankfurt am Main. Sarkohi erhielt 1998 den Kurt-Tucholsky-Preis für politisch verfolgte Schriftsteller und ist Ehrenmitglied des PEN-Zentrums Deutschland.
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