Umdenken erfordert
Grausamkeiten, die Terroristen täglich im Namen des Islam im Irak und in anderen Ländern begehen; die zunehmende Gewalt in Afghanistan, wo die wieder erstarkten Taliban versuchen, dem Land ihr drakonisches Regime aufzuzwingen - all das erinnert Muslime auf der ganzen Welt daran, dass ihre Gemeinschaft ständig im Inneren bedroht ist.
Die Angst vor einem Übergreifen der Gewalt über die Grenzen des Irak hinaus auf seine Nachbarstaaten, sowie die scheinbare Unmöglichkeit – trotz internationaler Bemühungen – Al-Kaida zu vernichten, lässt den Ruf vieler Menschen nach einer starken Führung innerhalb der muslimischen Staatengemeinschaft lauter werden. Als geeigneter Kandidat wird im Allgemeinen Saudi-Arabien betrachtet.
Sollte sich das Land für diese Rolle ernsthaft interessieren, muss es zunächst die eigene Haltung gegenüber der Religionsfreiheit klar definieren.
Großer Einfluss Saudi-Arabiens
Als Geburtsort und Hüter der beiden heiligsten Stätten des Islam nimmt Saudi-Arabien von jeher eine gesonderte Stellung innerhalb der islamischen Welt ein. Religiöse Erlasse saudi-arabischer Gelehrter entscheiden über das Leben vieler der 1,3 Milliarden Muslimen weltweit, insbesondere beeinflussen sie die Mehrheitsströmung im Islam, die Sunniten.
Diese Sonderrolle verschafft dem Land die einzigartige Möglichkeit, Denken und Handeln vieler Muslime zu beeinflussen.
Nicht nur die von Muslimen begangenen Terrorakte, sondern auch die Gewalt und die Hysterie, die 2006 auf die Veröffentlichung der Mohammad-Karikaturen in europäischen Zeitungen folgten, belegen die Militanz, Radikalität und Intoleranz vieler Muslime.
Kritiker sollten den Saudis zugute halten, dass sie energisch gegen radikale Religionsgelehrte und Imame vorgehen, die zu Hass und Gewalt aufrufen. Islamistische Militante werden verfolgt, eingesperrt und die meisten ihrer Führer wurden getötet.
Gleichzeitig ermutigen die Äußerungen König Abdullah, als er auf einer Konferenz islamischer Länder Ende 2005 vom Islam als Religion von Offenheit und Toleranz sprach und betonte, dass der Terrorismus eine hässliche Verzerrung des wahren islamischen Glaubens sei.
Einschränkungen der Religionsfreiheit
Dennoch gehört die Religionspolitik des Königreichs auf den Prüfstand: Eine Aufhebung der immer noch bestehenden Einschränkung - für Muslime als auch für Nicht-Muslime -, ihre Religion frei auszuüben, würde stärker als jede öffentliche Erklärung einen großen, positiven Schritt in Richtung Toleranz bedeuten.
Wollen die Saudis also tatsächlich ihre Rolle als "Hüter der Heiligen Moscheen" einnehmen, so müssen sie nicht nur die saudische Jugend vor den Verlockungen islamistischer Terroristen schützen, sondern auch die Führungsrolle innerhalb der islamischen Staatengemeinschaft annehmen.
Nie war dies so nötig wie in der heutigen Zeit, in der Hassschriften und blutrünstige Terrorakte im Namen des Islam nicht die Ausnahme, sondern zur Normalität geworden sind.
Dafür müsste Saudi-Arabien zunächst einmal akzeptieren, dass Millionen der im Königreich lebenden und arbeitenden Menschen keine Muslime sind. Und Saudi-Arabien muss akzeptieren, dass diese Menschen ein Recht haben, ihre Religion frei auszuüben, auch auf Gemeindeebene, und zwar ohne befürchten zu müssen, belästigt oder verhaftet zu werden.
Religionspolizei überwacht die Vorschriften
Das "Komitee zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung des Lasters", besser bekannt als "Mutawa", schickt noch immer Schergen aus, auf der Suche nach Menschen, die den strengen Verhaltenscode brechen und die sich nicht an die Kleidervorschriften halten, die ihrer eigenen, engen Auslegung des Islam entsprechen.
Nicht-Muslimen sollte zudem gestattet werden, ihre religiösen Schriften und Symbole einzuführen, die sie für ihre Glaubensrituale benötigen.
Außerdem ist von offizieller Seite das Einreiseverbot für Geistliche zu überprüfen. Die Annahme, dass die Aufhebung dieses Verbotes dazu führen könnte, dass Muslime in Scharen ihren Glauben verleugnen und die Religion wechseln, ist absurd und stellt geradezu eine Beleidigung aller Muslime dar.
Saudi-Arabern wie auch Muslimen aus anderen Ländern ist es in westlichen Ländern gestattet, ihre Religion frei auszuüben, und viele bevölkern jeden Tag kleine Moscheen in ihrer Nachbarschaft.
Das Argument, dass Saudi-Arabien so etwas wie das islamische Äquivalent des Vatikanstaates sei, kann nicht überzeugen. Im Vatikanstaat leben keine Millionen Muslime, während in Saudi-Arabien sehr wohl Millionen von Nicht-Muslimen leben.
Fortschritte im Königreich
Es ist nicht zu bestreiten, dass das Königreich Fortschritte in der Anerkennung einiger religiöser Minderheiten gemacht hat; so etwa im Fall der im Osten des Landes lebenden Schiiten, der Ismailiten im Süden und der Sufis im westlich gelegenen Hedschas.
Nun aber gilt es, weitere, konkrete Schritte zu gehen, wie etwa die Integration der Minderheiten in das politische System des Landes, ihre Vertretung in Regierungsämtern, der Zugang zu ihnen bisher verwehrten Berufen im Bildungswesen, dem diplomatischen Corps und in der Armee.
König Abdullah wäre gut beraten, die Konferenzen über den Nationalen Dialog dazu zu nutzen, um die angespannten Beziehungen zwischen der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit und den religiösen Minderheiten zu verbessern - auch wenn dies noch nicht ausreicht.
Mehr Toleranz gegenüber anderen Strömungen
Drittens muss von saudischer Seite noch deutlicher gesagt werden, dass keine Rechtsschule und keine einzelne Sekte ein Monopol auf einen "wahren" Islam haben darf. Nur indem man sich dem innerislamischen Pluralismus öffnet, wird die saudische Jugend davon abgehalten, radikalen Rechtsgelehrte in die Hände zu fallen, die jeden mit einer abweichenden Meinung als Häretiker ansehen.
Wenn sich religiöse Minderheiten im Königreich als vollwertige Bürger fühlen sollen, muss die Regierung sie auch als solche behandeln. Dies geht nur, indem man ihnen freie Religionsausübung garantiert.
Die saudischen Behörden müssen zudem ernsthaft überlegen, in wie weit die "Mutawa", das bereits erwähnte "Komitee zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung des Lasters", tatsächlich notwendig ist.
Die Annahme, dass Muslime die strikte Beachtung der Sitten und Verhaltenscodes überwachen müssen, ist innerhalb des Islam umstritten – insbesondere dann, wenn diese Überwachung gar mit der Anwendung von Gewalt einhergeht.
Der jüngste Tod zweier Bürger im Gewahrsam der "Mutawa" gab der Kritik durch saudische Bürger wie Menschenrechtsorganisationen neuen Auftrieb.
Bevölkerung lehnt "Mutawa" ab
Eine saudische Zeitung berichtete im vergangenen April, dass Angriffe von Bürgern auf Mitglieder der Religionspolizei zunehmen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass diese staatliche Institution bei einem zunehmenden Teil der saudischen Bevölkerung auf Ablehnung stößt.
Viele sind der Ansicht, dass die brutalen Einschüchterungsmethoden des Komitees dem Bild des Islam als tolerante und gemäßigte Religion bereits unermesslich geschadet haben. Die Religionspolizei bestätigt nur allzu gut die Meinung derer, die den Islam als Hort der Gewalt, Intoleranz und Militanz ansehen.
In einem Land, in dem fast jeder Bürger nur wenige Schritte von der nächsten Moschee entfernt wohnt, hat jeder einen leichten Zugang zu religiöser Anleitung. Saudische wie arabische Fernseh- und Radiosender bieten zudem eine Fülle religiöser Programme, vieles davon interaktiv.
Fast überflüssig ist es, darauf hinzuweisen, dass saudische Schüler wahrscheinlich mehr religiöse Erziehung genießen als ihre Altersgenossen in anderen Staaten.
Veraltete Lehrpläne an den Schulen
Schließlich müssen auch die saudischen Lehrpläne revidiert werden, in denen es von Hinweisen auf einen bevorstehenden Zusammenprall der islamischen und der westlichen Kultur wimmelt.
Auch wenn die zuständigen Behörden bereits dabei sind, die Lehrpläne zu überarbeiten und die Lehrmethoden zu modernisieren, werden noch viele Schüler mit Materialien konfrontiert, die selbst bei vielen Muslimen auf Kritik stößt, ganz zu schweigen von der Meinung des Westens dazu.
Ein wichtiger Teil der Revision wird vor allem darin bestehen müssen, die Pluralität der Glaubensrichtungen und Meinungen innerhalb des Islam zu betonen.
Werden all diese Maßnahmen umgesetzt, sendet Saudi-Arabien ein wirklich starkes, positives Signal an Muslime wie an Nicht-Muslime: dass der Islam tatsächlich eine Religion ist, die von Toleranz, Mäßigung und Frieden geprägt ist.
Fahad Nazer
Aus dem Englischen von Daniel Kiecol
© 2007 Yale Center for the Study of Globalization
Fahad Nazer ist leitender Wissenschaftler am "Institute for Gulf Affairs" in Washington, DC sowie Co-Autor eines demnächst erscheinenden Buches mit dem Titel "Inside the Kingdom: Saudi Arabia’s People, Its Politics and Its Future", das Ende dieses Jahres vom "American Enterprise Institute" herausgegeben werden wird.
Qantara.de
Politische Reformen in Saudi-Arabien
Die wahhabitischen Gelehrten als Hindernis
Obwohl die saudi-arabische Regierung seit einigen Jahren Schritte hin zu einer liberaleren Innenpolitik unternimmt, sind grundlegende Reformen nicht zu erwarten. Grund ist das althergebrachte Bündnis zwischen der Herrscherfamilie und den wahhabitischen Gelehrten. Guido Steinberg mit Hintergründen
Analyse Mai Yamani:
Saudi-Arabiens Reformtheater
Außenpolitisch tut sich Saudi-Arabien seit einiger Zeit damit hervor, Lösungsansätze für die Probleme im Nahen Osten zu finden. Innenpolitisch hat sich jedoch trotz Reformversprechen von König Abdullah ein Gefühl der Lähmung breit gemacht, meint die saudi-arabische Publizistin Mai Yamani.