"Muslime sollen Bürger zweiter Klasse sein"
In Deutschland warnen große Unternehmen und die etablierten Parteien davor, für die Rechtsextremen zu stimmen, da dies das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen würde. Sie argumentieren, dass eine rechtsextreme Regierung ausländische Investoren und gut ausgebildete Arbeitnehmer davon abhalten würde, nach Deutschland zu kommen. In Indien scheinen Konzerne und rechtsextreme Regierung aber gut zusammenzuarbeiten. Wie ist das möglich?
Achin Vanaik: Die großen indischen Unternehmen wollen vor allem, dass die neoliberale Ausrichtung der Wirtschaft weiter bestehen bleibt. Dieser neoliberale Wandel wurde bereits Anfang der 1990er Jahre von der Kongresspartei eingeleitet. Als die BJP erstmals an der Macht war (1998-2004), setzte sie diese Ausrichtung fort. Als Modi 2014 mit der BJP die Regierungsgeschäfte übernahm, verfolgte er denselben Kurs, sorgte aber dafür, dass die eigenen Mitstreiter aus seiner Zeit als Ministerpräsident von Gujarat, die Milliardäre Mukesh Ambani und Gautam Adani, begünstigt wurden.
Ihre Konzerne gehören heute zu den führenden indischen, global operierenden Unternehmen. Die Folgen der neoliberalen Wende in Indien sind andere als in Deutschland und im Westen. Dort ist die Situation für sehr große Teile der arbeitenden Bevölkerung schwieriger geworden als früher, als es einen viel stärkeren Wohlfahrtsstaat und mehr Vollbeschäftigung gab.
Kein goldenes Zeitalter in Indien
In Indien hat zwar die Ungleichheit dramatisch zugenommen und die Realeinkommen der unteren 50 Prozent sind sogar langsamer gewachsen als in der vorneoliberalen Ära. Aber in absoluten Zahlen sind die Dinge heute besser. Indien hatte nie ein vergangenes "goldenes Zeitalter" wie der Westen, mit dem die heutigen Bedingungen verglichen werden und demgegenüber die Verhältnisse heute als mangelhaft befunden werden können.
Darüber hinaus hat Modi wie seine Vorgänger eine Art Ausgleich für den Neoliberalismus in Form von einigen gezielten materiellen "Werbegeschenken" für Frauen und ärmere Bevölkerungsschichten geschaffen. Zum Beispiel hat er erstmals in bestimmten Bundesstaaten für Benachteiligte Gasflaschen zum Kochen oder bescheidene monatliche Bargeldüberweisungen auf Haushaltskonten eingeführt.
In der Öffentlichkeit hat sich daher die Ansicht durchgesetzt, das von der Regierung “gelenkte” indische Großkapital, habe größere "Trickle-down"-Vorteile für die breite Masse geschaffen. Massenarmut gibt es aber immer noch und in den letzten Jahren sehen wir eine wachsende Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung der gebildeten Jugend.
Grassierende Armut
Die Rechtsextremen in Westeuropa greifen teilweise die negativen Auswirkungen des Neoliberalismus an, lehnen diese neoliberale Politik aber nicht ab, wenn sie an der Macht sind. In Indien ist die öffentliche Wahrnehmung der Wirtschaftsleistung eine ganz andere, und die rassistische und ausgrenzende Ideologie der Modi-Regierung sowie ihr Hindu-Nationalismus genießen breitere Unterstützung.
Was würde es für Minderheiten und die politische Opposition in Indien bedeuten, wenn Modi und die BJP die Wahlen ein drittes Mal gewinnen?
Vanaik: Ja, Modi und die BJP werden es wohl wieder schaffen. Die Frage ist, ob die BJP eine noch größere Mehrheit erringen wird oder nicht. Wenn ja, wird sie noch schneller eine stärkere institutionelle und emotionale Grundlage für die Sicherung der Hindu-Vorherrschaft schaffen. Die beiden in erster Linie von dieser Politik betroffenen religiösen Minderheiten sind Christen und Muslime, aber die BJP geht unterschiedlich vor. Die Christen machen nur etwa 2,3 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, bei den Muslimen sind es zwischen 14 und 15 Prozent.
Taktisches Vorgehen zur Schwächung der Muslime
In den vier nordöstlichen Bundesstaaten Nagaland, Mizoram, Arunachal Pradesh und Meghalaya bilden Christen die Mehrheit. Hier besteht die Taktik von BJP und Sangh Parivar (einer Dachorganisation von Hindu-Nationalisten, Anm. der Red.) darin, mit den die christlichen Bevölkerungsteile vertretenden politischen Parteien zusammenzuarbeiten und die Regierungsmacht zu teilen.
Man überlässt den langsameren, schrittweisen Prozess der Ausweitung des Hindutva-Einflusses und der Kontrolle vor Ort dem Aktivismus der Kader von Sangh Parivar und der Arbeit ihrer Schulen, NGOs und anderer Organisationen der Zivilgesellschaft. Wenn es um Diskriminierung geht, ist der Westen bei Christen besorgter, als wenn Muslime betroffen sind. Daher sind die Hindutva-Kräfte in diesen Bundesstaaten im Allgemeinen vorsichtiger in ihrem Handeln.
Was die politische Opposition anbelangt, so besteht das Ziel, den regionalen Einfluss der muslimischen Parteien und ihre Unterstützung für die Muslime stetig zu verringern und ihre Regierungen in den Bundesstaaten zu schwächen. Ihre Parteien sollen es als Vorteil betrachten, sich mit der BJP zu verbünden, um eine gewisse Bedeutung zu behalten.
Auf der Ebene der Zivilgesellschaft werden Print- und elektronische Medien zunehmend zensiert - die Regierung hat eine eigene "Faktenprüfstelle" eingerichtet, die befugt ist, Material zu entfernen, das als antinational gilt, religiöse Hindu-Gefühle verletzt, usw.
Die Ausweitung von Überwachungskapazitäten und die neu eingeführten Strafgesetze gehören zu den Methoden, die zunehmend eingesetzt werden, um Kritiker einzuschüchtern, zum Schweigen zu bringen und um einige Ausgewählte zu bestrafen, unabhängig davon, ob sie liberal, links oder einfach nur gegen die BJP sind.
Diskriminierung von Muslimen in Indien: Massenproteste gegen neues Einbürgerungsrecht
Das ethno-nationalistische System der BJP
Was bedeutet das speziell für die muslimische Gemeinschaft? "Teile und herrsche" entlang religiöser Linien war ein wichtiges Instrument der Briten während der Kolonialzeit. Inwieweit verfolgen BJP und Sangh Parivar diese Politik?
Vanaik: Die britische Politik des "Divide and Rule" sollte die Einheit der kolonialisierten Bevölkerung verhindern, zu einem Zeitpunkt, als der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung noch viel höher war als heute und Teile des Landes eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung hatten. Außerdem wollten die Briten die muslimische und die hinduistische Seite gleichermaßen schwächen, um ihre eigene kolonial-imperialistische Herrschaft aufrechtzuerhalten.
Heute geht es der BJP darum, einen religiös-exklusiven "Ethno-Nationalismus" zu etablieren, bei dem die ausgegrenzte Gruppe, nämlich die Muslime, dauerhaft auf den Status von verängstigten Bürgern zweiter Klasse reduziert wird. Die heutige muslimische Gemeinschaft konkurriert mit den Dalits darum, nach der indigenen Stammesbevölkerung die zweitärmste, am meisten benachteiligte Gemeinschaft im Land zu sein.
Als Gemeinschaft stellen die Muslime für niemanden eine Bedrohung dar. Aber sie sind die Hauptleidtragenden bei allen größeren religiösen Unruhen. Seit 2014 sind sie das vorrangige Ziel lokaler Selbstjustiz. In vielen indischen Bundesstaaten gibt es Anti-Konversionsgesetze, die sich gegen Muslime richten, während Hindus offiziell mit der "Rückkonvertierung" zum "ursprünglichen Glauben" des Hinduismus davonkommen.
Eine Politik des "Teile und Herrsche"
Indien liegt im globalen Trend: Mit dem Sieg der Indischen Volkspartei BJP hat sich auch auf dem Subkontinent wieder eine Partei durchgesetzt, die klar im äußersten rechten Lager zu verorten ist und gleichzeitig von nationalen und internationalen Konzernen und Wirtschaftsgrößen hofiert wird. Dominik Müller kommentiert.
Keine Kritik aus dem Westen
In immer mehr Bundesstaaten müssen Eheschließungen zwischen muslimischen Männern und Hindu-Frauen erst von offizieller Seite geprüft und genehmigt werden, was sie nicht immer tun, wenn Familienangehörige oder Nachbarn behaupten, die Eheschließung sei erzwungen worden oder die Braut sei vor der Hochzeit zum Islam konvertiert.
Im Dezember 2019 wurde mit dem Citizens Amendment Act (CAA) die religiöse Diskriminierung in das Prinzip der Staatsbürgerschaft eingeführt. Nicht-Muslime, die vor Ende 2014 nach Indien gekommen sind, erhalten danach Anspruch auf eine beschleunigte Einbürgerung als indische Staatsbürger. Sollte die BJP wieder an die Macht kommen, worauf alle Umfragen hindeuten, werden Muslime weiterhin auf vielerlei Weise unterdrückt werden.
Der Westen hält sich mit Kritik an Menschenrechtsverletzungen, Abbau der Rechtsstaatlichkeit und Gräueltaten an Minderheiten in Indien zurück. Ist das der Preis, den er zahlen muss?
Vanaik: Die heutige geopolitische Ordnung ist gekennzeichnet durch die Rivalität zwischen einem westlichen imperialistischen Block, bestehend aus den USA und ihren europäischen Verbündeten, und einem schwächeren imperialistischen Block, bestehend aus Russland und seinen Verbündeten sowie einer aufstrebenden imperialistischen Macht China, die zunehmend als größte geopolitische Bedrohung für das US-Imperium angesehen wird.
Indien sieht aufgrund seines jahrzehntelangen Konflikts mit China die Notwendigkeit, sich mit den USA und ihren Partnerstaaten zu verbünden, was wiederum für die USA und ihre "China-Eindämmungspolitik" von großer Bedeutung ist.
Die USA und der Westen haben sich schon immer mit brutalen autoritären Regimen verbündet und sie sogar materiell und politisch unterstützt - man denke an die Apartheid in Südafrika - weil sie ihren geopolitischen Interessen nutzten. Verbale Kritik der US-amerikanischen und westeuropäischen Regierungen am autoritären Verhalten der indischen Regierung wird es von Zeit zu Zeit geben, aber keine ernsthaften Sanktionen oder Strafen. Ganz im Gegensatz zu fortschrittlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Westen, die versuchen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Vorgänge in Indien zu verurteilen und die Opfer zu unterstützen.
Das Interview führte Dominik Müller.
© Qantara.de 2024
Achin Vanaik ist Professor für Internationale Beziehungen im Ruhestand und ehemaliger Leiter der Fakultät für Politikwissenschaft an der Universität Delhi. Er ist u.a. Autor von "The Rise of Hindu Authoritarianism: Secular Claims, Communal Realities" (Verso, 2017).