Mit dem Auto von Aix-en-Provence nach Mekka

Der junge Réda möchte eigentlich Abitur machen. Sein Vater aber will mit seinem Sohn nach Mekka zu pilgern. "Die große Reise" ist ein amüsantes und kontemplatives Roadmovie.

Von Amin Farzanefar

Der junge Réda, Kind der Vorstädte, auf dem Mountainbike zuhause, hat einen grundlegend anderen Lebensentwurf als sein Vater, der seit dreißig Jahren an seinen marokkanischen Traditionen festhält. Als der Alte aber darum bittet, ihn auf der Reise nach Mekka zu begleiten - dem einen großen Ereignis im Leben eines gläubigen Muslims -, kann der Sohn ihm den frommen Wunsch nicht abschlagen.

Und wegen Papas Flugangst fährt das ungleiche Paar 5000 Kilometer quer durch ein Europa im Umbruch – Italien, das frühere Jugoslawien, Bulgarien, die Türkei – bis nach Saudi-Arabien.

"Auf den ersten tausend Kilometern können sie noch so bleiben, wie sie vorher waren. Ab zweitausend bröckeln die Fassaden, ab dreitausend müssen sie die alten Rollen aufgeben. Und dann sind sie gezwungen, einander wirklich anzuschauen", sagt Regisseur Ismail Ferroukhi, der seine gegensätzlichen Charaktere in den engen Raum eines klapprigen Peugeot pfercht und den Rest des Filmes über zuschaut, was passiert.

Die tiefe Kluft zwischen den Generationen und Kulturen äußerte sich zuhause noch darin, dass Réda zwar mit Handy und Freundin bestens "assimiliert" ist, aber dennoch vom älteren Bruder herumkommandiert wird; auch auf der Reise muss er zunächst jede Kleinigkeit mit dem Vater aushandeln.

Erster in Mekka gedrehter Spielfilm

Doch ganz allmählich, ohne viele Worte, lernen Vater und Sohn zwischen dem Spirituellen und dem Weltlichen, dem Französischen und dem Arabischen Brücken zu schlagen. Die Seelenlandschaften im Wageninneren sind dem Regisseur dabei fast wichtiger als die europäischen Kulturlandschaften draußen, welche manches Abenteuer für die Pilger bereithalten:

Ein freundlicher türkischer Dolmetscher, der sich plötzlich mit nach Mekka einlädt, sich dann aber als Gauner erweist (oder auch nicht ...), eine mysteriöse Alte, die unheimlich schweigend im Wagen mitfährt – solche skurrilen Reisebegleiter bieten dem ungleichen Gespann immer wieder Anlass, überkommene Meinungen und Vorurteile zu überprüfen, als sicher angesehene Weltauslegungen über Bord zu werfen.

Dabei bleiben diese Begegnungen episodisch, ausschnitthaft – und statt etwa überholte Balkan- und Orientphantasien zu wiederholen oder die altbekannten touristischen Panoramen zu zeigen, gilt Ferroukhis Interesse vor allem dem konkret erlebten Detail.

Erst am Ende der Reise weitet sich mit dem Horizont der Hauptfiguren auch der Kamerablick: "Die große Reise" ist laut Presseheft der erste Spielfilm, der in Mekka gedreht werden durfte, und tatsächlich bringt die Energie von zwei Millionen Pilgern noch mal eine besondere Saite zum Schwingen.

Die friedliche Seite des Islam

Manchmal braucht es seine Zeit, bis ein Film das Licht der Welt erblicken kann. Bei dem Welterfolg "Good by, Lenin" etwa musste das Drehbuch über zehn Jahre auf seine Umsetzung warten, bevor es dann doch seinen internationalen Siegeszug antreten konnte.

So ist es gut möglich, dass das Script, das Ismail Ferroukhi schon sechs Jahre lang in der Tasche trug, erst durch den 11. September die nötige Aufmerksamkeit erhielt: Ein Filmprojekt, das die friedlichen Seiten des Islam in den Vordergrund rückt, erschien angesichts neu aufflackernder Feindbilder als förderungswürdig.

Doch auch die Premiere des fertigen Films fiel mit dramatischen aktuellen Ereignissen zusammen: "Die große Reise" der beiden Protagonisten nimmt ihren Anfang in den im Herbst 2005 die Schlagzeilen beherrschenden Banlieus, im Milieu marokkanischer Einwanderer.

Trotz solcher aktueller Bezüge vermeidet Ferroukhi die bei diesem Thema nahe liegenden Allgemeinplätze über die "Friedfertigkeit des Islam".

"Die große Reise" bietet eben kein "Orient-für-Anfänger"-Szenario, auch keine kritische Milieustudie, keinen um Aktualität bemühten Sozialfilm, sondern vor allem eine immer persönlich gehaltene und leise anrührende Geschichte einer menschlichen Begegnung, erzählt als Roadmovie. In diesem Genre über das Unterwegssein ging es schon immer um Transformationen und Übergänge.

Auszeichnung für bestes Spielfilmdebüt

Die Variation dieses altbekannten erzählerischen Grundmusters ist nicht unbedingt Ferroukhis Stärke - die Handlungs- und Personenentwicklung bleibt überschaubar, und doch ist allen Erlebnissen der beiden Seelenreisenden ein tiefer liegender Sinn unterlegt, der sich erst am Schluss enthüllt.

Eine Hauptwirkung des mit kontemplativem Minimalismus erzählten Films erwächst wohl aus dem Zusammenspiel der Hauptdarsteller. Muhammed Madjd, als der sich im Osten sichtlich wohler fühlende bockige Alte, und Nicolas Cazale, als der nervös-hysterische, in seiner Rebellion schon wieder unflexible Réda, arbeiten den Konflikt feinfühlig heraus: Zeiten der impulsiven Streitereien werden abgelöst von langen Passagen des Schmollens, der wortlosen Annäherung durch Blicke und Gesten und schließlich des stillschweigenden Einverständnisses.

Mit Madjd wurde übrigens ein bekannter Darsteller verpflichtet, der in vielen marokkanischen Filmen der letzten Jahre mitwirkte, unter anderem in "Ali Zaoua", "Mille Mois" und "Le chevalier de vent".

Zu Recht erhielt Ferroukhis Film bei den Filmfestspielen in Venedig eine Auszeichnung für das beste Spielfilmdebüt. Hoffen wir, dass er sein nächstes Drehbuch nicht noch einmal sechs Jahre lang mit sich herumschleppen muss.

Amin Farzanefar

© Qantara.de 2006

Qantara.de

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