Der mühsame Kampf der Familien von Hanau

Menschengruppe gedenkt der Opfer des Anschlags in Hanau
Gedenken in Hanau. Szene aus „Das Deutsche Volk“. (Foto: Promo/Marcin Wierzchowski)

Zum fünften Jahrestag des rassistischen Anschlags in Hanau feiert die Dokumentation „Das Deutsche Volk“ Weltpremiere bei der Berlinale. Regisseur Marcin Wierzchowski hat die Angehörigen seit dem ersten Tag begleitet.

Dossier von Schayan Riaz

„Warum ist mein Bruder tot?“ Diese Frage stellt Çetin Gültekin an zwei Opferbeauftragte, die ihm schweigend gegenüberstehen. Niculescu Păun steht auf, hält ein Handy in die Luft und stellt die nächste Frage: „Mein Sohn hat in der Nacht viermal die Polizei angerufen. Warum hat die Polizei zu keiner Zeit reagiert?“ 

Kurze Zeit später ergreift auch Armin Kurtović das Wort, während er ein Plakat mit dem Foto seines Sohns Hamza hochhält: „Wissen Sie, wie der Polizist sein Aussehen in der Obduktion beschrieben hat? Orientalisch-südländisch. Das ist behördlicher Rassismus, wenn sie so einen als orientalisch bezeichnen.“

Abgesehen davon, dass dieser Begriff an sich schon rassistisch aufgeladen ist, hatte Hamza Kurtović blaue Augen und blonde Haare. 

Die Szene ist eine von vielen ergreifenden Momenten aus dem Film „Das Deutsche Volk“ von Marcin Wierzchowski. Seit dem Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020, bei dem ein Rechtsterrorist neun Menschen ermordete, begleitet Wierzchowski die Hinterbliebenen filmisch. Auf der Berlinale hat er seinen schwarz-weißen Dokumentarfilm jetzt vorgestellt, in dem das behördliche Versagen rund um die Tatnacht aufgezeigt wird.  

Hätte Niculescu Păun nicht selbst herausgefunden, dass sein Sohn Vili Viorel in der Tatnacht mehrfach versuchte, den Notruf der Polizei zu erreichen, dann wäre diese Information vermutlich nicht ans Licht gekommen. Hätten sich die Opferfamilien nicht selbst an das Recherchekollektiv Forensic Architecture gewandt (s. Video), gäbe es wahrscheinlich bis heute keine detaillierte Untersuchung zum von der Polizei verschlossenen Notausgang des Tatorts. 

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So konnten die Familien in Erfahrung bringen, dass ihre Kinder vielleicht noch am Leben wären, wenn der Notausgang der Arena Bar nicht verschlossen gewesen wäre. Fünf Jahre später sind es weiterhin die Hinterbliebenen selbst, die für eine lückenlose Aufklärung der Tat kämpfen. 

Der Pole mit der Kamera

Im Gespräch mit Qantara erzählt Wierzchowski, dass er sich vor allem für den alltäglichen Aspekt interessiert habe. „Ich wollte die Auswirkungen von so einem Anschlag zeigen. Was bedeutet es, mit dem bürokratischen System konfrontiert zu sein, was steckt hinter der ganzen Papierarbeit? Bei Hanau gab es keine Zeit für Trauer, weil alles von den Familien aufgearbeitet werden musste. Sie mussten Stück für Stück alles selbst herausfinden. Diesen Alltag, der so viele Verletzungen mit sich bringt, den wollte ich einfangen.“ 

Wierzchowski ist am Tag nach dem Anschlag 2020 nach Hanau gefahren, als in der Stadt noch Chaos herrschte und der Schock tief saß. Wie konnte er das Vertrauen der Familien gewinnen, um sie mehrere Jahre begleiten und sie in ihren intimsten, aber auch verletzlichsten Momenten filmen zu dürfen? 

„Nach etwa einer Woche waren die ersten Beerdigungen und ich bin immer nur als Beobachter hingegangen. Immer wenn ein Sarg hereingebracht wurde, hat sich die Presse sofort draufgestürzt. Ich habe mich eher zurückgehalten, weil ich dachte, das ist jetzt der allerletzte Moment, den die Familien mit ihren Kindern haben, diesen brauchen sie für sich", erzählt Wierzchowski.

„Ich habe also immer Distanz gewahrt und ich glaube, dass das bei den Familien im Gedächtnis geblieben ist. Dann kam Corona und alle Journalist:innen haben Hanau verlassen, nur ich bin geblieben. Ich war dann irgendwann ‚der Pole mit der Kamera‘ und so haben wir schnell eine vertrauliche Ebene miteinander gefunden.“

Für Wierzchowski, der in Frankfurt lebt und arbeitet, ist dieses Projekt ein persönliches Anliegen. „Ich habe keinen deutschen Pass, nur den polnischen. Das kann nervig sein, zum Beispiel wenn man den verliert: Dann muss man ins Generalkonsulat nach Köln, um einen neuen zu beantragen. Es wäre einfacher, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Ich bin kein Nationalist oder so, was auf dem Papier steht, ist mir egal.“ Doch zum titelgebenden „deutschen Volk“ fühlt sich Wierzchowski nicht unbedingt zugehörig.

Fotos und andere Materialien verstreut auf dem Sessel
Die Trauer hat neben der Suche nach der Wahrheit nicht viel Platz. Szene im Film „Das deutsche Volk“. (Foto: Promo/Marcin Wierzchowski)

„Das hat etwas mit der deutsch-polnischen Geschichte zu tun. Meine Großeltern wurden verschleppt und waren Zwangsarbeiter:innen. Die Schwester meines Opas wurde von den Nazis erschossen. Ich habe also Familienmitglieder, die Opfer von Nationalsozialisten waren. Treblinka, eines der größten Vernichtungslager, liegt nur 20 Kilometer entfernt von dem Ort, wo meine Mutter geboren ist. Jetzt lebe ich in Deutschland und anders als in Polen wird das alles hier sehr wenig verhandelt. Von Auschwitz weiß man natürlich. Aber Konkretes über die deutsch-polnische Geschichte weiß man sehr wenig. Und deshalb würde ich niemals sagen, dass ich Deutscher bin.“ 

Überhaupt spielen Themen wie Identität und Herkunft im Falle von Hanau seit Beginn eine wichtige Rolle. Dass die meisten der Getöteten in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, ein Rechtsextremer sie aber nicht als Deutsche anerkannte, dass sie nach dem Attentat auch von Teilen der Medien als Nicht-Deutsche porträtiert wurden, ist das eine. Dass diese Zuschreibung bis heute auch den Hinterbliebenen anhaftet, ist das andere. 

Armin Kurtović, der Vater von Hamza, führt im Gespräch mit Qantara aus: „Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich bin deutscher Staatsbürger. Nach dem Anschlag schickte man mir einen Migrationsbeauftragten, den Ausländerbeirat und einen Dolmetscher. Ist mein Deutsch so schlecht? Verstehen sie mich nicht, wenn ich mit ihnen rede?“ 

Keine Unterstützung vom Staat

Dass die Familien unter solchen Umständen noch funktionieren, dass sie weiterhin für ihre Belange kämpfen, ist bewundernswert. Vor allem, weil sie sich nicht auf den Staat verlassen können. Die mitreißenden Momente in „Das Deutsche Volk“ sind auch deshalb Szenen, in denen die Opferfamilien sich direkt mit verschiedenen hessischen Politiker:innen auseinandersetzen. Dabei nehmen sie kein Blatt vor den Mund und benennen, wo sie ein Versagen der Behörden sehen. 

Es macht fassungslos zu sehen, wie der Oberbürgermeister von Hanau gegen Ende des Films der Mutter von Sedat Gürbüz sagt, sie solle doch bitte auf ihre Wortwahl achten. Er störte sich daran, dass sie „Ich hasse Deutschland“ gesagt hatte. Dabei bestehe dieses Deutschland doch aus Tausenden von Menschen, die ihr aus Solidarität und Nächstenliebe beigestanden hätten. Dass der Oberbürgermeister das Bedürfnis verspürt, sie vor allen anderen Hinterbliebenen im Saal zu belehren, spricht Bände.  

Für Wierzchowski waren diese Auseinandersetzungen als Regisseur sehr wertvoll, weil sie die klassischen Interviews weitgehend ersetzten und er die Perspektive der Betroffenen einfangen konnte. 

„Alle Familienmitglieder hatten großen Redebedarf und ich hatte zu keiner Zeit das Gefühl, viele Fragen stellen oder etwas Unangenehmes ansprechen zu müssen. Die Protagonist:innen, also die Familien, durchschauen vieles. Auf ihre eigene Weise sind sie alle Poeten und holen Politiker:innen ganz schnell von ihrem hohen Ross. Ich habe einfach zugehört und beobachtet, was passiert.”  

Klare Worte findet Armin Kurtović auch für Politiker:innen, die das Land höchstwahrscheinlich nach der Bundestagswahl am kommenden Sonntag prägen werden: „Wissen Sie, der Friedrich Merz, der nennt meine Kinder ‚kleine Paschas‘. Wenn man ihm glaubt, dann gehen Asylbewerber jede Woche zum Zahnarzt und lassen sich die Zähne machen. Der Merz ist halt so, wie er ist. Deswegen hat er auch diese Abstimmung mithilfe der AfD im Bundestag abgezogen. In Hessen nennt man die CDU übrigens die Stahlhelm-Fraktion.“  

Umso wichtiger ist für Kurtović zu betonen: „Alles, was bisher herausgekommen ist, ist nicht Verdienst der Behörden, sondern unsere Arbeit. Dabei ist das gar nicht unsere Aufgabe, es sollte die Sache des Staates sein, dafür sind Behörden da. Heute weiß ich, dass die gar nichts machen, weil es ihnen schaden könnte. Es könnte ihren Parteikolleg:innen schaden. Mir tut nur leid, dass ich nicht noch mehr machen kann.” 

© Qantara