Anderssein als Fetisch
Plötzliche Dunkelheit, dann die stimmliche Kulmination dreier Muezzine, die zum Gebet rufen… so begann Stefan Kaegis neueste Produktion "Radio Muezzin" – eine recht getreue Nachempfindung des Klanges der Stadt Kairo im Morgengrauen.
Dieser Beginn ist von Bedeutung, suggeriert das Bühnenstück doch, wie so viele andere ethnographische Dokumentarstücke, uns an einen anderen Ort zu versetzen, indem es - um diesen Anspruch glaubhaft zu machen -, generalisiert und diesen Ort in einer für uns leicht konsumierbaren Art und Weise präsentiert.
Die drei Muezzine zu Beginn der Vorstellung stellen sich sodann etwas weitschweifig vor. Zwei von ihnen sind Angestellte des Religionsministeriums, einer ist ein Muezzin, der gelegentlich praktiziert.
Auf einer Rundreise, auf die wir uns in dem Stück begeben, zeigen sie uns, wo sie leben und arbeiten, wobei sie ihre Erzählungen mit Details darüber anreichern, wie sie zu ihrer Berufung stehen, untermalt mit Videosequenzen, die ihre Wohnungen zeigen, ihre Nachbarschaft und nicht zuletzt ihre Moscheen.
Litanei von Monologen
Zuerst war ich erstaunt und verwirrt – die darstellerische Präsenz der Laiendarsteller wurde ihnen ganz offenbar schlicht selbst überlassen. Doch schon bald wich meine anfängliche Verwirrung dem Gedanken, dass Kaegi vielleicht gar nicht so sehr an den Menschen selbst interessiert war, sondern lediglich an ihrer Fähigkeit, als Chiffren zu fungieren – und auch daran, ihre Zugehörigkeit zu einer kulturellen Sphäre aufzuzeigen sowie sie als Vertreter dieser Sphäre aufzubauen.
In diesem Fall muss solch eine Form des Laienspiels zwangsläufig Kaegis Intentionen folgen, Erfahrung authentisch erfahrbar machen und dem Publikum Embleme des "Realen" präsentieren. Für die Darstellung selbst bedeutet dies jedoch, dass die Protagonisten beständig auf Standardformen der offiziellen Rede zurückgreifen müssen: didaktisch, monoton und störend formalistisch.
Die Wirkung dieses Ansatzes auf die formale Struktur von "Radio Muezzin" ist ganz und gar negativ, da das Tempo schon sehr bald einer Litanei von Monologen weicht.
Die Muezzine erzählen ihre jeweiligen Biografien, legen dar, wie sie ihre Karrieren begannen und reden in abgehobener Sprache vom Schnitt ihrer Bärte - Informationsfragmente, die, abgesehen davon, dass sie für uns Ägypter von keinerlei Interesse sind, recht unbeholfen wirken und allzu deutlich das Bemühen offenbaren, Unwissenden das "Leben praktizierender Muslime" zu vermitteln.
Bärte, Uniformen, Moscheen als Fetische
Besonders bemerkenswert war das fast schon kindlich wirkende Interesse an jedweden Zeichen des "Andersseins" – Bärte, Uniformen, das Innere von Moscheen: Alles bekam, im Kontext von Bühne und Publikum, eine gänzlich neue Bedeutung.
Die Weigerung Kaegis, dieser Transformation in stilistischer und ästhetischer Hinsicht Rechnung zu tragen, also durch eine bewusste Arbeit mit den Darstellern in Bezug auf ihre Bühnenpräsenz, führte dazu, dass alles bloß ethnisiert und so zum Fetisch geriet.
Irritierender wirkte es dann noch, als die Muezzine ihre Monologe unterbrachen, um pädagogisch vorzuführen, wie Kinder den Koran auswendig lernen, wie rituelle Waschungen durchgeführt werden und schließlich auch, wie ein islamischer Gottesdienst selbst vonstatten geht.
Der kritische Moment war gekommen, als die Muezzine ihre Gebete auf der Bühne nachspielten. Man wurde zum Zeugen eines Rituals und wie es zur Ware degradiert wird.
Es bezieht seine Bedeutung aus den Erwartungen der Zuschauer und nicht aus dem emotionalen Engagement der Beteiligten. So finden wir Zuschauer uns wieder im Bereich des Voyeurismus, der Kolonialgeschichte und deren zeitgenössischer Entsprechung, des Tourismus.
Bilder der Sinnlichkeit und der Gewalt
Die Parallele zur touristischen Erfahrung, bei der z.B. einer Reisegruppe Stammestänze vermittelt werden, drängt sich hier geradezu auf. Die Performance macht sich quasi zum Komplizen einer solchen Form der Darstellung: sie gibt einem nostalgieseligen Blick Nahrung, bietet uns zurechtgemachte Bilder vom Primitivismus, Sinnlichkeit und Gewalt.
"Radio Muezzin" wurde erst interessanter, als vom Plan des Ministeriums berichtet wurde, den Ruf zum Gebet durch eine vom Staat gelenkte Radiosendung zu monopolisieren.
Doch auch wenn man an einem bestimmten Punkt den Eindruck hätte haben können, dass es sich hierbei um einen zentralen Gegenstand des Stücks handeln könnte, mäanderte die Performance fortan derart durch ihr Material, dass es kaum möglich war, einen Schwerpunkt auszumachen. Alles tendierte letztendlich dahin, zu einem bloßen, zufälligem Beiwerk zu werden.
Simplifizierter Gegensatz
Kurz vor Ende des Stücks wird dann ein vierter Muezzin namens Mohammed Aly vorgestellt, einer von 30 Muezzine, die vom Ministerium ausgewählt wurden, um den geplanten - vom Radio übertragenen - Ruf zum Gebet auszuführen. Er ist deutlich wohlhabender als seine Kollegen, entstammt also einer anderen sozialen Schicht.
Möglicherweise will Kaegi damit zeigen, welcher sozialen Transformation Ägypten derzeit unterworfen ist, doch ist auch dies letztlich ein sehr oberflächliches Argument, wird es doch reduziert auf ein metaphorisches Duell zwischen Aly und Abd El Moaty (dem nur gelegentlich praktizierenden Muezzin), indem Kaegi ihre jeweiligen Biografien gegenüberstellt:
der eine ist ein Wanderarbeiter in Saudi-Arabien, der andere ein angesehener und international renommierter Koran-Rezitator – ein derart vereinfachter Kontrast also, wie man ihn ansonsten wohl nur aus ägyptischen Film-Melodramen der 1940er Jahre kennt.
Dienst am kolonialen Gewissen
Kaegi, Mitglied der gefeierten Berliner Künstler- und Theatergruppe Rimini Protokoll, hat sich innerhalb der zeitgenössischen Theaterlandschaft selbst eine Nische geschaffen: das Dokumentar-Theater mit anthropologischer Grundhaltung, bei dem einzelne Personen – für gewöhnlich Mitglieder marginalisierter Gemeinschaften – in einen Bühnenkontext gebracht werden.
Implizit wird damit die Behauptung aufgestellt, dass es bei diesem Vorgehen um eine Vermenschlichung geht: unbekannten bulgarischen Lastwagenfahrern, indischen Call Center-Mitarbeitern und ägyptischen Muezzinen wird ein Podium geboten, während das Publikum, oberflächlich betrachtet, aus seiner politischen Kuschelecke geholt wird. Und doch gleicht es letztendlich doch eher einem wohlfeilen Dienst am schlechten Gewissen der ehemaligen Kolonialmächte, eine Form von – wie es ein kluger und sehr wütender Freund einmal ausdrückte – "Poornography".
Zwischen Schockstarre und Begeisterung
Das privilegierte Publikum darf glauben, seinen unbekannten (und unberechenbaren?) Angstgegner näher kennen zu lernen, indem das Rätsel seines Mysteriums beraubt wird, während der Mythos paradoxerweise doch verstärkt wird; ein angenehmer Abend mit einem Schuss "Wohlfühl-Humanismus".
Niemals zuvor habe ich innerhalb des Publikums eine solche Kluft feststellen können: Der Großteil der anwesenden Ägypter (aus verschiedenen Generationen, mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund und künstlerischer Provenienz) blieben in einer Art Schockstarre verhaftet, einer Mischung aus Verstörung und Wut, entweder verhalten applaudierend oder gänzlich bewegungslos, während die reichlich anwesenden Ausländer enthusiastisch Beifall spendeten.
Hassan Khan
© Hassan Khan / Bidoun 2009
Der Text erschien ursprünglich im Bidoun Magazine #17 (FLOWERS) und wurde mit freundlicher Genehmigung vom Autor und Bidoun veröffentlicht.
Hassan Khan ist Künstler, Musiker, und Autor mit Sitz in Kairo. Er hat bei zahlreichen internationalen Einzelausstellungen, Gruppenausstellungen und Biennalen teilgenommen. Sein Album "tabla dubb" ist auf dem '100COPIES' Label erschienen, sein Buch "Nine Lessons Learned from Sherif El-Azma" wurde unlängst vom 'PC4' Publishing House veröffentlicht.
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Qantara.de
Radio Muezzin
Kakophonie der Rufer
"Radio Muezzin", eine Koproduktion des Goethe-Instituts und des Berliner Theaters Hebbel am Ufer, wurde in Kairo uraufgeführt und feierte nun auch in Berlin Premiere. Das Stück des Schweizer Regisseurs Stefan Kaegi zeigt das Leben von vier Gebetsrufern aus Kairo. Sonja Hegasy hat sich das Stück angesehen.
Film "Hassan wa Morqos"
Arm in Arm durch die entfesselte Gewalt
Der neuerliche Konflikt zwischen Christen und Muslimen in Ägypten fällt paradoxerweise in eine Zeit, in der der ägyptische Kino-Kassenschlager "Hassan wa Morqos" zur Besonnenheit im Zusammenleben der Religionen aufruft. Aus Kairo informiert Jürgen Stryjak
Interview mit Tahani Rached
"Der Film schadet Ägyptens Image nicht!"
Die in Kanada lebende ägyptische Regisseurin Tahani Rached zeigt in ihrem Dokumentarfilm "El-Banate dol" das Leben obdachloser Mädchen in Kairo. Mit der Regisseurin unterhielt sich Nelly Youssef.