Mit zweierlei Maß
Schriftsteller und Medienvertreter aus der arabischen Welt bemängeln, dass sich die Kooperation mit den südlichen Mittelmeeranrainer-Staaten von europäischer Seite aus zunehmend auf den gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus, den Drogenhandel und illegale Einwanderung reduziert. Von Götz Nordbruch
"Europa – oder wir werden sterben!" – so laute die Parole der afrikanischen Flüchtlinge, die die Grenzen Europas in Marokko, Algerien und Libyen zu überwinden suchen.
"Europa", fügt der ägyptische Schriftsteller Ali Salem hinzu, "ist das Gewissen dieses Zeitalters. Es ist das Produkt eines langen Weges, der gefüllt war mit barbarischem menschlichen Treiben. Es ist der leibhaftige Beleg dafür, dass sich Verbrechen nicht lohnt. Es gibt Menschen, die denken, Politik sei Verbrechen, das an den Menschen begangen werde. Europa aber hat es nach langem Kampf geschafft, die Etappe der Menschenrechte zu erreichen. Nun steht es da und erklärt: Wer sich uns anschließen oder der EU betreten möchte, der muss seine Menschenrechtsbilanz bereinigen."
Flüchtlingsdrama im Schatten der Feierlichkeiten
Wenige Wochen vor den offiziellen Feierlichkeiten anlässlich des zehnten Jahrestages der Euro-Mediterranen Partnerschaft am 27. und 28. November steht das arabische Verhältnis zu Europa erneut zur Debatte.
Das Flüchtlingsdrama in Marokko und der Beginn der Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei Anfang Oktober trugen in arabischen Ländern ein Übriges dazu bei, den Stand dieser Partnerschaft, die im November 1995 in Barcelona initiiert wurde, zu hinterfragen.
Das idealisierte Bild von Europa, das Salem in seinem Kommentar für die Zeitung "al-Raya" aus Qatar im bewussten Kontrast zur arabischen Welt zeichnet, wird dabei keineswegs von allen Autoren geteilt.
Europa ist nicht nur Vorbild für soziale Rechte und politische Freiheiten, wie sie von Salem auch für die arabischen Länder gefordert werden. Europa ist vor allem auch politischer und ökonomischer Akteur, der die gesellschaftlichen Entwicklungen im südlichen und östlichen Mittelmeerraum wesentlich bestimmt.
Enttäuschte wirtschaftliche Erwartungen
Aus der Perspektive der arabischen Anrainerstaaten des Mittelmeers, die Kooperationsabkommen mit der Europäischen Union geschlossen haben, ist die Bilanz dieser Partnerschaft überaus ambivalent. Dabei sind es nicht nur die enttäuschten wirtschaftlichen Hoffnungen, die auf arabischer Seite Anlass zur Sorge geben.
Die ökonomischen Reformen selbst, die als Teil der Kooperationsvereinbarungen vorgegeben sind, werden beispielsweise von dem ägyptischen Kommentatoren Sherif Hetata als Widerspruch zu den hehren demokratischen Postulaten beschrieben, die von den EU - ähnlich wie von den USA - in den letzten Jahren in der Region propagiert werden.
"Niemand kann Reformen ablehnen oder bestreiten, dass viele Menschen in Ägypten für die Demokratie kämpfen. Wir müssen aber sorgsam beobachten, was uns als demokratische Reform empfohlen wird und entscheiden, ob diese Reformen tatsächlich etwas an den autokratischen Regimes ändern werden, unter denen wir jetzt bereits seit so vielen Jahren leben", schreibt Hetata in "al-Ahram Weekly".
"Kann man demokratische Freiheiten und die Verteilung von Reichtum, Demokratie und soziale Gerechtigkeit heute noch voneinander trennen?", fragt er weiter. "Gibt es nicht einen grundsätzlichen Konflikt zwischen einem entindustrialisierten und wirtschaftlich privatisierten System, in das wir hineingezogen wurden und einer demokratischen Praxis, die den Namen verdient?"
Nicht weniger widersprüchlich erscheinen die postulierten Ziele einer Partnerschaft, die von europäischer Seite zunehmend auf einen gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus, den Drogenhandel und illegale Einwanderung reduziert wird.
Wirtschaft vor Bewegungsfreiheit und Menschenrechten
"Die Europäer verkünden mit ihren mediterranen Partnern den freien Verkehr von Gütern, Dienstleistungen und Kapital. Gleichzeitig vervielfachen sie die Einschränkungen, die eine freie Bewegung der Menschen behindern", erklärte Missoum Sibh, ein Berater des algerischen Präsidenten Bouteflika.
Man könne nicht "den Dialog der Zivilisationen und den Austausch zwischen den Gesellschaften, zwischen Intellektuellen und Forschern verkünden, und auf der anderen Seite die Akteure dieses Dialoges und die Konstrukteure dieses Austausches darin hindern, sich zu treffen."
In diesem Sinne wird auch von Ashraf Fahim in einem Kommentar für den libanesischen "Daily Star" auf die sehr konkreten Interessen der EU hingewiesen, die jenseits allgemeiner Erklärungen und Willenbekundungen deren Politik im Mittelmeerraum prägen.
"Während die EU mit ihrer ökonomischen Agenda sehr zielorientiert vorging", schreibt Fahim, "riskierte sie weniger Kapital zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten – diese wurden, um eine Kontroverse zu vermeiden, unter dem Begriff des 'good governance' geführt."
"Menschenrechtsgruppen haben die mangelnde Bereitschaft der EU kritisiert, die Menschenrechtsklauseln in den Assoziationsabkommen durchzusetzen", so Fahim. "Syrien beispielsweise hat für die [Reduzierung von] Zöllen einen Zeitplan bekommen. Für politische Reformen ist ein solcher Zeitplan nicht vorgesehen."
Rolle Europas überbewertet
Vor einem solchen Hintergrund warnt Fahim davor, die Rolle der EU als Alternative zur USA zu überschätzen. "Man mag die EU-Politik gegenüber der in Washington verbreiteten Neigung vorziehen, den eroberten Ländern Demokratie zu lehren. Der Spielplan ist aber ähnlich."
Dennoch geht es in diesen Auseinandersetzungen nicht nur um die Interessen der EU, sondern insbesondere auch um das eigene Selbstverständnis der arabischen Gesellschaften und deren Verhältnis zu Europa.
Vor dem Hintergrund der Beitrittsverhandlungen der Türkei erinnert Hassan Shami in der Tageszeitung "al-Hayat" an die Jahrhunderte alten Beziehungen des Osmanischen Reiches zu Europa – und die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Reformen auch in den arabischen Ländern.
Die tief greifenden Umwälzungen, zu denen sich beispielsweise die ägyptischen Herrscher im 19. Jahrhundert gezwungen sahen, markierten eine Annäherung an Europa.
Schon damals, so erinnert Shami, brachte der ägyptische Khedive Ismael die Widersprüchlichkeit dieser Beziehungen zum Ausdruck. Angesichts der tief greifenden Reformen, mit denen die Modernisierung Ägyptens vorangetrieben wurde und die zugleich den Einfluss Europas bestärkten, erklärte der Khedive bereits 1876: "Mein Land ist ein Teil Europa."
Götz Nordbruch
© Qantara.de 2005
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