Europa macht dicht
Die Asylpolitik der EU strebe nicht den Schutz von Flüchtlingen, sondern den Schutz Europas vor Flüchtlingen an, meint Karl Kopp von Pro Asyl. Die Mitgliedsstaaten seien dabei, Verantwortung in arme Herkunftsregionen zu verlagern anstatt diese zu entlasten.
"Alle, die sich illegal nach Italien einschiffen wollen, müssen wissen, dass sie nach Erster-Hilfe-Leistung sofort an ihre Ausgangspunkte zurückgebracht werden." Der italienische Innenminister Giuseppe Pisanu steht für harsches Vorgehen gegen Flüchtlinge.
Anfang Oktober schob seine Regierung mehr als 1100 Menschen innerhalb einer Woche ohne Prüfung der Fluchtgründe nach Tripolis ab. Der Vertreter des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) erhielt tagelang keinen Zugang zu den Betroffenen – auch in Libyen nicht.
Libyen verfrachtete, wie der italienische Fernsehsender SkyTG 24 berichtete, Hunderte der Abgeschobenen weiter in die Wüste an die südliche Landesgrenze. Im August 2004 setzte das Regime bei einer ähnlichen Aktion 18 Flüchtlinge im Grenzgebiet zu Niger aus. Sie verdursteten.
Italien, ein Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaft, hat vorsätzlich die Genfer Flüchtlingskonvention verletzt. Rom hat die Fundamente des internationalen Flüchtlingsschutzes und des Europäischen Menschenrechtsschutzes beschädigt.
Dennoch gab es keine nennenswerte Reaktion von Mitgliedstaaten und Institutionen der EU. Nur einzelne Politiker, Menschenrechtsgruppen und der UNHCR protestierten.
Nähme die EU die eigenen Grundsätze ernst, müsste die italienische Politik als "Verstoß gegen Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit" (Artikel 6 des EU-Vertrages) qualifiziert und müssten Sanktionsdrohungen ausgesprochen werden.
Tödliche Reise durch das Mittelmeer
Täglich riskieren Menschen ihr Leben bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Tausende sterben, weil sie die Reise in überfüllten und seeuntüchtigen Booten antreten. Deshalb haben mindestens 5000 Menschen in den vergangenen zehn Jahren laut vorsichtigen Schätzungen ihr Leben verloren.
Michael Pugh von der Plymouth University spricht gar von knapp 2000 Menschen, die jährlich im Mittelmeer auf dem Weg nach Europa verschwinden (Guardian, 9. Oktober 2004).
Die Medien wurden auf das Thema im Sommer aufmerksam, als sich im Zuge der Debatte um die "Cap Anamur" die Meldungen von in Seenot geratenen, gestrandeten oder gekenterten Flüchtlingsbooten häuften.
Anstatt in dieser Situation Schiffbrüchige in Deutschland unbürokratisch aufzunehmen, startete Bundesinnenminister Otto Schily eine neue Asyldebatte. Er schlug vor, europäische Asylverfahren nach Tunesien, Libyen, Algerien und Marokko auszulagern. Die aus Seenot geretteten Menschen würden nach Afrika zurückgebracht werden und dort ein Asylverfahren durchlaufen.
Zurück nach Nordafrika
Nach Schilys Vorstellungen sollte in Nordafrika festgestellt werden, welche Menschen "sich zu Recht auf Fluchtgründe berufen" und diese "sollten in der Regel in der Region in der Nähe ihres Heimatlandes mit Unterstützung der EU ... Aufnahme finden". Er betont: "Nur in Ausnahmefällen kann eine Aufnahme in Europa nach dem Freiwilligkeitsprinzip in Betracht kommen."
Die Konstante im Ideenkarussell: Für Flüchtlinge führen alle Wege nach Nordafrika oder gleich zurück in die Herkunftsländer. Bereits im August verständigten sich der Bundesinnenminister und sein italienischer Amtskollege Pisanu auf eine gemeinsame Initiative auf EU-Ebene.
Auch regte – von Schily inspiriert – der österreichische Innenminister Ernst Strasser mit Ressortkollegen aus den baltischen Staaten an, in der Ukraine ein EU-Auffanglager für Tschetschenen einzurichten.
Diese Minister forcieren das "Outsourcing" des europäischen Flüchtlingsschutzes ohne Rücksicht auf internationale Schutzabkommen oder die Menschenrechtssituation vor Ort.
Doch Marokko, Libyen und Tunesien sind immer noch Herkunftsländer von Flüchtlingen. In Libyen sind Hunderte Kritiker und Oppositionelle der Gaddafi-Diktatur verschwunden, gefoltert oder hingerichtet worden. Die Grundfreiheiten sind eingeschränkt, die Todesstrafe gilt für eine ganze Reihe auch kleinerer Straftaten.
Schilys Vorschlag fügt sich nahtlos in die Asylpolitik ein, die in den letzten Jahren auf europäischer Ebene betrieben wurde. Dazu gehören die militärische Aufrüstung an den Grenzen, die Zurückweisung von Asylsuchenden in die so genannten "sicheren Drittstaaten", die Durchführung von Asylschnellverfahren in den so genannten "Transitzonen" und einiges mehr.
Die Folge: Im Weltmaßstab betrachtet, finden kaum noch Flüchtlinge nach Europa. 85 Prozent leben heute nach Angaben der EU-Kommission in Staaten ihrer Herkunftsregion – meist unter katastrophalen Bedingungen.
Die Flüchtlingsorganisation U.S. Committee for Refugees hat im Juli 2004 darauf hingewiesen, dass von knapp 12 Millionen Flüchtlingen und Asylsuchenden weltweit 7,35 Millionen bereits länger als zehn Jahre in Lagern leben – ohne Perspektive.
160 000 Sahrauis in Algerien, über 300 000 Liberianer, mehr als 300 000 Angolaner und mehr als eine halbe Million Sudanesen, die in die jeweiligen Nachbarländer geflohen sind, sind Objekte von Katastrophenhilfe und Notversorgung.
Selbst die Mindeststandards des UNHCR werden immer wieder unterschritten, weil Geld und Personal fehlen.
Das Welternährungsprogramm hat für zahlreiche Flüchtlingslager auch in diesem Jahr die Rationen, die ohnehin bereits an der untersten Mindestgrenze lagen, noch einmal halbieren müssen. Auch die weltweit rund 23 Millionen Binnenvertriebene, die nicht über die Landesgrenzen geflohen sind, leben meist in großem Elend.
Verlagerung des Flüchtlingsproblems
"Die Europäische Union verspielt ihre Glaubwürdigkeit in der internationalen Flüchtlings- und Menschenrechtsdebatte." So urteilten Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen aus ganz Europa in einer gemeinsamen Stellungnahme am 22. März 2004.
Der Eindruck drängt sich auf, die gemeinsame Asylpolitik strebe nicht den Schutz von Flüchtlingen, sondern den Schutz Europas vor Flüchtlingen an. Statt ein europäisches Asylrecht zu kreieren, verlagert die EU Verantwortung in fremde Staaten.
Die europäische "Harmonisierung" des Asylrechts lässt völkerrechtliche Standards außer Acht, fungiert als negatives Vorbild für andere Weltregionen und dokumentiert den gemeinsamen Unwillen, Flüchtlinge aufzunehmen.
Die hohe Zahl der Todesfälle hat vor allem etwas damit zu tun, dass die Fluchtwege gefährlicher werden, die Festung Europa schottet sich immer effizienter ab. Für Flüchtlinge gibt es nahezu keinen legalen Weg mehr nach Europa, Grenzkontrollen wurden immer dichter.
Wer es nach Europa schaffen will, muss illegal einreisen. Viele nutzen kleine, unsichere Schlauchboote, weil die nicht so leicht entdeckt werden wie große Schiffe. Wer das Sterben im Mittelmeer wirklich verhindern möchte, muss sich Gedanken darüber machen, wie Flüchtlinge und Migranten legal nach Europa kommen können.
Nötig sind gefahrenfreie Zugänge für Schutzsuchende und ein liberales Asylrecht. Beides wäre unerlässlich, damit EU-Mitglieder ihren internationalen Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention gerecht werden.
Das reiche Europa steht in der Pflicht, die armen Herkunftsregionen zu entlasten. Die EU sollte dafür Mittel bereit stellen und ein großzügiges Weiterwanderungsprogramm installieren, wie es kürzlich die Europäische Kommission vorschlug. Sonst werden weiterhin Tausende an den Außengrenzen der EU sterben.
Karl Kopp
© Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit 11/2004
Karl Kopp ist der Europa-Referent der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl.