Die arabische Welt fordert Kohärenz
Seit 1995 ist der Barcelona-Prozess der wichtigste Ansatz der EU, sich Nordafrika und dem Nahen Osten zu öffnen. Drei politische Ziele sind zentral: Der Prozess soll Frieden schaffen und sichern, den Handel fördern und die Zivilgesellschaft stärken. Da die Ergebnisse bisher wenig überzeugen, muss Europa seinen Einsatz erhöhen. Die marokkanische Jura-Professorin und Entwicklungsexpertin Assia Bensalah Alaoui bewertet im Gespräch die EU-Politik.
Welche Vorteile hat der Barcelona-Prozess den östlichen und südlichen Mittelmeeranrainern gebracht?
Assia Bensalah Alaoui: Bisher sind die Ergebnisse durchwachsen. Die Enttäuschungen über den Prozess sind wahrscheinlich genauso groß wie die Hoffnungen bei seinem Beginn 1995. Unausgewogenheiten und Unzulänglichkeiten der Initiative, Bürokratie, eine langsame Durchführung und andere Dinge verhindern, dass der Barcelona-Prozess die Erwartungen erfüllt.
Dennoch: Es ist gut, dass es ihn gibt. Er muss jedoch grundlegend überarbeitet werden, damit die beteiligten Staaten die Möglichkeiten voll nutzen und den Anforderungen gerecht werden können. Es ist gut, dass der Prozess wichtige Anstöße für politische und ökonomische Reformen gibt.
Die Verbesserungen, die erforderlich sind, um einer Mittelmeer-Freihandelszone gerecht zu werden, und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Länder wurden bisher stark vernachlässigt.
Der Barcelona-Prozess hat sich Ziele in drei wichtigen Bereichen gesetzt: Frieden, Handel und Zivilgesellschaft. Welcher Bereich ist aus arabischer Sicht der wichtigste?
Alaoui: Es gibt ein weit verbreitetes Gefühl, dass der Prozess vor allem sicherheitspolitisch und damit an europäischen Bedürfnissen orientiert ist. Es müssen jedoch die Verbindungen zwischen den drei Bereichen gesehen werden. Insbesondere der Zusammenhang von Sicherheit und Entwicklung wird oft unterschätzt.
Wegen dieses Zusammenhangs haben für uns in der arabischen Welt die sozio-ökonomischen Fragen Priorität. Eigentlich sollten begleitende Maßnahmen dafür sorgen, dass der Liberalisierungsschock nicht weiter das soziale Gefüge schwächt, das nach zwei Jahrzehnten Strukturanpassung schon ziemlich unter Druck geraten war. Diese Erwartung hat sich allerdings nicht erfüllt.
Auf dem Papier spielen Entwicklungsfragen eine zentrale Rolle in der europäischen Sicherheitspolitik. Wie sieht das die arabische Öffentlichkeit: als reine Rhetorik oder als glaubhafte Politik?
Alaoui: Entwicklung ist das Fundament für nachhaltige Sicherheit und Stabilität, weil Entwicklung der Bevölkerung ermöglicht, sich in ihrer Gesellschaft einzubringen. Trotz ihrer Rhetorik handelt die EU nicht ernsthaft danach. Das zeigt auch die Reaktion der "arabischen Straße", die die europäische Rhetorik kritisiert, weil der Eindruck besteht, dass Europa vor allem seine eigenen und die Interessen der Reichen vertritt. Die breite Öffentlichkeit weiß im Grunde nichts von den Mechanismen des Barcelona-Prozesses zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung.
Zugleich wird Europa immer noch seine historische Verantwortung für die Zersplitterung der arabischen Welt und für die palästinensische Tragödie vorgeworfen. Im schlimmsten Fall beschuldigt man Europa, für die Gründung Israels verantwortlich zu sein und diesen Staat bedingungslos zu unterstützen. Im besten Fall gilt Europa als unfähig, eine Lösung für die Situation zu finden, die es selbst geschaffen hat.
Wie beeinflussen der Konflikt zwischen Israel und Palästina und der internationale Terrorismus die Zukunft des Barcelona-Prozesses?
Alaoui: Der israelisch-palästinensische Konflikt muss gelöst, die Palästinenserfrage muss fair und gerecht bearbeitet werden. Dabei darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden; internationales Recht und Menschenrechte dürfen nicht wie bisher selektiv ausgelegt werden. Terrorismus ist auch nach dem 11. September ein kontextspezifisches Phänomen. Jeder Fall muss analysiert werden, um möglichst alle angemessenen Reaktionen in den Blick zu bekommen.
Ich denke, der globale Krieg gegen den Terror, wie er derzeit von einer angeblich "traumatisierten" Supermacht geführt wird, ist kontraproduktiv und facht den Terrorismus weiter an. Es ist falsch, den Krieg gegen Irak als Aktion im "Kampf gegen den Terrorismus" zu bezeichnen. Der Einmarsch in den Irak hat im Gegenteil die Büchse der Pandora erst geöffnet.
Abgesehen vom Widerstand gegen die Besatzung und dem Chaos, das sie angerichtet hat, hat die Invasion des Irak al Qaida einen neuen und fruchtbaren Kampfschauplatz eröffnet. Die Beachtung durch die US-Medien potenziert diese Wirkung noch. Amerikanische Soldaten – die ansonsten nicht erreichbar sind – dienen als ikonenhafte Zielscheiben für jede Art von Ressentiment gegen die USA.
Was den Irak betrifft, war und ist die EU gespalten. Einige Regierungen unterstützen die USA, andere nicht.
Alaoui: Um an Effizienz und Nachdruck zu gewinnen, braucht der Barcelona-Prozess den Willen und den Einsatz für ein starkes Europa mit einer kohärenten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Es geht um nichts weniger als die Glaubwürdigkeit der EU.
Es ist klar, dass die USA andere Pläne für den "Greater Middle East" haben, zugeschnitten auf ihre Interessen und Visionen. Die EU – einige Mitglieder haben sich im Juni auf dem G8-Gipfel einer abgeschwächten Version für den "Broader Middle East and North Africa" angeschlossen – muss sich klar von der US-Politik abgrenzen. Europa braucht angesichts seiner geographischen Nähe und Abhängigkeit von Energieimporten einen florierenden und stabilen Mittelmeerraum.
Trotz der verfahrenen Situation im Nahen Osten ist für die EU möglicherweise die Zeit gekommen, eine aktive Rolle zu übernehmen und nicht mehr nur den Geldgeber zu spielen. Sie sollte sich darum bemühen, zusammen mit den USA und den betroffenen Staaten Auswege aus dem Irak-Desaster und dem tödlichen Konflikt zwischen Israel und Palästinensern zu finden.
Eine ernsthafte Wiederbelebung des Barcelona-Prozesses könnte eine neue Dynamik entfachen und dringend notwendige Reformen in der Region beschleunigen. Die EU muss ihr Engagement für die Europa-Mittelmeer-Partnerschaft verstärken.
Die EU tut also nicht genug für die Sicherung des Friedens?
Alaoui: Es ist unerlässlich, sowohl die Wurzeln von Instabilität und Unsicherheit als auch die Ursachen für Spannungen zwischen beiden Ufern des Mittelmeerraums zu bearbeiten. Ein gemeinsames Sicherheitssystem oder ein Konzept für den Umgang mit traditionellen Bedrohungen und neuen sicherheitspolitischen Fragen sowie effiziente Instrumente zur Konfliktprävention müssen erst noch geschaffen werden, nachdem die Charta für Frieden und Stabilität im November 2000 in Marseille abgelehnt wurde.
Dialog ist ein Muss. Aber er muss umfassend sein und über verlässliche Kanäle und schnell wirksame Mechanismen verfügen. Genau das fehlt dem gegenwärtigen System offenbar, wie die Krise um die "Petersilieninsel" zwischen Marokko und Spanien im Juli 2002 deutlich gemacht hat. Der Konflikt wurde durch Vermittlung der USA gelöst, nicht durch Verhandlungen im Rahmen der Mittelmeerpartnerschaft.
Hat der Barcelona Prozess die Zivilgesellschaft gestärkt?
Alaoui: Das ist sicherlich der schwächste Bereich des Barcelona-Prozesses. Vor allem kommt die Kultur zu kurz. Die düstere Weltlage erfordert einen ernst gemeinten interkulturellen Dialog sowie eine Reihe von Maßnahmen, wie sie der Bericht der "High Level Advisory Group on Dialogue Between Peoples and Cultures in the Euro-Mediterranean Area" empfiehlt; EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hatte die Gruppe, deren Ko-Vorsitzende ich war, im Januar 2003 eingesetzt.
Ich hoffe, dass sämtliche Interessenvertreter, insbesondere die Organisationen der Zivilgesellschaft, diese Empfehlungen ernsthaft in Betracht ziehen.
Wer sind für Sie die hilfreichsten Partner in Europa?
Alaoui: Vor allem Frankreich und Italien. Spanien hat sich sehr für die Einführung des Barcelona-Prozesses engagiert, auch wenn sein Einsatz und seine strategische Vision manchmal von überaktiven Interessengruppen konterkariert werden – etwa in der Landwirtschaft, der Fischerei und der Textilwirtschaft.
Spanien strebt zwar eine größere Rolle im Mittelmeerraum an, es neigt jedoch dazu, einige der Mittelmeer-Partner nur als Konkurrenten zu sehen. Die neue Regierung wird hoffentlich einen ausgewogeneren Ansatz verfolgen. Einige EU-Mitglieder haben versucht, während ihrer Präsidentschaft die Mittelmeerpartnerschaft voranzutreiben.
Das Zusammentreffen des mediterranen Kommissionspräsidenten Romano Prodi mit einer Reihe aufeinander folgender EU-Präsidentschaften aus dem Mittelmeerraum – Frankreich, Spanien, Griechenland und Italien – hat leider nicht wie erhofft zu einer Wiederbelebung des Prozesses geführt. Sowohl die ungünstigen internationalen Bedingungen als auch die EU-Erweiterung ließen der Mittelmeer-Partnerschaft wenig Raum.
Welche Rolle spielen die nördlichen EU-Mitglieder?
Alaoui: Großbritannien hat versucht, Investitionen in der Region zu fördern, und Deutschland zeigt ein besonderes Interesse, die Zusammenarbeit mit der arabischen Welt auszubauen. Es ist viel versprechend, dass die skandinavischen Staaten ein ähnliches Interesse haben, insbesondere Schweden und Finnland.
Insgesamt ergänzen sich die verschiedenen EU-Institutionen ganz gut. Die EU-Kommission macht die meisten Vorschläge und spielt sicherlich eine herausragende Rolle. Das Europäische Parlament wiederum spielt eine wichtige Rolle bei der Förderung von Bürgerrechten und Zivilgesellschaft am südlichen Rand des Mittelmeers.
Aber ist die EU-Politik ausreichend kohärent?
Alaoui: Die Antwort ist ganz sicher nein. Das Fehlen einer echten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik steht der Kohärenz im Weg. Es verhindert, dass die EU langfristige Interessen und eine strategische Vision über unmittelbare Vorteile stellt, über die es naturgemäß unterschiedliche Ansichten gibt.
Es gibt eine große Diskrepanz zwischen der EU-Rhetorik und dem Verhalten sowohl der EU als auch ihrer Mitgliedstaaten. Die Bereiche Landwirtschaft und Migration illustrieren diesen Mangel an Kohärenz.
Wie will Europa die südliche Mittelmeerseite stabilisieren, wenn es gleichzeitig an einer Protektionspolitik gegen landwirtschaftliche Exporte festhält? Die Landwirtschaft ist nicht nur zentral für die sozioökonomische, sondern auch für politische Stabilität in den Entwicklungsländern. Die Bedeutung der Landwirtschaft für Marokko ist größer, als es der Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 15 Prozent ausdrückt.
Sie haben auch die Migration erwähnt . . .
Alaoui: Um den Herausforderungen gerecht zu werden – es geht um ökonomische und soziale Aspekte, Fragen von Kultur und Identität et cetera –, ist ein gemeinsamer globaler Ansatz dringend nötig – ein Ansatz, der über die ausschließlich restriktive Einwanderungspolitik der europäischen Staaten weit hinausgreift.
Gefragt ist eine engagierte Politik, die sowohl die Interessen des alternden Europa vertritt, das frisches Blut braucht, um seinen Wohlstand zu erhalten und seine Renten zu zahlen, als auch die Bedürfnisse des Südens berücksichtigt, der mit den üblichen Risiken eines Übergangs konfrontiert ist und Gefahr läuft, seine am besten ausgebildeten Arbeitskräfte durch Migration zu verlieren.
Selektive Einwanderung, wie sie im Trend liegt, verschärft den brain drain. Ohne kohärenten und umfassenden Ansatz vergrößert sich die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten und bleibt das Gefälle zwischen Arm und Reich sowie der Teufelskreis der Armut erhalten.
Die EU ist ein riesiger Markt, aber keine politische Macht. Glauben Sie, dass Europa eine eigenständige politische und diplomatische Identität entwickeln wird und eine größere Rolle in der internationalen Politik übernimmt?
Alaoui: Ich hoffe das. Aber Ereignisse der jüngsten Zeit – der 11. September, die Kriege gegen Afghanistan und Irak – signalisieren eher eine Renationalisierung der europäischen Außenpolitik. Das erschwert zusätzlich die ohnehin schon komplizierte Schaffung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik.
Seit dem 11. September bewegt sich das internationale System von der Herrschaft des internationalen Rechts – wie selektiv und schwach im Rahmen der UN auch immer umgesetzt – weg in Richtung einer Welt, die von den Interessen und der Vision einer einzigen Supermacht und ihrem Präventivkrieg regiert wird.
Internationale Politik braucht Kontrollmechanismen, die sicherstellen, dass abenteuerlicher Unilateralismus nicht ins allgemeine Chaos führt. Die EU könnte ein glaubwürdiger korrigierender Pol sein. Aber will sie diese Rolle überhaupt? Ihre Spaltung in der Irak-Frage trübt das Bild zweifellos.
Interview: Hans Dembowski
© Entwicklung und Zusammenarbeit 11/2004
Assia Bensalah Alaoui lehrt internationales Recht an der Universität Mohammed V in Rabat. Sie ist Mitglied des Club of Rome. Im Auftrag des Präsidenten der Europäischen Kommission, Romano Prodi, war sie Ko-Vorsitzende der "High Level Advisory Group on Dialogue Between Peoples and Cultures in the Euro-Mediterranean Area".
Zeitschrift Entwicklung und Zusammenarbeit
Europäische Union
Bericht der High Level Advisory Group on Dialogue Between Peoples and Cultures in the Euro-Mediterranean Area"