Abkehr vom politischen Stillstand
Während meines Kairo-Besuchs letzten Monat wurde ich Zeuge eines Zwischenfalls, der mir heute geradezu prophetisch erscheint. In einem der schicken Kairoer Cafés sah ich, wie ein Gast den jungen Mann, der ihn bediente, anschrie und behauptete, dass dieser sich ihm gegenüber unverschämt verhalten hätte.
Der junge Angestellte antwortete selbstbewusst: "Ich habe nichts falsch gemacht. Sie haben mich angeschrien."
"Weißt du denn, wer ich bin?", bellte der Gast zurück und verlangte in der Folge, dass der Geschäftsführer den Angestellten öffentlich zurechtweise, indem er – wie es der Gast ausdrückte – "die Ehre dieses Hundes in den Schmutz ziehen sollte."
Jeder, der mit Kairo vertraut ist, wird diese Szene schon oft beobachtet haben: Ein Mitglied der "privilegierten" Elite beschimpft einen Arbeiter der Unterschicht, weil dieser sich ihm gegenüber angeblich auf irgendeine Weise respektlos verhalten hat.
Was nun geschah, war allerdings neu. Anstatt sich in eine Entschuldigung zu flüchten, blickte der junge Angestellte seinem Ankläger in die Augen und sagte: "Du bist nicht Gott. Ich bin nicht dein Untergebener. Ich bin ein Mensch genau wie du."
Tieferes Verständnis nötig
Viele westliche Analytiker und Medien sind zwanghaft darum bemüht, den Aufstand in Ägypten entweder als säkulare Forderung nach Demokratie (den wir deshalb unterstützen sollten) oder als religiöse Revolution (die wir fürchten und versuchen sollten zu stoppen) zu kategorisieren.
Keine der beiden Darstellungsweisen wird der Komplexität oder der Chance dieses historischen Augenblicks, in dem sich Ägypten befindet, gerecht. Um eine echte Partnerschaft mit dem ägyptischen Volk eingehen zu können, wie Präsident Obama sie unlängst versprochen hat, müssen die Verantwortlichen in der US-Politik zunächst ein weit vertiefteres Verständnis der ägyptischen Wünsche entwickeln.
Das wachsende Selbstwertgefühl der gewöhnlichen Ägypter heizte den Aufstand gegen die Regierung an – nicht irgendeine politische Ideologie oder irgendein charismatischer Anführer.
Es ist der Glaube daran, dass die Bürger die alltägliche Erniedrigung des wirtschaftlichen und politischen Stillstands nicht länger hinnehmen sollten. Die Demonstranten, die Gerechtigkeit fordern, ebenso so wie sie zu muslimisch-christlicher Solidarität aufrufen, verkörpern einen Querschnitt der ägyptischen Gesellschaft. Sie schwenken ägyptische Flaggen – keine spezifischen Banner von Oppositionsparteien oder konfessionelle Symbole.
Abnehmende Akzeptanz von Ungerechtigkeit
Gleichzeitig könnte die zunehmende Religiosität sehr wohl eine Rolle in dieser Entwicklung spielen, genau wie der Glaube unseren eigenen Kampf für Bürgerrechte (den der Amerikaner, Anm. d. Red.) oftmals belebt hat. Wenn die Erfolgsgeschichte Tunesiens das Streichholz war, das Ägyptens Volkaufstand entzündet hat, dann hat die abnehmende Akzeptanz von Ungerechtigkeit, die in einigen Fällen aus religiösem Erwachen geboren wurde, den Treibstoff geliefert.
Das Gallup-Institut hat festgestellt, dass die Ägypter diejenigen in der Region sind, die am meisten zu der Aussage neigen, dass eine Entwicklung Richtung mehr Demokratie den Muslimen dabei helfen würde, voranzuschreiten. Sie seien auch diejenigen, die am ehesten zustimmen würden, dass die Bindung an spirituelle und moralische Werte gleichermaßen zu einer besseren Zukunft führen würde.
Diese Dualität hat einen festen Platz in dem Land mit dem weltweit höchsten Anteil an Menschen, die bestätigen, dass Religion ein wichtiger Teil ihres täglichen Lebens darstellt. Studien zeigen, dass Ägypter Demokratie allen anderen Regierungsformen vorziehen. Sie zeigen außerdem auf, dass Religion eine positive Rolle in der Politik spielt.
Die Mehrheit der Ägypter will Demokratie und sieht keinen Widerspruch zwischen dem Wandel, den sie wollen, und den zeitlosen Werten, denen sie sich unterordnen. Mehr als 90 Prozent der Ägypter sagen, dass sie Pressefreiheit garantieren würden, wenn es an ihnen läge, eine Verfassung für ein neues Land zu schreiben.
Keine Theokratie mit demokratischer Fassade
Darüber hinaus befürworten die meisten Ägypter eine nur beratende Rolle von religiösen Führern bei der Gesetzgebung. Ägypter treten für Demokratie in Verbindung mit sakralen Werten ein – nicht für eine Theokratie mit demokratischer Fassade.
US-Entscheidungsträger würden gut daran tun, diese Nuance willkommen zu heißen, die uns Amerikanern bekannt vorkommen sollte. Von den Gegnern der Sklaverei bis zur Bürgerrechtsbewegung haben amerikanische Führungskräfte auf ihrer Suche nach Gerechtigkeit Inspiration aus ihrem Glauben geschöpft.
Heute sind einige derjenigen Stimmen, die sich am lautesten für Umweltschutz, ein Ende von Folter oder Armutsbekämpfung einsetzen, geistliche Führer. Ich habe das selbst erlebt, als ich am Beratungsgremium des Weißen Hauses zu Glaubens- und Nachbarschaftspartnerschaften teilnahm.
Religiöse und säkulare Führungspersonen sowie Wissenschaftler mit unterschiedlichen Hintergründen saßen an einem Tisch, um Lösungen für die anspruchsvollsten Herausforderungen unseres Landes zu finden und jeder griff für das allgemeine Wohl auf seine individuelle Wertetradition zurück.
Die einzigartige Geschichte unseres Landes und unsere Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit machen uns zum natürlichen Partner des ägyptischen Volkes in seinem Kampf für eine bessere Zukunft. Hinzu kommt auf beiden Seiten ein großes Verlangen nach mehr Kooperation.
Gallup-Studien belegen, dass die Mehrheit sowohl der Amerikaner als auch der Ägypter sagen, dass vermehrte Interaktion zwischen Muslimen und dem Westen ein Gewinn darstellen würde und keine Bedrohung – obwohl die Ägypter mit der US-Politik in der Region nicht einverstanden sind.
Die andauernden Volksaufstände in den einfluss- und bevölkerungsreichsten arabischen Ländern könnten die Zukunft des Mittleren Ostens repräsentieren. US-Entscheidungsträger können es sich nicht leisten, diese Bewegung aus mangelndem Verständnis für ihre Komplexität gegen sich aufzubringen.
Glaube ist ein Teil Ägyptens. Die meisten Ägypter aber wollen keine Herrschaft der Geistlichen, sondern Rechtstaatlichkeit.
Dalia Mogahed
© Common Ground News Service 2011
Dalia Mogahed ist leitende Wissenschaftlerin und geschäftsführende Direktorin des "Gallup Center for Muslim Studies" und arbeitet im Beraterstab des US-Präsidenten zu Glaubensfragen und Nachbarschafts-Partnerschaften.
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Kappe
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
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