Jemenitischer Richter bekämpft Terror durch Überzeugung
"Nicht-Muslime sind Ungläubige und müssen getötet werden." "Warum?" "Weil Mohammed gesagt hat: Verfolgt und tötet sie bis sie sich zu Gott bekennen." "Das stimmt nicht." "Warum nicht?" "Weil man niemandem zum Glauben zwingen kann. Das Verhältnis zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen beruht auf Sicherheit und Frieden. Im Koran gibt es 124 Suren dazu, eine einzige sagt, bekämpft sie, wenn sie euch bekämpfen. Gewalt ist also nur zur Verteidigung im Falle eines Krieges erlaubt."
Hamoud Al-Hitar, Leiter des "Komitees für den Dialog", beschreibt eine typische Diskussion zwischen Gelehrten und Gefangenen, wie er sie seit September 2002 oft erlebt hat. Mit religiösen Argumenten versuchen insgesamt 30 Imame, inhaftierte Islamisten von ihren radikalen Positionen abzubringen und von der Toleranz und Friedensbotschaft des Islam zu überzeugen.
Nach dem Motto: Reden hilft, auch gegen Terror. "Hinter jedem Terroranschlag steckt eine Ideologie, und Ideologien lassen sich nur mit anderen Ideologien bekämpfen", so Al-Hitar. Eine Ideologie mit Gewalt zu bekämpfen, verstärke diese nur.
Den Hass in Toleranz umwandeln
Der Richter ist zum Hoffnungsträger seines Landes geworden. Er soll die Brücke bauen zwischen gewaltbereiten Islamisten und einem konservativen, aber friedlichen Islam, wie er im Jemen offiziell propagiert und von der Mehrheit der Bevölkerung gelebt wird.
Entspannt sitzt Al-Hitar im Empfangsraum seines Hauses, auf dem Kopf eine weiße Kappe, auf dem Gesicht ein weises Lächeln. "So wie ein Arzt einen kranken Körper behandelt, wollen wir einen kranken Geist heilen."
Dafür müssen Al-Hitars Leute – allesamt respektierte und moderate Gelehrte – den Hass, den radikale Prediger in den jungen Leuten gesät haben, in Toleranz und Respekt umwandeln. Ein hehres Ziel. Aber lassen sich jahrelang indoktrinierte Extremisten in ein paar Diskussionsrunden bekehren?
Nicht alle, meint Al-Hitar, aber viele. "Ihr starker Glaube an Gott und den Propheten Mohammed hilft uns, denn dadurch haben sie großen Respekt vor theologischen Argumenten", sagt Al Hitar. Die Islamisten hätten lediglich einige Dinge im Islam falsch verstanden, daher ihre radikalen Ansichten.
Während der mehrmonatigen Dialogrunden geht es vor allem um drei Themen: das Konzept des Jihad, den Umgang mit Nicht-Muslimen und die Vorstellungen von einem islamischen Staat.
Dialog auf Augenhöhe
Beide Seiten argumentieren mit Koran und Sunna, die Imame bekämpfen die Islamisten also mit ihren eigenen Waffen. "Wir begegnen einander mit Respekt", sagt Al-Hitar. "Jeder hört dem anderen zu und nimmt ihn als Gesprächspartner ernst."
Der Richter bezeichnet das als "Dialog auf Augenhöhe", was Kritiker bezweifeln. "Wie kann zwischen jemandem, der unschuldig im Gefängnis sitzt und einem Richter, der ihn freilassen kann oder nicht, ein gleichberechtigtes Gespräch stattfinden?", fragt Mohammed Naji Allaw von der Menschenrechtsorganisation HOOD.
Tatsächlich haben die Teilnehmer des Dialogprogramms in der Regel keine Straftaten begangen, sondern sitzen "präventiv" im Gefängnis. Für eine Verurteilung fehlt die gesetzliche Grundlage.
Al-Hitar hilft dem jemenitischen Staat somit aus der Klemme: Statt die Extremisten aus Mangel an Beweisen freizulassen – womöglich weiter radikalisiert durch die unrechtmäßige Inhaftierung – werden sie vorher gedanklich "unschädlich" gemacht.
Entwicklungszusammenarbeit andersherum?
Woher aber wissen die Gelehrten, dass die Islamisten tatsächlich ihre Meinung geändert haben? "Viele tun nur so, um entlassen zu werden", vermutet Menschenrechtsanwalt Allaw.
Al-Hitar ist sich jedoch sicher, dass die Gefangenen ihre Ansichten aus Überzeugung widerrufen und nicht, um frei zu kommen. Denn als gläubige Muslime fühlten sie sich vor Gott verantwortlich – und der ließe sich nicht täuschen.
364 Inhaftierte hätten das Gefängnis bereits auf Bewährung verlassen, so der Richter. Dazu schwören sie einen Eid auf ihre neuen Ansichten und unterschreiben eine Vereinbarung.
Anschließend werde jeder Freigelassene zweifach überwacht: vom Geheimdienst und von den Gelehrten. "Unsere Leute treffen ihn regelmäßig, um seine Ansichten zu überprüfen und wenn nötig zu korrigieren", erklärt Al-Hitar. "Der Geheimdienst kontrolliert, ob er sich an die Gesetze hält." Bis heute habe keiner der Entlassenen gegen die Vereinbarungen verstoßen.
Der Erfolg zeigt Wirkung. Nach anfänglicher Skepsis stößt das Experiment nun auch in Europa auf Interesse. Bei seinem Besuch in Sanaa Anfang März 2005 ließ sich Bundeskanzler Schröder ausführlich von Al-Hitar berichten. Im Umgang mit Islamisten könnte die seit Jahrzehnten intensive deutsch-jemenitische Entwicklungszusammenarbeit dann mal andersherum laufen: Die Deutschen lernen von den Jemeniten.
Kristin Helberg
© Qantara.de 2005