Der Jemen und die Büchse der Pandora

Beinahe stündlich verschlechtert sich die Lage im Jemen. Die saudischen Luftangriffe heizen den Konflikt weiter an. Es droht die Destabilisierung einer ganzen Region, schreibt der politische Analyst und "Economist"-Journalist Adam Baron.

Von Adam Baron

Für gut drei Jahre galt Jemens Entwicklung nach dem Arabischen Frühling als Vorbild für die Region. Die gängige Darstellung verläuft so: Nach dem Aufstand gegen den damaligen Präsidenten Ali Abdullah Saleh im Jahr 2011 vermittelte der von den Vereinten Nationen und den westlichen Staaten unterstützte Golf-Kooperationsrat eine Übergabe der Macht.

Im Gegenzug für seinen Rücktritt gewährte das Abkommen dem Langzeit-Herrscher Straffreiheit. Die sogenannte "Roadmap" sollte einen Übergang einläuten, der das Land unter der Regie des vorherigen Vizepräsidenten und Konsenskandidaten Abd-Rabbu Mansour Hadi auf den Weg zu einer friedlichen und wohlhabenden Demokratie bringt.

Mit Volldampf in den Abgrund?

Die Wirklichkeit hat die damaligen Pläne überholt. Der zunächst nur schleichende Kollaps des vermeintlichen Vorbildstaates hat zuletzt deutlich an Fahrt aufgenommen.

Am 25. März marschierten schiitische Huthi-Rebellen auf Aden. In der Küstenstadt hatte Präsident Hadi nach seiner Flucht aus der Hauptstadt Sanaa im Februar Zuflucht gefunden. Sanaa selbst hatten die Huthi bereits im September 2014 unter ihre Kontrolle gebracht und in der Folge das Parlament aufgelöst und offiziell die Macht übernommen.

Wenige Stunden nach dem Vormarsch der Huthi auf Aden begann etwas, das noch vor wenigen Tagen als unvorstellbar galt: Eine von Saudi-Arabien angeführte Koalition flog Luftangriffe auf die vorrückenden Huthi und weitere militärische Ziele im Land.

Es ist kaum absehbar, in welche Richtung sich die Geschehnisse im Jemen entwickeln. Um ein vergleichbares Schicksalsmoment in der Geschichte des Landes zu finden, muss man die Zeit bis zur Ära nach der Revolution gegen das jemenitische Königreich im Jahr 1962 zurückdrehen. In dem in diesem Jahr beginnenden Bürgerkrieg rangen ähnlich viele Akteure um die Macht wie heute.

Saudi-Arabien und Ägypten kämpften zwar auf unterschiedlichen Seiten. Verlierer aber, so spotten manche Jemeniten noch heute, waren dennoch beide. Saudi-Arabien unterstützte die gestürzten Royalisten.

Ägypten hielt es hingegen mit den siegreichen Republikanern. Deren Militär aber war ohne die Truppen aus Ägypten kaum überlebensfähig. Als Ägyptens Armee Israel 1967 im Sechstagekrieg unterlag und ägyptische Truppen in der Folge aus dem Jemen heimkehrten, schwächte dies auch die jemenitischen Republikaner entscheidend.

Hohe Berge und endlose Wüsten

Das heutige Jemen stellt Invasoren vor massive Probleme: Das Land ist rau. 3000 Meter hohe Berge gehören ebenso zum Terrain wie endlose Wüstenlandschaften. Die kriegserprobten Huthis kennen jeden Winkel der Berge im Nordwesten des Landes.

Daneben stellt sich die Frage, wie das Land auf die Intervention von außen reagiert. Die Reaktionen auf die Luftschläge haben einmal mehr die tiefe Spaltung des Landes offenbart. Auf der einen Seite herrscht entschiedene Ablehnung. Selbst jene, die wenig für die Huthi übrig haben, wollen die Rebellen-Milizen gegen die Invasoren aus dem Ausland unterstützen. Im Süden und in der Mitte des Landes hingegen erklärten Jemeniten ihre Unterstützung für die Luftschläge gegen die Huthi. Sie hoffen, dass die saudi-arabisch geführte Koalition die Hegemonie der Huthi beendet.

Ob dies gelingt, ist mehr als unsicher. Die Huthi bleiben in weiten Teilen des Nordens die bestimmende Kraft. Sie profitieren von einer Allianz aus wesentlichen Einheiten der regulären jemenitischen Armee, die loyal zu dem damaligen Präsidenten Saleh stehen.

Kämpfe in der südlichen Stadt Aden im Jemen; Foto: reuters
Es ist kaum absehbar, in welche Richtung sich die Geschehnisse im Jemen entwickeln, meint Adam Baron, Experte für die Arabische Halbinsel.

Die Luftschläge der saudi-arabisch geführten Koalition haben das gemeinsame militärische Potenzial dieser Allianz zunächst eingeschränkt, inbesondere der Angriff auf eine durch die Huthi kontrollierte strategisch wichtige Luftbasis in Sanaa.

Doch durch Luftschläge alleine sind die schiitischen Milizen kaum - oder sogar überhaupt nicht - zu besiegen. Zudem besteht ein weiteres Risiko: Bei den Luftangriffen ist mit zivilen Opfern zu rechnen, die die jemenitische Bevölkerung noch mehr gegen die Invasoren aufbringen könnten.

Gefährliches Machtvakuum

Hinter all dem steht die Frage: Wie geht es weiter? Ziel der saudi-arabisch geführten Koalition ist es, den für sie legitimen Präsident Hadi wieder an die Spitze des Landes zu setzen. Doch dies ist leichter gesagt als getan. Hadis Schwäche als Präsident hat schließlich den Weg in die derzeitige Krise geebnet.

Hadis derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt. Eine Tatsache, die Zweifel verstärkt, ob er je die Regierungsgewalt über das ganze Land wiederherstellen kann. Hinzu kommt: Selbst wenn die Huthi tatsächlich besiegt werden könnten, wären Extremistengruppen wie Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) nur allzu bereit, das entstehende Machtvakuum auszufüllen.

Einen Ausweg kann einzig ein friedlicher Dialog bieten. Weder Saudi-Arabien, noch der Iran, noch die USA, und selbstverständlich auch nicht die Jemeniten selbst, profitieren von einer Ausweitung des Konflikts.

Doch die Zeit für Gespräche ist möglicherweise bereits verstrichen. Durch ihren Angriff könnte die Anti-Huthi-Koalition bereits die Büchse der Pandora geöffnet haben: Eine Tat, die das Potenzial hätte, die Arabische Halbinsel und die Region in den kommenden Tagen, Wochen und Monate bis in die Grundfesten zu erschüttern.

Adam Baron

© Qantara.de 2015

Adam Baron ist Gastdozent des Thinktank "European Council on Foreign Relations" (ECFR). Zu seinen Fachgebieten zählen der Jemen und die Arabische Halbinsel. Von 2011 bis 2014 war Baron als Journalist im Jemen tätig. Er veröffentlichte unter anderem Beiträge für die britische Wochenzeitschrift "The Economist".