Zwischen israelischer Armee und palästinensischem Untergrund
Ein israelischer Soldat, der fast zum palästinensischen Untergrundkämpfer wird: Es ist eine erstaunliche Verwandlung, die der tunesisch-französische Schriftsteller Hubert Haddad beschreibt. Ihr mag die doppelte Bindung des Autors zugrunde liegen: Haddad ist Jude und Araber zugleich. Kersten Knipp rezensiert den Roman "Falastin".
Angenommen, ein Mensch verliert Bewusstsein und Gedächtnis und kommt an einem ihm unbekannten Ort wieder zu sich – wie mag er diesen Ort dann wahrnehmen? Und nach welchen Kriterien beurteilen?
Der aus Tunesien stammende, seit Jahrzehnten aber in Frankreich lebende jüdische Autor Hubert Haddad hat das Motiv des Gedächtnisverlustes auf die verfahrene Situation im palästinensisch-israelischen Konflikt angewendet und daraus eine verfahrene Situation gestrickt.
Cham, ein junger israelischer Soldat, wird an der Grenze zum Westjordanland von palästinensischen Widerstandskämpfern entführt. Man mag Parallelen zum Schicksal des israelischen Soldaten Gilad Shalit sehen, der im Juni 2006 – ein Jahr, bevor Haddads Roman im französischen Original erschien – von palästinensischen Untergrundkämpfern auf israelischem Gebiet in den Gazastreifen entführt wurde und seitdem an unbekanntem Ort festgehalten wurde.
Doch im Weiteren unterscheidet sich Shalits Fall ganz erheblich von demjenigen Chams. Zwar wird auch der Protagonist des Romans schwer angeschossen. Doch dann hat er Glück im Unglück: Nachdem er, aufgrund der schweren Wunden die meiste Zeit ohnmächtig und bewusstlos, durch zahlreiche Hände gereicht worden ist, findet er sich im Haus einer palästinensischen Familie wieder, die ihn in den folgenden Monaten gesund pflegt.
Liebe jenseits der Grenze
Das Gedächtnis kehrt allerdings nicht zurück und Cham bleibt orientierungslos. Wer ist er, und wo ist er? Schritt für Schritt knüpft er Beziehungen zu den Menschen um ihn herum, Menschen, die er nicht kennt. Aber auch sie sind über seine Identität nicht im Bild. Denn ohne seine Uniform sieht Cham aus wie ein Palästinenser.
Außerdem beherrscht er den regionalen Dialekt. Und da er bereits durch die Hände mehrerer Entführergruppen gegangen ist, halten seine jetzigen Pfleger und Bewacher ihn für einen der ihren, für einen verwundeten Palästinenser. Und Cham? Er reagiert ganz anders, als er es sich vor seiner Entführung vorgestellt hätte.
Denn Cham trifft auf Menschen, die mit enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, jeden Tag aufs Neue für ihr Auskommen zu sorgen haben. Diese Menschen, erkennt Cham, sind wie er. Er sieht sie mit neuen Augen, ganz ohne die gewohnten stereotypen Vorstellungen, die so viele Israelis und Palästinenser voneinander haben. Und so kommt es unter Haddads Feder zu einem kleinen poetischen Wunder:
Cham hält sich für einen palästinensischen Widerstandskämpfer. Genauso sehen es auch die Mitglieder der ihn pflegenden Familie, die Cham die Identität des verschwundenen Sohnes und Bruders Nessim verleihen. Sie soll ihn vor der Festnahme durch das israelische Militär bewahren. Und auch gefühlsmäßig bindet sich Cham an die Menschen um ihn herum: Er verliebt er sich in Falastin, die junge Frau, die den Namen ihres Landes trägt.
Poetischer Wunschtraum
Man kann diese Konstellation als Wunschtraum eines Dichters denken, der sich als tunesischer Jude beiden Seiten, der arabischen ebenso wie der israelischen, verbunden fühlt, der die Gewalt, die das Land durchzieht, nicht als naturgegeben und unausweichlich ansieht.
Dass Gefühle von Freundschaft und Verbundenheit sich am Ende aber nicht durchsetzen, sondern ihrerseits in den Dienst des Krieges gestellt werden, das macht für Hubert das Drama jenes Konfliktes aus – eines Konfliktes, der für ihn künstlich erzeugt worden ist, der sich vor allem über uralte Traditionen hinwegsetzt, eine jüdisch-arabische Verbundenheit, wie Haddad sie noch aus seiner eigenen Familie kennt.
Er erinnere sich, berichtet Haddad im Interview, wie seine Großmutter – sie stammte ursprünglich aus Algerien – Israel als eine Art mythischer Heimat empfand. Ständig habe sie sich nach diesem Land gesehnt, jüdisch-arabische Musik gehört, zu dem Land eine mythisch-nostalgische Beziehung gehabt.
Ein palästinensisches waste land
Sehr viel von dieser Nostalgie ist auch in Haddads Buch zu finden. Und doch ist er Realist genug, um zu sehen, dass Träume es zumindest schwer haben in Israel. Eine gewaltige Mauer durchzieht das Land, trennt Köpfe und Herzen.
Haddad zeichnet die palästinensischen Gebiete als gewaltiges waste land, zerfurcht von Grenzanlagen, Siedlungen und Checkpoints. Er zeichnet das Bild einer entfremdeten Welt, in der nicht einmal die Gefühle verlässlich sind:
Just in dem Moment, in dem Cham sich in seiner neuen Umgebung heimisch zu fühlen beginnt, planen seine Entführer, ihn als Selbstmordattentäter einzusetzen. Ist er hinreichend manipuliert, kalkulieren sie, soll er sich mit einer Bombe am Körper ins Zentrum einer der großen israelischen Städte begeben.
Haddads Roman zeigt auf wunderbare Weise, wie wandlungsfähig, aber auch wie brüchig Weltbilder sein können. Mit seinem Gedächtnisverlust Cham zahlt einen hohen (und unfreiwilligen) Preis dafür, die palästinensische Wirklichkeit mit neuen Augen sehen zu können.
Dann aber macht er sich ihre Sicht zu eigen – und läuft darüber Gefahr, zum Extremisten der Gegenseite zu werden. Und so bleibt es schließlich Aufgabe des Erzählers, mit poetischen Mitteln darauf hinzuweisen, dass die Märtyrerrolle moralisch verwerflich und politisch sinnlos ist.
Kersten Knipp
© Qantara.de 2010
Hubert Haddad, "Falastin". Übersetzung: Katja Meintel. Hamburg: Edition Nautilus, 2009, 169 Seiten
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