Reise ins Nichts
Heimkehren kann gefährlich sein. Wer nach langer Abwesenheit in seine Vaterstadt zurückkehrt, um nach Angehörigen zu suchen oder nach eigenen Wurzeln zu forschen, erlebt mitunter eine böse Überraschung.
Dem Rückkehrer kann es passieren, dass ihn niemand mit offenen Armen empfängt, dass ihm das vermeintlich Vertraute fremd und abweisend begegnet. "Ist dir heimlich?", fragt der Erzähler in Kafkas berühmter Parabel Heimkehr, "fühlst Du Dich zuhause? Ich weiß es nicht…Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt."
So ergeht es Akhbar, der nach vielen Jahren im Exil sein Heimatland wieder betritt. Er hat den Kontakt zu seinen Angehörigen längst verloren, der Vater ist früh verstorben, und Akhbar weiß nicht, ob seine Mutter und Geschwister noch leben. Nun muss er feststellen, dass die geliebte Heimat sich total verändert hat. Teile des Landes sind durch Krieg zerstört, Straßen und Häuser verwüstet. "Die Fensterhöhlen starrten Akhbar an wie ausgestochene Augen", heißt es im Buch. Stadt und Land kommen ihm vor "wie ein riesiger Gefängnishof".
Intellektuelles Verwirrspiel zwischen Alptraum und Poesie
Das öffentliche Leben scheint gelähmt, die wenigen Menschen auf den Straßen wirken verstört. Ein strenges Regime – genannt "die Soldaten des Islams" – herrscht mit blutiger Willkür. Vor allem die Frauen werden brutal unterdrückt. Ihnen ist es nicht gestattet sich frei und unverhüllt zu zeigen, nur unter der blickdichten Burka dürfen sie auf die Straße gehen.
Akhbar sammelt diese erschreckenden Eindrücke in einem imaginären Reisejournal. Er stellt tiefsinnige Betrachtungen an über den Verlust von Wirklichkeit und Existenz, während er wie in einem Albtraum durch die leeren Straßen irrt. Er forscht zwar weiter nach Verwandten und Bekannten, klopft an viele Türen, doch überall weist man ihn ab.
Einmal trifft er einen alten Bekannten, der ihm erzählt, dass Akhbars Mutter wieder geheiratet hat und längst weggezogen ist. Akhbar verliert immer mehr den Halt, und der Leser beginnt sich zu sorgen, was aus ihm werden soll.
Murathan Mungan, Autor eines umfangreichen Werks, ist in der Türkei sehr berühmt. Laut Verlagsangaben wird er in der Heimat verehrt wie ein Popstar. In "Tschador" betreibt er ein intellektuelles Verwirrspiel aus poetischen Bildern und essayistischen Spekulationen. Das Tückische an "Tschador" ist, dass dem Leser anfangs suggeriert wird, in eine reale Welt einzutreten.
Märchenhafte Fabel
Die Geschichte beginnt mit einer Autofahrt über die Grenze, hinein in ein wüstenreiches heißes Land. Der Leser meint, dies sei die Türkei, doch in der dargestellten Welt ist nichts so, wie er es vielleicht erwarten könnte. Durch den Blick des Protagonisten wirkt vieles stark überzeichnet.
Der Leser wird in ein märchenhaft anmutendes Geschehen verwickelt; die Fabel sperrt sich dem Verständnis, alles wird immer surrealer, bis der Leser begreift, dass das Geschilderte eher einer Vision entspringt als einer realen Erfahrung.
Mungans Sprache ist sehr poetisch, er bemüht sich um bildkräftige Anschaulichkeit, die Sätze klingen nach; Stimmungen, Gerüche, Geräusche werden erlebbar, wenn dies auch manchmal für den westeuropäischen Geschmack überdosiert erscheint.
Gefangenschaft unter dem Schleier
Vergleiche wie: "die Mienen waren leer wie die Wüste, abweisend wie ein Steilhang, formlos wie Sand" wirken allzu bemüht. Und wenn Akhbar seine Empfindungen während eines Traums, in dem ihm der Vater erscheint, so ausdrückt: "Da glich Akhbars Freude einem Schlag aufflatternder weißer Tauben", streift dies bedenklich den Kitsch.
Die Stärke des Autors ist die Durchführung von Themen, wie etwa dem der Verschleierung. Akhbar leidet immer stärker darunter, dass sich "die Hälfte des Lebens" verstecken muss. Seine Kritik an der Verschleierung klingt stellenweise wie ein leidenschaftliches Plädoyer für die Befreiung der im Islam unterdrückten Frauen. Er deutet es als die perverse Spitze des allgemein herrschenden Bilderverbots, dass Frauen nur "in einem Stoffzelt mit Sichtgitter" umhergehen dürfen.
Doch die Burka – deren "erster Schritt" der Tschador ist, wie es im Text heißt – ist darüber hinaus auch Gefangenschaft. Für die Frau gibt es nach Akhbars Meinung unter dem Schleier kein Leben; sie darf sich nicht zeigen und nimmt zugleich durch den Sehschlitz nur noch wenig wahr; sie verschwindet regelrecht aus dem Leben.
Es ist nicht leicht, in diesem schmalen Roman dem roten Faden zu folgen. Vieles wird nur angerissen, bricht wieder ab, bleibt unscharf wie in einem Traum. Umso konsequenter erscheint es, dass Akhbar am Ende seiner Reise selbst unsichtbar wird, indem er in eine Burka schlüpft. Was in Kafkas "Heimkehr" in dem Satz mündet: "Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man", wird bei Mungan grotesk auf die Spitze getrieben.
Akhbar scheitert nicht nur bei dem Versuch seiner Vergangenheit wiederzubegegnen – eingehüllt in den Stoff der Burka, begibt er sich in die völlige Isolation, wird selbst zum Fremden unter Fremden. Die Tür zur Welt wird endgültig geschlossen.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2008
Qantara.de
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