Profiteure des Bürgerkrieges
In Algerien sind die bewaffneten islamistischen Gruppen größtenteils zerschlagen, eine Amnestie sichert vielen "Reuigen" überdies Straffreiheit zu. Doch stoßen die Gesetze nicht ungeteilt auf ein positives Echo innerhalb der algerischen Bevölkerung. Von Bernhard Schmid
Das neue Jahr begann mit einer Nachricht, die wohl die allermeisten Algerier und Algerierinnen aufatmen ließ: Die "Bewaffneten islamischen Gruppen" ("Groupes islamiques armés" / GIA), deren bloße Erwähnung die Bevölkerung vor allem im Umland der Hauptstadt Algier jahrelang in Angst und Schrecken versetzte, sind so gut wie zerschlagen. Damit geht eines der blutigsten Kapitel der algerischen Geschichte zuende.
Am 3. Januar dieses Jahres zog ein recht nüchtern gehaltenes Kommuniqué des algerischen Innenministeriums die Bilanz einer Operation, die in den vorangegangenen zwei Monaten unter weitgehender Geheimhaltung durchgeführt wurde.
Bewaffnete Islamisten im Visier der Staatsmacht
Anfang November war es den staatlichen Ordnungskräften erstmals gelungen, einen "nationalen Emir" (Befehlshaber) der GIA lebend festzunehmen: Boudiafi Nouereddine - alias "Noureddine PRG" - fiel ihnen in Bab Ezzouar, einem außerhalb von Algier gelegenen Stadtteil, in die Hände.
Aus diesem Anlass konnten auch einige "Schläfer"-Unterstützerzellen in der Hauptstadt ausgehoben werden. Dank der Angaben, die der "Emir" beim Verhör machte, konnten bei Durchsuchungen weitere Verstecke ausfindig gemacht werden, wodurch Polizei und Armee ein neuerlicher Schlag gegen die verbleibenden Reste der Organisation gelang.
Kaum 14 Tage an der Spitze der GIA, wurde der neue "Emir" Chaâbane Younès - genannt "Lyès" - am 1. Dezember in der Nähe der westalgerischen Stadt Chlef erschossen. Sein Begleiter "Abu Bakr" legte die Waffen nieder und ergab sich.
Da der "Kampf" der GIA - der auch einen flächendeckenden Terror gegen die Zivilbevölkerung beinhaltete - sich schon in einer frühen Phase als kontraproduktiv für die strategisch denkenden, politischen Kader des Islamismus erwies, kam es zu Abspaltungen und Neuformierungen. Zumindest ein Teil der im März 1992 verbotenen "Islamischen Rettungsfront" (FIS) hatte anfänglich die GIA unterstützt.
Machtinterner Konflikt und Zerfall
Ein ehemaliger Kader des FIS, Mohammed Saïd, war seit Mai 1994 für ein Jahr lang sogar nationaler Anführer der GIA. Doch er wurde organisationsintern ausgeschaltet, da viele andere GIA-Mitglieder die vom FIS kommenden Aktivisten misstrauisch beäugten. Im Sommer 1994 bildeten Parteiaktivisten eine eigene Militärorganisation als bewaffneten Arm des FIS, die sie "Islamische Rettungsarmee" (Armée islamique du salut / AIS) nannten.
Die AIS versuchte, in einer stärker auf die politische Machtübernahme ausgerichteten Perspektive zu kämpfen und grausame Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, wie die GIA sie schon früh unternahmen, eher zu vermeiden. Stattdessen sollte der Kampf stärker auf Polizisten und Soldaten sowie auf dezidierte politische Gegner konzentriert werden.
Die AIS erkannte im Sommer 1997, dass aufgrund der in jenem Jahr explosionsartig zunehmenden Kollektivmassaker für die vor allem die GIA die Verantwortung übernahm die Perspektiven für einen Regimewechsel mehr und mehr verbaut schien. Denn die Bevölkerung wandte sich mit Grauen von den gewalttätigen Islamisten ab.
Daraufhin verhandelte die Führung der AIS mit der algerischen Armee einen Waffenstillstand aus, der zum 1. Oktober 1997 offiziell in Kraft trat. Eine Abspaltung erfuhren die GIA zudem ab 1999 - in Gestalt der "Salafistischen Gruppe für die Predigt und den Kampf" ("Groupe salafiste pour la prédication et le combat" / GSPC) unter dem ehemaligen Fallschirmsoldaten Hassan Hattab.
Auch die Gründer des GSPC warfen den verbleibenden GIA-Gruppen vor, durch ihren hemmungslosen blutigen Terror gegen die Zivilbevölkerung die politische Zukunft endgültig verspielt zu haben. Die neue Guerillagruppe zog sich schließlich in die bewaldeten Berge des nordöstlichen Algerien, vor allem der berbersprachigen Region Kabylei, zurück.
Glaubt man den algerischen Behörden wurde im Juni 2004 die gesamte Inlandsführung des GPSC bei einer Militäroperation in der Kabylei getötet. Heute bleiben noch rund 300 bewaffneten Kämpfer in den Reihen des GSPC. Nach den jüngsten Schlägen gegen die Reste der GIA sollen letztere hingegen nur noch über 30 bewaffnete Mitglieder im Umland von Algier verfügen.
Amnestie für "Reuige"
Nach dem Amtsantritt des im April 1999 neu gewählten Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika, der versprochen hatte, das Problem der bewaffneten islamistischen Gruppen schnell zu regeln, wurde ein Amnestiegesetz erlassen.
Dieses "Gesetz über die innere Eintracht" ("concorde civile") vom 13. Juli 1999 hatte eine sechsmonatige Laufzeit: Jene "Reuigen" aus den Reihen der bewaffneten Gruppen, die ihren Kampf vor dem 13. Januar 2000 aufgaben, sollten von dem Amnestieangebot profitieren können. Danach sollte erneut mit militärischer Härte gegen die verbleibenden Reste der bewaffneten Gruppen vorgegangen werden.
Für die zahlreichen islamistischen Gruppen sah das Gesetz jedoch einen unterschiedlichen Umgang vor: Artikel 41 des Gesetzes besagte, dass eine kollektive Pauschalamnestierung (unter Ausschluss jeder Strafverfolgung und bei Beibehaltung der politischen Bürgerrechte) für die Mitglieder einer Gruppierung gelte, die dem Kampf gegen den Staat entsagten und von den Behörden "zugelassen wurden, um im Rahmen des Staates an der Bekämpfung des Terrorismus teilzunehmen".
Damit war nach allgemeiner Auffassung die AIS gemeint, so dass mehrere Monate lang darüber spekuliert wurde, ob diese ihre eigenen Strukturen beibehalten und eventuell gar als eigenständige Organisation in die algerische Armee integriert werden sollte um im Gegenzug gegen die Reste der GIA zu kämpfen.
Daraus wurde jedoch nichts: Die AIS löste sich zum 13. Januar 2000 ersatzlos auf. Statt der Aufrechterhaltung der "Islamischen Rettungsarmee" als politische Struktur gab es hingegen individuelle Hilfsmaßnahmen für deren Mitglieder, und vor allem für die Angehörigen ihrer Führung.
Profiteure des Bürgerkrieges
Zunächst wurde über einen Weg ins saudische Exil für den "Emir" der AIS, Madani Mezrag spekuliert. Schließlich wurde Mezrag jedoch eine Mineralwasserfabrik zugesichert in Algerien ein lukratives Unternehmen. Hierfür sollte er sich im künftig dankbar gegenüber dem Regime erweisen.
Vor der Wiederwahl Präsident Bouteflikas rief Mezrag dann auch im April 2004 zu dessen aktiver Unterstützung auf. Die Mitglieder anderer islamistischer Organisationen erfuhren eine weniger privilegierte Behandlung als die AIS: Sie sollten einer drei bis 12jährigen "Prüfungsphase" unterzogen werden, in der sie kein aktives oder passives Wahlrecht haben sollten.
Zudem wurde ihnen keine Pauschalamnestierung garantiert. Vielmehr sollten die einzelnen Mitglieder dieser bewaffneten Gruppen einer administrativen Prüfungskommission vorgeführt werden, was ihnen allerdings den Weg vors Gericht ersparte. Straffreiheit wurde dabei all jenen ehemals bewaffneten Islamisten zugesichert, die nicht persönlich für Morde oder Sprengstoffanschläge auf öffentlichen Plätzen verantwortlich waren.
De facto ist allerdings in der Folgezeit nichts über eine spätere Verurteilung eines der Islamisten, die im Rahmen der "concorde civile" ihre Waffen niederlegten, bekannt geworden. Das mag an den Schwierigkeiten liegen, Taten - wie jene der GIA - bestimmten Mitgliedern zuzuordnen.
Nach behördlichen Angaben nutzten insgesamt 6.000 ehemals bewaffnete Islamisten das Amnestieangebot von 1999/2000. Offiziell werden sie als Reuige ("Repentis") bezeichnet. Doch diese Bezeichnung wird nicht von allen Betroffenen akzeptiert.
Reue aus politischem Kalkül
So erklärte der ehemalige Anführer einer lokalen GIA-Gruppe aus dem Umland von Médéa, Ali Benyahia, in einem französischen Dokumentarfilm vor laufender Kamera: "Wir sind keine Reuigen, denn wir erkennen keinerlei Fehler an."
Einige vermeintliche "Aussteiger" bewaffneter Islamistengruppen haben das Amnestieangebot wohl hauptsächlich dazu genutzt, um zeitweise in die Legalität zurückzukehren und um neue Aktivisten zu rekrutieren. Tatsächlich gab es im Zeitraum zwischen 2000 bis 2002 Fälle neuer Mitgliedschaften jüngerer Sympathisanten innerhalb der bewaffneten Gruppen.
Andere "Reuige" wiederum hatten angesichts der Aussichtslosigkeit ihres Kampfes das Amnestieangebot wirklich als Gelegenheit zur Rückkehr ins zivile Leben genutzt.
Für gesellschaftlichen Neid und auch politische Opposition sorgten die materiellen Privilegien, die zumindest ein Teil dieser "Reuigen" genoss: Zwecks Wiedereingliederung wurde ihnen eine Unterhaltungszahlung und Hilfe bei der Jobsuche gewährt.
In einem Land, das 2000 mit einer offiziellen Arbeitslosenrate von 30 Prozent auf dem Höhepunkt der Erwerbslosigkeit angelangt war und wo es noch immer keine funktionierende Arbeitslosenversicherung gibt, ist das nicht für alle Bürger nachvollziehbar.
Widerstand gegen Amnestiegesetze
So gab es auch deutlichen Widerstand gegen das Amnestieangebot: Ein Teil der Armee sowie ehemalige Kommunisten, die sich vor allem als Opposition zu den Islamisten begriffen, warnten vor einer "Kapitulation des Staates" und einer "Vorstufe des politischen Kompromisses mit den Islamisten.
Ferner opponierten auch einige Vereinigungen von Terrorismusopfern gegen die in der Praxis sehr pauschale, Amnestierung von Mitgliedern der bewaffneten Gruppen, die u.a. für Kollektivmassaker verantwortlich waren. Sie schlossen sich, mit Unterstützung eines Teils der Presse, zum "Nationalkomitee gegen das Vergessen und den Verrat" (CNOT) zusammen.
Ihre Wirkung blieb jedoch begrenzt, da die Regierung - sowie Teile der Bevölkerung - es mit dem 1999 einsetzenden Ende des Bürgerkrieges offenbar eilig hatten und unter den Schrecken rasch einen "Schlussstrich" ziehen wollten.
Kurz nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten im April 2004 regte Bouteflika erneut eine befristete Amnestie an. Dieses Angebot wurde von rund 100 Mitglieder der Reste von GIA und GSPC wahrgenommen.
In seiner viel beachteten Rede zum 50. Jahrestag des Beginns des algerischen Befreiungskrieges gegen die Kolonialmacht Frankreich sprach sich Bouteflika schließlich erstmals für eine Generalamnestie der im Bürgerkrieg bewaffneten Gruppen aus.
Alle ehemalige "Kämpfer" - ob verurteilt oder nicht – sollten hiervon profitieren, um die "Zerrissenheit des Landes" zu überwinden. Und derzeit spricht vieles dafür, dass sich diese Initiative auch innerhalb des gesamten Staatsapparates durchsetzen könnte.
Bernhard Schmid
© Qantara.de 2005