Kopftuch und Kruzifix
Der Berliner Islamwissenschaftler Fritz Steppat wurde am 24. Juni 2003 achtzig Jahre alt. Steppat, 1969 bis 1990 Professor am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität, ist Wegbereiter einer gegenwartsbezogenen und zugleich historisch fundierten Orientalistik und gilt als Mittler zwischen den Kulturen. Nach seiner Emeritierung stellte er die Weichen für die Gründung des Zentrums Moderner Orient. Dessen neue Direktorin, Ulrike Freitag, widmet Steppat ihr Plädoyer für eine erneuerte Islamwissenschaft.
Nach dem 11. September 2001 waren die Hörsäle islamwissenschaftlicher Seminare in Europa und den USA überfüllt. Über hundert Studenten begannen allein im vergangenen Wintersemester in Berlin mit dem Studium des Arabischen, einer Sprache, die schon auf Grund ihrer fremdartigen Schrift als schwierig gilt. Die Entscheidung für ein solches Engagement lässt sich nicht nur mit tagespolitischem Interesse rechtfertigen, denn seit den Terroranschlägen in den USA und anderswo besteht eine große Nachfrage nach islamwissenschaftlich ausgebildetem Fachpersonal. Seine Expertise wird plötzlich vom Auswärtigen Amt ebenso geschätzt wie von Sicherheitsdiensten, von Einrichtungen der Politikberatung und von den Medien.
Diese Konjunktur eines „Orchideenfaches“ und der Modernisierungsdruck auf die Universitäten sind Anlass, nach den zeitgemäßen Aufgaben islamwissenschaftlicher Lehre und Forschung zu fragen. Wir brauchen die Islamwissenschaft heute, wo unterschiedliche Kulturen durch Millionen von Migranten und globale Verflechtung von Handel und Kommunikation mehr denn je direkt aufeinander stoßen, vor allem für das, was man kulturelle Übersetzung nennt. Inwieweit ist das Kopftuch der afghanischen Lehrerin in Deutschland mit dem im bayerischen Klassenzimmer per Verordnung aufgehängten Kruzifix zu vergleichen? Oder ist das Kopftuch eine persönliche, wenn auch religiös motivierte Kleidungsentscheidung? Als Saddam Hussein an die islamische Solidarität im Kampf gegen die USA appellierte, wies das auf Verbindungen zum terroristischen Al-Qaida-Netzwerk hin? Sind „Religion“ und „Staat“ im Islam wirklich untrennbar, so wie dies von vielen Islamisten – und umgekehrt von westlichen Islambeobachtern – dargestellt wird? Auch an dem „Dialog mit dem Islam“ beteiligen sich Islamwissenschaftler. Eine wichtige Aufgabe besteht dabei darin, auch Differenzen (etwa in Menschenrechtsfragen) anzusprechen. Denn die Tendenz zur oberflächlichen Übereinstimmung stellt ein ernsthafteres Kommunikationshindernis dar als die offene Auseinandersetzung mit tatsächlichen Problemen.
Auf den Nahen Osten orientiert
Gerade die deutsche Nachkriegs-Islamwissenschaft hat sich – anders als die britische und die US-amerikanische – lange gescheut, diesen öffentlichen Aufklärungsbedarf zu befriedigen oder sich überhaupt mit gegenwartsorientierten Fragen zu beschäftigen. Lieber befasste man sich mit der klassischen islamischen Theologie und Geschichte, am besten vor dem Mongolensturm auf Bagdad (1258). Denn der setzte der arabischen Dominanz der islamischen Welt ein Ende.
Eine moderne Islamwissenschaft sollte arabistische, das heißt sprach- und literaturwissenschaftliche Anliegen mit religions- und geschichtswissenschaftlichen Ansätzen und einer Öffnung für sozialwissenschaftliche Fragen verbinden. Dadurch entsteht eine Wissenschaft, die sich nicht primär als Lehre vom Islam, sondern von islamisch geprägten Gesellschaften und Literaturen versteht. Zu einer solchen Ausbildung gehört aber auch der möglichst frühzeitige Kontakt mit den Bewohnern der Regionen, welche studiert werden. Idealerweise sollte dies in Form eines Auslandsstudiums geschehen, das es den Studierenden erlaubt, sich auch mit den vor Ort vertretenen Ansätzen und Fragestellungen der sie besonders interessierenden Fachrichtung vertraut zu machen.
Die Islamwissenschaft hat sich bereits stark modernisiert. Sie ist in ihren theoretischen Fragestellungen wie auch komparatistischen Ansätzen der Geschichte oder Literaturwissenschaft gegenüber offener als diese umgekehrt für „außereuropäische“ Geschichte oder Literaturen. Dennoch gibt es Bereiche, in denen sie gerade in Deutschland noch großen Nachholbedarf hat.
Durch die traditionell philologisch-theologische Ausrichtung des Faches ebenso wie durch regionalwissenschaftliche Traditionen dominiert nach wie vor die Orientierung auf den arabischen Nahen Osten. Nur Türkei und Iran gelten als weitere „anerkannte“ Betätigungsfelder für Islamwissenschaftler. Die vier bevölkerungsreichsten islamischen Staaten (Indonesien, Pakistan, Bangladesch und Indien) liegen außerhalb dieser Region, ebenso wie die islamischen Staaten Zentralasiens und des subsaharischen Afrikas. Natürlich ist erst einmal zu fragen, inwieweit „der Islam“ als eine einheitliche prägende Kraft zu sehen ist und inwieweit ihn lokale Traditionen und Geschichte verändert haben. Dies kann erst durch vergleichende Untersuchungen etabliert werden – und dazu bedarf es auch solcher Islamwissenschaftler, die sich mit nicht-nahöstlichen islamischen Gesellschaften beschäftigen.
Das Netz der Al Qaida
Die Beschäftigung mit dem Islam steht allerdings nicht im Zentrum der Südostasien-, Südasien- und Afrikawissenschaften. Deshalb gibt es hier dringenden Nachholbedarf. Die Geschichte der Beziehungen zwischen islamischen Regionen, wie sie am Zentrum Moderner Orient in Berlin erforscht wird, kann wichtige Ansatzpunkte für das Verständnis aktueller Entwicklungen geben. Die Verbindungen, auf welche Al Qaida zwischen Indonesien, Afghanistan, Saudi-Arabien und Ostafrika zurückgreifen kann, sind hier das sicherlich plakativste, keineswegs aber das einzige mögliche Beispiel.
Bei aller Offenheit für gesellschaftliche Bedürfnisse und den Arbeitsmarkt muss sich die Islamwissenschaft davor hüten, politisch vereinnahmt zu werden oder sich ausschließlich an gegenwärtigen Konjunkturen zu orientieren. Dabei sollte ein Fehler vermieden werden, der an vielen britischen und amerikanischen Einrichtungen gemacht wurde: Die philologischen und theologischen Grundlagen, die lange das Kernstück der Disziplin bildeten, dürfen nicht vernachlässigt werden. Davor muss angesichts angestrebter Rationalisierungen von Studiengängen und der damit einhergehenden Nachfrageorientierung der Lehrangebote unbedingt gewarnt werden. Ohne solide Sprachkenntnisse und gründliche Kenntnis theologischer und juristischer Grundlagen würden die Aussagen von Islamwissenschaftlern jene Tiefenschärfe verlieren, die sie von den Kommentatoren der Tagespolitik unterscheidet.
Ulrike Freitag
Quelle: Ulrike Freitag, Kopftuch und Kruzifix. Der Stand der Dinge (15): Warum die Islamwissenschaft heute Kulturen übersetzen muss, in: Der Tagesspiegel, 24. Juni 2003, Seite 24
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Tagesspiegels
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