Pfadfinder des Propheten
Die islamische Welt unterstand im späten 19. Jahrhundert vielerorts den westlichen Kolonialmächten. In Ägypten war diese Präsenz besonders spürbar. Großbritannien sicherte sich 1882 für viele Jahrzehnte die Herrschaft über das Land. Frankreich war an der Suezkanal-Gesellschaft beteiligt und hatte darüber hinaus kulturell erheblichen Einfluss auf die gebildeten Säkularen Ägyptens.
Bei den Religiösen führte die Konfrontation mit europäischen Ideen und Verhaltensweisen zwar zu einer Verhärtung konservativer islamischer Haltungen. Reformorientierte Kreise nahmen aber Modernisierungsimpulse auf und waren um eine Neubewertung der eigenen Traditionsbestände bemüht, mit dem Ziel, die ägyptische Gesellschaft "islamischer" zu gestalten.
Von einem ähnlichen Sendungsbewusstsein war schon in jungen Jahren der 1906 unweit von Alexandria in dem kleinen Ort Mahmudiyya geborene Hasan al-Banna erfüllt. Die von ihm 1928 in der am Suezkanal gelegenen Stadt Ismailiya gegründete Muslimbruderschaft wuchs in den folgenden zwei Jahrzehnten zu einem wichtigen Akteur im gesellschaftlichen Geschehen des Nillandes. Die Organisation verlor ihre Bedeutung auch dann nicht, als sie nach der Ermordung ihres Gründungsvaters 1949 massiven Repressionen ausgesetzt war - was in Ägypten bis heute der Fall ist.
Widerstand gegen den Kolonialismus
Über die Muslimbrüder, die nach al-Bannas Tod verstärkt auch außerhalb Ägyptens aktiv wurden, ist viel und oft Parteiisches geschrieben worden. Eine fundierte und umfassende Biografie ihres Gründers fehlte aber bislang.
Mit ihrem lesenswerten Porträt dieses wirkmächtigen Mannes leistet nun die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer nicht nur im Hinblick auf dessen Werdegang und die Entwicklung seiner Organisation Pionierarbeit. Sie beleuchtet auch die Umwälzungen in Ägypten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die durch besonders starke politische und wirtschaftliche Turbulenzen gekennzeichnet war. Ursächlich dafür waren nicht nur die beiden Weltkriege, sondern auch der wachsende, religiös wie nationalistisch aufgeladene Widerstand gegen den Kolonialismus und dessen Folgen.
Als Mitglied einer Gruppe strenggläubiger Jugendlicher war Hasan al-Banna bereits in seinem Heimatort bestrebt, die "islamische Moral" gegen verderbliche Einflüsse wie christliche Missionierung, Alkohol- und Drogenkonsum, Glücksspiel und Prostitution zu verteidigen - dagegen würde später auch seine Muslimbruderschaft zu Felde ziehen.
Schon als junger Mann wurde al-Banna durch den aufkeimenden ägyptischen Antikolonialismus geprägt, den er - noch prononcierter als die islamischen Reformer vor ihm - als "Dschihad" apostrophieren sollte.
Und obwohl al-Banna wie seine reformerischen Vorbildfiguren bei der propagierten Umerziehung der Gesellschaft einer auf den islamischen Schriften basierenden Bildung zentrale Bedeutung beimaß, erkannte er doch schnell, dass ihr vertiefendes Studium das falsche Instrument wäre, um die ägyptischen Massen für den Islam zu begeistern.
Verwurzelung im Sufismus
Diese Überzeugung rührte auch von al-Bannas Verwurzelung im Sufismus, der sich die Autorin ausführlich widmet. Die Vorliebe der Sufis für Einfachheit, Spontanität und von Musik und Gesang begleitete Gebetsrituale sicherte ihnen Volksnähe.
Und genau die suchte al-Banna, als er sich neben seiner - noch bis 1947 ausgeübten - Tätigkeit als Grundschullehrer für Arabisch im Jahr 1927 in Ismailiya aufmachte, den Menschen eine einfache und allgemein verständliche Version des Islam zu vermitteln.
Entsprechend gestalteten sich schon seine kurzen Predigten, die al-Banna regelmäßig in den Kaffeehäusern der vom Kolonialismus geprägten Stadt am Suezkanal hielt und die ihn rasch bei den einfachen Leuten bekannt machten. Die sechs Mitbegründer der Muslimbruderschaft waren denn auch keine Intellektuellen, sondern Arbeiter, Angestellte und Handwerker, die meist bei den ausländischen Firmen beschäftigt waren. 1931 eröffneten sie eine eigene Moschee, und wenig später folgte die Gründung einer Knaben- sowie einer Mädchenschule.
Auch wenn dort eiserne Disziplin herrschte, verfolgte man doch auch Ansätze der modernen europäischen Reformpädagogik, die al-Banna für kompatibel mit den Grundsätzen islamischer Erziehung hielt. Nach diesem Vorbild entstanden die ersten Zweigstellen der Bruderschaft im östlichen Nildelta, die nach Möglichkeit auch kleine Betriebe wie Textil- oder Teppichwebereien unterhielten.
Abzeichen "wie im Judoverein"
Dank der von al-Banna meist in den Schulferien unternommenen ausgedehnten Missionierungsreisen durch das Land konnte die Bruderschaft nach seinem Umzug nach Kairo 1932 noch weiter expandieren und auch eine eigene Zeitschrift veröffentlichen.
Mit dem kontinuierlichen Wachstum der Organisation, der als Wohltätigkeitsverein jede politische Aktivität untersagt war, ging die Straffung ihrer Strukturen einher. Als "Oberster Führer" mit umfassenden Vollmachten wachte al-Banna nun über die Mitglieder, die in drei Kategorien und zehn Ränge unterteilt wurden - "mit je", so Gudrun Krämer, "eigenen Pflichten und Abzeichen, die sie, fast wie im Judoverein, auf den ersten Blick identifizierbar machten".
Die Assoziation zum Sport ist nicht nur ironisch gemeint, denn wie die Verfasserin veranschaulicht, wurde körperliche Ertüchtigung bei den Muslimbrüdern großgeschrieben. Besonders mit der eigenen Pfadfinderorganisation habe die Bruderschaft am vom Westen beeinflussten Männlichkeitskult partizipiert, ihn zugleich aber islamisch umgedeutet: Für al-Banna sei auch schon der Prophet Muhammad eine Art Pfadfinder gewesen.
Als Ägypten unter den Einfluss des Faschismus geriet und die Jugendkultur paramilitärische Züge annahm, wurden auch die Muslimbrüder davon erfasst. Al-Banna allerdings positionierte sich eindeutig als Gegner faschistischer und rassenbiologischer Ideologien: Die Muslimbrüder förderten kein auf Rasse oder Hautfarbe gegründetes Gefühl der Zusammengehörigkeit, sondern riefen zur gerechten Brüderlichkeit unter den Menschen auf.
Zwar waren damit auch Nichtmuslime gemeint, aber unter dem Druck wachsender politischer Spannungen im Land, wo ebenso laut nach nationaler Unabhängigkeit wie nach Islamisierung gerufen wurde, markierten bald auch die Muslimbrüder - als Teil ihrer Kampagne gegen die "zionistische Weltverschwörung" in Palästina und deren vermeintliche Helfer - die ägyptischen Juden als Feind. Die Kampagne, die in dem Buch etwas zu kurz kommt, gipfelte schließlich in der Entsendung freiwilliger Kämpfer nach Palästina im israelisch-arabischen Krieg von 1948.
Offene Rebellion gegen den "Obersten Führer"
Die Versuche einiger Weggefährten al-Bannas, bei Parlamentswahlen zu kandidieren - er selbst dachte laut über eine Kandidatur nach, obwohl er im Namen der islamischen Einheit für eine Auflösung aller Parteien eintrat -, scheiterten.
Obgleich die Muslimbruderschaft während des Zweiten Weltkriegs dank der Unterstützung sympathisierender Politiker einen rasanten Aufschwung erlebte und schätzungsweise schon mehrere Hunderttausend Mitglieder hatte, bekam sie auch erste Risse. Den allmählichen Kontrollverlust des "Obersten Führers", gegen den intern offen rebelliert wurde, führt die Autorin auf seine uneinheitliche Linie zurück. So habe al-Banna mal zum Dschihad, mal zur Besonnenheit aufgerufen und sich auch zur Frage der Durchsetzung der islamischen Gesetzgebung widersprüchlich geäußert: 1936 die kanonischen Körperstrafen (hudud) bejaht, 1948 dann wieder abgelehnt. Ambivalent war auch seine Haltung zum Terrorismus, dem er schließlich selbst zum Opfer fiel.
Gudrun Krämers quellengesättigte Studie erlaubt nun einen weit differenzierteren Blick als bisher auf die Muslimbruderschaft und dessen Gründer. Zu wünschen wäre noch der eine oder andere Hinweis gewesen, wie die Muslimbrüder und verwandte islamische Bewegungen Hasan al-Bannas Erbe heute pflegen.
© Qantara.de 2022
Gudrun Krämer: Der Architekt des Islamismus. Hasan al-Banna und die Muslimbrüder. Reihe: Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. 528 Seiten, 34 Euro.
Lesen Sie auch:
Interview mit Gudrun Krämer zu Islam und Gewalt
Muslimbruderschaft in Ägypten: Abrechnung mit den Muslimbrüdern
Arabische Debatte über Religion und Säkularismus: Keine Kollision mit religiösen Werten