Universitäten müssen Räume für den Dialog bleiben
Seit dem 7. Oktober ist dieser Balanceakt auch für die Konflikt- und Gewaltforschung schwieriger geworden. Gleichzeitig scheint es wichtiger denn je, den polarisierenden und entmenschlichenden Debatten, die momentan einen neuen Höhepunkt erreichen, mit wissenschaftlicher Expertise und analytischer Ruhe entgegenzutreten.
Denn diese zeichnen ein falsches Bild der Konfrontationen in Israel und Palästina als einem globalisierten Konflikt, der im Wesentlichen zwischen zwei antagonistischen Lagern geführt wird: Das eine Lager nimmt Israel vor allem als Symptom und Repräsentantin einer kolonialen und imperialistischen westlichen Politik in der Region wahr und deutet den Widerstand hiergegen als legitimen Akt der Befreiung.
Das andere Lager betont vor allem den demokratischen Charakter des israelischen Staates in einer von Autokratien geprägten Region und sein uneingeschränktes Recht auf Selbstverteidigung gegen existenzielle Bedrohungen.
Obgleich diese binäre und essentialistische Lesart derzeit Konjunktur hat, wird sie weder der Komplexität der Konfliktkonstellationen im Nahen Osten gerecht noch der Diversität der Stimmen in der Wissenschaft: Zahlreiche fundierte Analysen zu den eskalierenden Gewaltdynamiken stellen jegliche Dichotomien in Frage. Universitäten sind weiterhin Heimat einer Vielzahl an nuancierten Positionen.
Lagerdenken und polarisierende Debatten
Kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, insbesondere im oder aus dem Globalen Süden, tun sich seit dem Ausbruch der Kämpfe immer wieder mit Versuchen hervor, mit ihrem Erfahrungswissen und ihrer Expertise analytische Tiefe und Ruhe in eine oberflächliche und mitunter gewaltvolle öffentliche Debatte zu bringen.
In wenigen Ländern werden diese Stimmen der Vernunft indes so deutlich zwischen polarisierenden Diskurslogiken aufgerieben und an den Rand gedrängt wie in Deutschland. Lagerdenken und wiederholte öffentliche Aufrufe, eine von angeblich zwei Seiten im Gaza-Krieg zu unterstützten haben ein Spannungsfeld abgesteckt, in dem sich auch Wissenschaftler derzeit bewegen.
Ein deutscher Kriegsdiskurs
Wie über die Gewalteskalation in Israel und im Gazastreifen gesprochen wird, folgt in vielerlei Hinsicht einer bekannten strukturellen Dynamik von Diskursen in Kriegszeiten.
Ungekannte Herausforderungen
So wie die Gewalteskalation in Nahost inzwischen ein seit Jahrzehnten beispielloses Ausmaß erreicht hat, so wie das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza mittlerweile allen Vergleichen trotzt, so hat auch die Lage an deutschen Universitäten eine neue Dimension erreicht.
Wissenschaftler, die Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung bekunden, Kriegsverbrechen israelischer Streitkräfte benennen oder schlichtweg die aktuelle Gewalteskalation in einen historischen Kontext setzen, werden in alarmierendem Maß von Veranstaltungen ausgeladen und von öffentlichen Plattformen verdrängt.
Die Anzahl der Forschenden, die bereit sind, sich durch eigene Beiträge zu exponieren, hat ebenfalls rapide abgenommen – gerade auch unter den Expertinnen und Experten, deren Stimmen die öffentliche Debatte stark bereichern könnten. Viele begründen ihre Enthaltung mit fehlendem Fachwissen.
In der Tat ist an deutschen Universitäten empirisch fundierte Regionalexpertise zu Israel und Palästina ebenso spärlich gesät wie palästinensische oder israelische Professorinnen und Professoren. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass das beschriebene Spannungsfeld das Thema Naher Osten seit Jahren zu einem heißen Eisen macht, von dem viele lieber gleich die Finger lassen.
Gleichzeitig waren Wissenschaftler bei anderen Themen selten so zurückhaltend wie jetzt beim Gaza-Krieg, sich auf der Grundlage ihrer – letztlich immer fachlich begrenzten – Kompetenz kritisch zum Konfliktgeschehen zu äußern. Die Schwelle wurde wohl selten so hoch angesetzt.
Darüber hinaus äußern sowohl jüdische als auch arabische Studierende zunehmend Unbehagen auf dem Campus und fühlen sich aufgrund ihrer Identität oder politischen Einstellung bedroht. Inmitten wachsender Spannungen haben auch die Konfrontationen zwischen pro-palästinensischen und pro-israelischen Studierendengruppen stark zugenommen.
Sie gipfelten zuletzt in einer Reihe von Anfeindungen und Auseinandersetzungen während Solidaritätsdemonstrationen sowohl auf dem Campus als auch außerhalb. So kam es zu einem brutalen Überfall auf einen prominenten jüdischen Studenten und Aktivisten in Berlin.
Diese Eskalation politischer Differenzen stellt Universitäten, deren Kernauftrag es ist, Orte der freien Meinungsäußerung zu gewähren, vor ein Dilemma in der Frage, wie sie mit Demonstrationen auf dem Campus umgehen sollen. Immer mehr Hochschulverwaltungen sehen sich, dazu veranlasst, Proteste auf ihrem Gelände zu unterbinden, auch aufgrund ihrer Sorge, Studierende nicht angemessen vor verbalen oder physischen Übergriffen schützen zu können.
Viele Veranstaltungen, die einen Bezug zum Gaza-Krieg oder dem Nahost-Konflikt haben, werden aus ähnlichen Gründen abgesagt oder bezeichnenderweise auf die unbestimmte Zeit nach Ende des Krieges in Gaza verschoben. Die Auswirkungen auf die akademische Debatte sind verheerend.
Kritische Diskussionen - lieber nicht im Rampenlicht
Nun ist es nicht so, als fänden an akademischen Einrichtungen derzeit keine Debatten statt. Im Gegenteil, es gibt sie und gab sie immer – auch vor den Massakern am 7. Oktober. Doch haben sich viele Diskussionen, im Gegensatz zum Zeitraum davor, in gegenhegemoniale und subalterne Räume verlagert.
Aus Sorge vor Vorverurteilung oder Stigmatisierung bei der Erörterung kontroverser Positionen, die in der gegenwärtigen Medienöffentlichkeit kaum vertreten sind, findet ein großer Teil der kritischen Diskussionen derzeit außerhalb des Rampenlichts statt.
Besonders auf Konfliktforscher wirkt die Sorge, zu schnell politisch eingeordnet oder falsch interpretiert zu werden, stark abschreckend. Dabei wären sie mit ihrem umfassenden Wissen um die Bedingungen und Auswirkungen genozidaler Gewalt eigentlich prädisponiert dafür, den öffentlichen Diskurs mitzuprägen.
Diese Sorge, missverstanden zu werden, ist umso größer unter Wissenschaftlern muslimischen Glaubens oder mit einem arabischen Familienhintergrund. Sie werden seit dem 7. Oktober konsequent in die unangenehme Position gebracht, sich deutlich von den Taten der Hamas zu distanzieren zu müssen, bevor ihnen Expertise zuerkannt wird und sie als autoritative Sprecher akzeptiert werden.
Solche Aufrufe bringen viele Forschende in eine Zwickmühle: Im Gegensatz zur stark verzerrenden Darstellung einiger Medien rechtfertigt hierzulande zwar kaum jemand die Massaker vom 7. Oktober als Akte der Befreiung.
Kolleginnen und Kollegen aller Disziplinen verurteilen die Hamas-Angriffe als das, was sie sind: Terrorakte. Die an sie herangetragene Forderung, als Muslime oder Araber öffentlich Stellung zu beziehen, unterstellt aber, dass diese Verurteilung keine Selbstverständlichkeit ist.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden dadurch als potenziell verdächtige Personen markiert, anstatt als Forscher mit Fachkenntnissen zum Thema. Von dieser Ausgrenzung können sie sich nur durch ein öffentliches Bekenntnis befreien. Weil viele diesen impliziten Loyalitätstest ablehnen, äußern sie sich lieber gar nicht.
Empathie für verschiedene Gemeinschaften gleichzeitig
Doch auch jenseits arabischer oder muslimischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zögert eine wachsende Zahl von Forschenden, sich der dualistischen Logik einer medialen Öffentlichkeit zu beugen. Diese vereinfacht den Konflikt in Gaza auf trügerische Weise zu einer Konfrontation zweier Seiten und reduziert damit sowohl die moralische als auch empirische Komplexität und Vielschichtigkeit.
Denn weder Krieg noch Empathie sind Nullsummenspiele. Im Gegenteil: Bewaffnete Gewaltdynamiken sind gerade dadurch charakterisiert, dass in ihnen unterschiedliche Gemeinschaften gleichzeitig leiden und trauern, oft auf ähnliche – auf eine menschliche – Art und Weise.
Damit kann auch Empathie für und Solidarität mit verschiedenen Gemeinschaften gleichzeitig miteinander koexistieren. Diese sind auch nicht notwendigerweise konsistent, insbesondere nicht im Zeitverlauf: Wir fühlen uns auf ganz natürliche Weise zu unterschiedlichen Konfliktzeitpunkt mit unterschiedlichen Menschen unterschiedlich stark verbunden.
Wir leiden und trauern mal mehr und mal weniger mit von Gewalt betroffenen Menschen. Manchmal bringt uns das Wissen über Ungerechtigkeit und menschliches Leid dazu, öffentlich zu intervenieren, Zeugnis abzulegen, Solidarität zeigen - manchmal bewältigen wir unsere Fassungslosigkeit, indem wir herunterfahren und uns emotional oder diskursiv abschotten.
Trauer manifestiert sich in unterschiedlichen Formen, auch Passivität und Rückzug gehören dazu. Die Interpretation von Schweigen und Abwesenheit von öffentlichen Diskursen als stille Unterstützung für die eine oder andere Konfliktpartei – wie verschiedentlich über die vergangenen Wochen geschehen – blendet diese Vielschichtigkeit menschlicher Reaktionen aus. Sie reduziert soziale Realität auf ein "mit uns oder gegen uns", welches polarisierende Konfliktmuster weiter zementiert. Vor allem wertet sie aber all jene Stimmen ab, die eine Hierarchisierung von Opfern zutiefst ablehnen – entweder ganz instinktiv oder im Rahmen ihrer Rolle als Forschende.
Darüber hinaus steht die Forderung, sich zu einer Seite zu bekennen, auch im Widerspruch zum Bemühen um analytische Ruhe und Differenzierung, die essenzieller Bestandteil der akademischen Jobbeschreibung sind (oder zumindest sein sollten). Tatsächlich entzieht sich die Position vieler Konflikt- und Gewaltforscher schlichtweg dichotomen Konfliktdefinitionen. Ebenso steht es um die Beschreibung eines konkreten Ereignisses als ohne Vergleich in der Geschichte.
Es ist gerade aufgrund ihres Wissens um die Vergleich- und Kontextualisierbarkeit der Gewalt in Gaza, dass die Stimme der Friedens- und Konfliktforschung so schmerzlich vermisst wird in der öffentlichen Debatte. Zwar gibt es eine berechtigte Sorge, dass die Kontextualisierung von Gewalt dazu verwendet werden kann, diese zu legitimieren.
Gleichzeitig ist es unter Gewaltforschern – unabhängig von ihrer epistemologischen und normativen Verortung in Debatten zu Widerstand, Radikalisierung und politischer Gewalt – unstrittig, dass die Blockade des Gazastreifens sowie frühere Konfrontationen zwischen palästinensischen Organisationen und der israelischen Armee einen entscheidenden Kontext bilden, in dem die Hamas entstanden und gewachsen ist. Dieser Kontext ist entscheidend, um die aktuelle Gewalteskalation zu verstehen.
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Vergleichen "leugnet nicht die historische Singularität"
Verstehen, Anerkennen und Erklären bedeutet indes nicht, die Folgen zu rechtfertigen. Es bedeutet auch nicht, Gräueltaten zu verteidigen oder zu beschönigen. Doch um die Reichweite des aktuellen Moments zu erfassen, müssen wir die ihm zugrunde liegenden und teils gut erforschten Konfliktdynamiken und Gewaltlogiken benennen.
Es gilt dabei die Einzigartigkeit der Exzesse vom 7. Oktober zu analysieren, ebenso wie die spezifische Dimension der Gewalt, der die Menschen in Gaza ausgesetzt sind. Gleichzeitig müssen wir diese aber auch mit Erkenntnissen aus anderen Gewaltkonflikten in Beziehung setzen, sie gewissermaßen vergleichbar machen, um informierte Analysen darüber treffen zu können, worauf dieser Krieg zusteuert und was noch kommen mag.
Der Akt des Vergleichs leugnet nicht die historische Singularität des aktuellen Moments. Er zeigt nur: Was derzeit geschieht, ist in vielerlei Hinsicht nicht außergewöhnlich und unbeschreiblich. Tatsächlich ist es eher der Regelfall, dass extremistische Ideologien im Kontext von Unterdrückung und Marginalisierung gedeihen, dass Besatzung und Entrechtung gewaltbereite Akteure hervorbringen, die sich durch asymmetrische Kriegsführung Einfluss verschaffen.
Weder ist es außergewöhnlich, dass diese Akteure durch schockierende Aktionen eine massive Gegenreaktion zu provozieren suchen, noch dass sie bereit sind, enormes Leid der eigenen Bevölkerung in Kauf zu nehmen, solange dies ihre Position stärkt.
Umgekehrt ist es keine Seltenheit, dass auch demokratische Staaten im Namen der Aufstandsbekämpfung ihre liberalen Werte verraten und völkerrechtliche Verpflichtungen verletzen.
Auch zu kritischen Wendepunkten, wie dem Massaker am 7. Oktober gibt es viele historische Parallelen. Der entscheidende Einfluss einzelner transformativer Gewaltereignisse auf Konfliktverläufe ist gut erforscht.
Prominente Beispiele sind das Bloody Sunday-Massaker in Nordirland oder das Rabaa-Massaker in Ägypten. Derartige Ereignisse werden begleitet von moralischen Schocks, welche oft die ganze Gesellschaft erfassen und dabei auch ehemals konfliktscheue Menschen mobilisieren – oft auch für politische "Lösungen", die mit einem Level an Brutalität einhergehen, das zuvor noch undenkbar schien.
Solch moralische Schocks stärken dabei insbesondere Extremisten, die die Unsicherheit des Moments nutzen, um ihre Agenda voranzutreiben – ein Effekt, der sich aktuell einerseits in den Umfragen aus Palästina widerspiegelt, die einen deutlichen Zuwachs an Unterstützung für die Hamas belegen, andererseits aber auch in Israel, wo eine erstarkende Siedlerbewegung und rechtsextreme Politiker mittlerweile ganz offen den völkerrechtswidrigen Wiederaufbau illegaler Siedlungen im besetzten Gazastreifen befürworten.
Den Horizont des Denkbaren verschoben
Wie andere Fälle von Massengewalt hat auch der 7. Oktober den Horizont des Denkbaren und Möglichen verändert und die Grenzen der Gewalt, zu deren Ausübung die Konfliktparteien bereit sind, und des menschlichen Leids, das sie dabei tolerieren, entscheidend verschoben. Nochmal: Solche Parallelen zu früheren kritischen Wendepunkten hervorzuheben leugnet nicht die Einzigartigkeit des aktuellen Moments.
Es relativiert oder mindert auch nicht das erfahrene Leid – der Menschen in Gaza, der Familien der Geiseln – als nur eine weitere in einer langen Reihe ähnlicher Tragödien. Im Gegenteil: Es ermöglicht uns, die Ermordung, Ausgrenzung, Stigmatisierung, Verfolgung oder Vertreibung von Menschen sowie deren Effekte differenziert und unvoreingenommen zu betrachten und dabei eine Hierarchisierung von Gewaltopfern zu vermeiden. Dies ist besonders relevant in Deutschland.
Wie Jürgen Zimmerer kürzlich im Qantara-Interview bekräftigt hat, braucht es keine Diskussion darüber, ob wir Lehren aus der Geschichte ziehen, sondern welche Lehren. Mit anderen Worten: Es gilt nicht zu fragen, ob vergangene genozidale Verbrechen einzigartig waren. Sie waren es zweifellos. Eine sinnvollere Frage ist dagegen, was wir aus ihnen lernen können, um ein besseres Verständnis für die Brutalität und das unfassbare Leid zu entwickeln, das sich derzeit vor unseren Augen abspielt.
Es braucht geschützte Räume
Universitäten müssen sichere und geschützte Räume zur Beantwortung dieser Frage bieten und Wissenschaftler vor dem Druck verteidigen, sich einer unzulänglichen dichotomen Konfliktlogik zu beugen. Sie müssen sich als sichere und gefestigte Plattformen für Dialog verstehen, von der aus Forschende - auch mit kontroversen Positionen - an öffentlichen Debatten teilnehmen können.
Universitäten müssen Bedingungen schaffen, unter denen sich Konfliktforscherinnen und Konfliktforscher an ihren Heimatinstitutionen sicher fühlen und Gewaltdynamiken wie den Krieg in Gaza einordnen können, ohne beschuldigt zu werden, diese zu legitimieren. Sie müssen Strukturen zur Unterstützung – emotionaler, kommunikativer und rechtlicher Art – bereitstellen, die es Forschern jeden demografischen Hintergrunds, jeder affektiven Disposition und politischen Haltung ermöglichen, ihre wissenschaftlich begründeten Ansichten auszudrücken.
Andernfalls reproduzieren sie eben jene epistemische Gewalt, die in den letzten Monaten eine diskursive Schließung gegenüber kritischen Stimmen bewirkt und die Öffentlichkeit fast vollständig von kritischen Interventionen isoliert hat.
Es ist jedoch nicht genug, die strukturellen und kulturellen Voraussetzungen für einen produktiven Diskurs zu schaffen. Wissenschaftler müssen die ihnen zur Verfügung stehenden Räume auch proaktiv nutzen und bewusst dem Druck einer politischen Parteinahme widerstehen. Wissenschaftliche Integrität bedeutet in diesem Kontext, sich unbequemen Wahrheiten zu stellen und diese zu thematisieren – unabhängig davon, ob und welche Konfliktparteien hiervon profitieren könnten.
Dieser Anspruch heißt indes nicht, dass unterschiedliche Interpretationen der Zerstörung von Gaza und des durch den israelischen Militäreinsatz verursachten Leids aus akademischen Diskursen verbannt werden sollten. Im Gegenteil. Wir müssen die Vielfalt an Erfahrungen und darauf fußenden Normativitäten ernst nehmen und uns fragen, ob unsere eigene Positionierung uns nicht für unterschiedliche Wahrnehmungen der sozialen Realität blind macht und uns – möglicherweise – einige der gewalttätigsten Formen von Herrschaft und Unterdrückung unserer Zeit nicht erkennen lässt. Die Universität ist der Ort für diese kritischen Reflexionsprozesse. Und wir alle müssen sicherstellen, dass er es bleibt.
Jannis Julien Grimm
© Qantara.de 2024
Dr. Jannis Julien Grimm forscht an der Freien Universität Berlin zu Dynamiken von Gewalt und Widerstand mit dem regionalen Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika. Er leitet die Forschungsgruppe "Radical Spaces" am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung, die sich mit der Wechselwirkung von Gewalterfahrung und sozialer Mobilisierung im Kontext von Massenprotesten und den Wirkungsbedingungen von radikalen Protestformen befasst. Darüber hinaus ist er Wissenschaftler am Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) und Teil der Redaktion des Forschungsjournals Soziale Bewegungen. Von ihm sind erschienen: "Safer Field Research in the Social Sciences", SAGE 2020 und "Contested Legitimacies", Amsterdam University Press 2022