Versäumnisse türkischer Intellektueller und Literaten

Bis auf wenige Ausnahmen ist türkische Literatur in Deutschland weitgehend unbekannt. Liegt es an der Funktion von Literatur in der Türkei oder an den verarbeiteten Stoffen?

Von Achim Martin Wensien

Trotz unbeschränkt vorhandener Möglichkeiten und Freiheiten, fremde Literaturen unter Lesern bekannt zu machen, ist ein Produktions- und Rezeptionsmangel der türkischen Literatur im deutschsprachigen (und nicht nur in diesem westlichen) Raum festzustellen.

Ausgenommen sind dabei Werke von Autoren, die in Deutschland mit Preisen bedacht wurden. So etwa Yasar Kemal, der 1997 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Ansonsten ist die Bedienung eines breiteren Leserinteresses mit türkischer Literatur kaum zu erkennen.

Die wenigsten Autoren aus der Türkei schreiben in deutscher Sprache, und kein Verlag riskiert allein aus enthusiastischen Gründen den großen Aufwand, um türkischsprachige Werke übersetzen zu lassen und zu publizieren.

Eine Ausnahme macht da der Zürcher Unionsverlag. Ihm ist es immerhin gelungen, mit dem Istanbuler Krimiautor Celil Oker eine Nische in der Krimiliteratur zu besetzen, eine Reihe von Istanbul-Krimis ganz in der Tradition der Städte- oder Regionalkrimis, die seit Jahren die Leserschaft ansprechen. Hier bewirkt die Mischung von für mitteleuropäische Leser orientalisch-exotisch anmutender Umgebung, gepaart mit spannenden Handlungen, nachhaltiges Interesse.

Jedoch scheinen diese Tatsachen kaum ausreichend, um den bestehenden Mangel an türkischsprachiger Literatur auf dem Buchmarkt des deutschen Sprachraums zu erklären. Selbst die große Anzahl in Deutschland lebender Türken bietet keine Gewähr dafür, die originäre türkische Literatur hierzulande zu verbreiten - auch die in der dritten Generation im deutschsprachigen Raum lebenden Türken werden kaum türkische Literatur lesen, und wenn, dann kaum in der deutschen Übersetzung.

Was ist das, türkische Literatur?

Aber was ist mit der originären türkischen Literatur gemeint? Es ist eine Literatur "mit eigener Ästhetik und mit eigenem Gedächtnis", mit Bezug auf literarische Werke, die in der Türkei oder, etwas weiter gesehen, im Migrationsprozess türkischer Migranten entstehen.

Aber worin besteht diese eigene Ästhetik und dieses eigene Gedächtnis, die das Rückgrat aller Literatur ausmachen, also auch das der türkischen sein sollten?

Im Vergleich mit der klassischen Weltliteratur erfüllt Literatur in der Türkei nicht die Funktion, Vorbild, Inspirationsquelle oder Wissenschaftsgegenstand zu sein. Hier geht die Literatur fast ausschließlich zwei wesentlichen Funktionen nach - die außerhalb der Türkei wegen der fehlenden Bezugspunkte kaum Interesse finden: die der Identitätspflege und -stiftung und die des Politikersatzes bis hin zur Literatur als ideologischer Waffe, und das alles stets in engen Bezug zur türkischen Gesellschaft gestellt.

An diesen Funktionen hat sich seit dem Beginn der Modernisierungsdiskussion im 19. Jahrhundert über die Ära Kemal Atatürks bis zur Schwelle des EU-Beitritts und der Diskussion darüber kaum etwas geändert. Was also für die Weltliteratur als Ziel ausfindig gemacht werden kann und bereits am Ende der Aufklärung erfüllt wurde, gilt in der Türkei bis heute weitgehend als Selbstzweck.

Das Militär als Hüter des Gedankenguts

Die Ausprägung dieses Denkens und Handelns hat man stark in den Jahren 1960, 1971 und 1980 am Beispiel der Militärinterventionen in die türkische Politik erlebt, die für Künstler und Literaten stets Inhaftierung, Einschränkungen und Publikationsverbote bedeuteten.

Es ist ein Teufelskreis: das Militär führte als Erbe der Hüter des Gedankengutes von Kemal Atatürk und im Namen des Anschlusses an die Modernität Übergriffe aus, wobei schließlich diese angeblichen "Revolutionen" ihre Erfinder verzehrten.

Kaum vorstellbar, dass unter solchen Bedingungen der geistigen Unfreiheit Künstler und Literaten angstfrei und ohne Vorurteile existieren und arbeiten konnten und zum Teil bis heute können. Taten sie es dennoch und blieben dort, neigte man, - am meisten die Zunft der Schreibenden selbst - dazu, diese Zeitgenossen zu mystifizieren.

Solche Biographien wurden geradezu inszeniert: War ein Autor literarisch und ästhetisch nicht kraftvoll genug und wurde auch nicht bekannt, ließ ein märtyriumsverdächtiger Umweg den Bekanntheitsgrad erhöhen, was in der Regel die Medien, aber auch die Verlagsökonomen geschickt einzusetzen wussten und wissen.

Die Folgen sind verheerend. In der Türkei ist eine Literatur entstanden, die kaum selbstreferenzielle Strukturen besitzt. Zum Beispiel gibt es bis heute kaum eine ernst zu nehmende Kritikerzunft, in der auch kaum moralische Regeln existieren, um solche Autoren zu reglementieren, die nicht sachlich agieren.

Gegenbeispiel: Orhan Kemal

Nun könnte man sagen: Jedem Publikum seine Autoren! In der Türkei konnten im Bereich der Literatur und der Künste insgesamt keine bahnbrechenden Werke entstehen, die Weltgeltung erlangen konnten. Hinter denen, die bekannt wurden, standen massive politische und ideologische Interessen, in den seltensten Fällen die Leserschaft.

Ein seltenes Gegenbeispiel ist der Autor Orhan Kemal, dessen Werk "Cemile" - erstmals veröffentlicht 1952 - in der Türkei im Oktober 2004 mit 110.000 Exemplaren neu aufgelegt und - laut Auskunft des Sohnes - innerhalb eines Monats gänzlich verkauft wurde.

Orhan Kemal hatte während seines Lebens (1914-1970) Armut ertragen, dazu noch Verleumdungen und Kritik aus der Autorenzunft, und setzte dem entgegen: "Kritisiert und schimpft mich aus, ich habe meine Leser".

Orhan Kemal, nicht zu verwechseln mit dem Bestsellerautor Yasar Kemal, ist der Prototyp eines professionellen Autors, der die zwei vordergründig wesentlichen Funktionen eines türkischen Literaten nicht erfüllte, identitätsstiftend zu sein und als politische Waffe zu dienen.

Warum wird der hierzulande nicht gelesen? Die saloppe Antwort: Er ist kaum übersetzt, wenn man von einem Randereignis im Jahr 1979 absieht, als sein Werk "Murtaza oder Das Pflichtbewusstsein des kleinen Mannes" einmal in deutscher Übersetzung aufgelegt wurde.

Aber warum wird dieser Autor nicht weiter übersetzt? Wahrscheinlich weil er dem typischen Literatur-Mainstream der Türkei nicht entsprach und nicht entspricht, wenn auch manchmal die Leser ein Buch anders rezipieren als es vom Literaturbetrieb beabsichtigt oder erwartet wird. Auch das gehört zu den Unwägbarkeiten des Literaturmarktes.

Das Publikationsverhalten im deutschsprachigen Raum

Die wichtigsten Gründe für die geringe Entwicklung und Bekanntheit der türkischen Literatur in Westeuropa und vor allem im deutschsprachigen Raum sind im Denken und Handeln beziehungsweise in den Versäumnissen türkischer Intellektueller und Literaten zu finden. Ästhetisch ist es ihnen viel zu wenig gelungen, lesens- und begehrenswerte Stoffe zu verarbeiten.

Darunter ist freilich nicht zu verstehen, dass die deutschsprachige Leserschaft in den Werken türkischer Herkunft, soweit sie übersetzt worden sind, das beschriebene Bild des Landes und seiner Menschen ersehnt. Dafür gibt es Reiseberichte und hierzulande zu viele Türken, die eines besseren belehren würden.

Die Leserschaft will von dem Autor einen übertragenen Sinn erfahren, das heißt etwas über sich selbst erfahren, als Leser und Mensch im Menschenbild des Autors, das er in seinen Werken gestaltet. Das kann zwar große Literatur, aber die heutige türkische Literatur kann es nicht einlösen - weil sie von anderen Voraussetzungen der Funktion von Literatur ausgeht.

Die Frage der Literatur mit Weltgeltung besteht eben nicht vordergründig darin, was Deutsche, Franzosen, Engländer oder Türken unterschiedliches denken und als Menschen besser als andere können, sondern was sie aus den Erfahrungen ihres Lebens in Literatur umzusetzen in der Lage sind, uns also davon zu erzählen, wie Leben und Erfahrungen exemplarisch für uns, die Leser, gemalt werden.

Was macht Migrationsliteratur lesenswert?

In Deutschland ist schließlich eine Art von Exilliteratur entstanden, die die ästhetischen und inhaltlichen Probleme, welche die türkische Literatur mit sich bringt, ebenfalls zumeist nicht überwunden hat. Was sind wir, wer sind wir? Dies sind noch immer die vorherrschenden Fragen, die in der Migrationsliteratur gestellt werden.

Es liegt auf der Hand, dass das Interesse für solche Literatur von politischen Ereignissen und Großwetterlagen zwischen Asien und Europa bestimmt wird, dass also weniger ästhetische Gründe ihre Akzeptanz hervorrufen.

Man wird von der Zukunft einer Migrationsliteratur nur dann sprechen können, wenn sie sich gänzlich in einer "Literatur der Ankunft" auflöst. Es gab und gibt Beispiele, bei denen der Hauptakzent auf der "Betroffenheit" der Autoren durch innere und äußere Ereignisse im Zusammenhang mit der Migration liegt.

Aber Literatur kann nicht auf Dauer von der Betroffenheit existieren, wenn auch ohne "ihre Spuren", unabhängig von der Art und Qualität der Betroffenheit, letztlich kein Gefühl entwickelt und artikuliert werden kann. Aber nur Betroffenheit reicht nicht aus.

Vor allem ist in der modernen Tradition der Vermarktung von Gefühlen und umgekehrt ihrer Erpressung bei den Lesern etwas enthalten, was das Wesen dieser Betroffenheit relativiert. Sie wird beliebig austauschbar, und zur Steigerung der Aufmerksamkeit scheuen sich oftmals weder Autoren noch Verlage oder Medien davor, ins Peinliche abzugleiten oder diese Gefühlsvermarktung bombastisch zu inszenieren.

Als Stoff der Migrationsliteratur wäre die Entdeckung der bewegenden Momente in der Betroffenheit einer Gesellschaft zu erwarten, eines Gemeinwesens, in dem der Autor sich als Fremder, Außenseiter zu artikulieren weiß. Gefühlsaffinität und -homogenität mit den großen gegenwärtigen Fragen der Gesellschaft und damit der Leserschaft wären ein zuverlässiger Gradmesser für eine "angekommene Migrationsliteratur".

Uli Rothfuss, Achim Martin Wensien

© Qantara.de 2005

Uli Rothfuss, Prof. für Poetik und Angewandte Kulturwissenschaft, Internationale Hochschule Calw. Achim Martin Wensien, in der Türkei geboren und aufgewachsen, an der Universität Hamburg studierter Diplom-Soziologe, als freier Autor tätig.

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