Ein Busunfall als Prisma der Besatzung
Ab dem ersten Satz begleitet die Lesenden von „Ein Tag im Leben von Abed Salama” der tragische Unfall eines palästinensischen Schulbusses, der die Leben dutzender Familien für immer verändern wird. Während der fürsorgliche Vater Abed noch am Vorabend mit seinem Sohn Milad Süßigkeiten für den Kindergartenausflug einkauft, sucht er weniger als 24 Stunden später verzweifelt in den umliegenden Krankenhäusern nach dem Fünfjährigen. Dabei schwindet die Hoffnung, dass sein Kind überlebt hat.
Der Unfall, von dem Nathan Thrall in seinem nun auch auf Deutsch erschienenen Buch erzählt, ereignete sich im Februar 2012. Ausflugsziel der palästinensischen Kinder war ein Spielplatz in der Westbank. Der Bus kam aus der im Großraum Jerusalem liegenden, von einer meterhohen Mauer eingeschlossenen und seit 1967 teilweise von Israel annektierten Gemeinde Anata in Ostjerusalem. Obwohl die Bewohner:innen Anatas in Jerusalem Steuern zahlen, erhalten sie kaum staatliche Dienstleistungen. Die Infrastruktur ist gefährlich marode und Spielplätze gibt es – wie so vieles – nur in der Westbank oder im anderen Teil Jerusalems, jenseits der Mauer.
Den Verkehr zwischen der Westbank und dem Großraum Jerusalem reglementiert ein labyrinthisches System von israelischen Checkpoints, die Palästinenser:innen anhand einer Reihe von Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Geburtsort die Durchfahrt im Zweifelsfall verbieten. So auch den Kindergartenkindern im Buch von Nathan Thrall. Der Bus fuhr daraufhin auf Umwegen zu einem Spielplatz in der Westbank, über sanierungsbedürftige, kaum gesicherte Straßen. Unterwegs kollidierte er bei schlechtem Wetter mit einem Sattelschlepper, kippte um, fing Feuer. Sechs Kinder und eine Lehrerin starben.
Mehr als ein tragischer Unfall
Was zunächst wie ein gewöhnlicher – wenngleich tragischer – Unfall erscheint, der angesichts des Ausmaßes der Krisen in Israel/Palästina kaum für internationale Aufmerksamkeit sorgen sollte, ist mehr als das bloße Zusammenspiel unglücklicher Zufälle und menschlichen Versagens. Thrall spricht von strukturellen Gründen für das Desaster: Israels bewusste infrastrukturelle Unterentwicklung von Ostjerusalem, die zunehmende Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Palästinenser:innen durch die sogenannte Sperranlage und die Checkpoints, die daraus resultierende tägliche Schikane und kafkaeske Bürokratie, kurz: die Auswirkungen der seit 1967 andauernden israelischen Besatzung.
Für Thrall wird die Tragödie zum Prisma, in dem sich die Folgen der Besatzung manifestieren. Doch ist sein erzählendes Sachbuch keineswegs trocken, sondern spannend und empathisch. Über sieben Kapitel charakterisiert Thrall einfühlsam eine Vielfalt palästinensischer und jüdisch-israelischer Protagonist:innen, die auf unterschiedliche Weise in das Geschehen verwickelt sind. Rückblenden beleuchten ihre persönlichen Geschichten, sozialen Beziehungen und ihre Gefühlswelt. Die Personen wirken nahbar, ihre Gefühle verständlich und ihre Handlungen nachvollziehbar. Zugleich beschreibt das Buch sachlich Strukturen, in die die Menschen vor Ort eingebettet sind und die den Busunfall begünstigten. All das mit der Spannung eines Kriminalromans.
Niemand ist einfach gut oder böse
Der jüdische, US-amerikanische Autor und Wahljerusalemer Nathan Thrall, bekannt für analytisch-historische Aufsätze und Bücher wie The Only Language They Understand, war lange Zeit Analyst, unter anderem als Projektdirektor des unabhängigen Think Tanks International Crisis Group mit Fokus auf den arabisch-israelischen Konflikt. Während sich die Situation der Palästinenser:innen angesichts des zunehmenden Siedlungsbaus und wachsender rechtsextremer Tendenzen in der jüdisch-israelischen Bevölkerung weiter verschlechterte, realisierte Thrall, dass die analytisch-sachliche Ebene häufig nicht genügte, um die Ungerechtigkeit der Situation vor Ort begreiflich zu machen. Sein neuestes Buch spricht Lesende nun auch emotional an, ohne dass dies Thralls zugrundeliegende historisch-analytische Perspektive trübt.
Nachdem Thrall die Nachricht über den Busunfall erreichte, begann er, Überlebende und Familienmitglieder aufzusuchen und mit ihnen zu sprechen, besonders mit Abed Salama und seiner Familie. Aus diesen Begegnungen erwuchs 2021 ein Aufsatz in der New York Review of Books, der ebenfalls den Titel „A Day in the Life of Abed Salama” trägt. Der erschütternde Essay erlangte damals bereits große Bekanntheit – und Thrall entschied sich, die Recherchen für ein Buch auszuweiten.
Das Buch zeigt die palästinensischen wie auch die jüdisch-israelischen Charaktere in all ihrer Ambivalenz. Auch Abed Salama ist kein perfektes Opfer: In patriarchalen Verhältnissen aufgewachsen, reproduziert er sie später selbst, teilweise aus egoistischem Eigennutz. In Thralls Sicht auf Palästina/Israel geht es weniger um gute oder schlechte Menschen – (a)moralisch handelnde Menschen gibt es auf beiden Seiten –, sondern um strukturelle Fragen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Sein Buch macht die Folgen der Besatzung und das daraus entstehende Leid einprägsam deutlich.
Deutschen Verlagen war das Buch zu heikel
Die akkurate Beschreibung der Lebensumstände ermöglicht es den Lesenden, das Ausmaß der strukturellen Ungerechtigkeit der israelischen Besatzung intellektuell zu begreifen und emotional nachzuempfinden: durch die Angst palästinensischer Mütter, ihre minderjährigen Kinder für unbestimmte Zeit in israelischen Gefängnissen verschwinden zu sehen; durch den kafkaesken wie demütigenden bürokratischen Alltag der Besatzung; oder durch die schiere Ohnmacht gegenüber der kontinuierlichen, auf Verdrängung von Palästinenser:innen abzielenden Politik.
Vom New Yorker, Economist und der Financial Times als eines der besten Bücher des Jahres 2023 gekürt, fand sich in Deutschland keiner der großen und mittelgroßen Verlage bereit, die deutsche Übersetzung des Buchs zu verlegen. Per Mail erklärte Thrall gegenüber Qantara, dass viele der angefragten Verlage offen zugaben, dass ihnen das Buch politisch zu sensibel sei. Schließlich nahm der beschauliche Bielefelder Verlag Pendragon das Angebot an – trotz einiger Warnungen von Kolleg:innen, Journalist:innen und Medienleuten, dass das Buch in Deutschland kein Interesse wecken würde oder Shitstorms nach sich ziehen könnte.
Günther Butkus vom Pendragon-Verlag betonte gegenüber Qantara, dass es ihm auch darum ging, die Meinungs- und Kunstfreiheit nicht in vorauseilendem Gehorsam zu Grabe zu tragen: „In was für Zeiten leben wir denn, wenn Bücher allein deswegen totgeschwiegen werden, weil irgendwelche Leute, oft ohne wirkliche Kenntnisse von der Materie, dagegen sind?” Dass „Ein Tag im Leben von Abed Salama” im Mai 2024 den Pulitzer-Preis in der Kategorie Allgemeines Sachbuch erhielt, bestätigt Pendragon in der Entscheidung für das Buch – und sollte für das deutschsprachige Publikum ein Ansporn zum Lesen sein.
Als Einstiegslektüre ist das Buch ebenso geeignet wie als Vertiefung, um den in Deutschland wenig bekannten Alltag in der Westbank und Ostjerusalem unter Besatzung kennenzulernen. Wer das Buch liest, ist erschüttert. Damit ist es auch ein Appell an sein Publikum, sich für Gerechtigkeit in Israel/Palästina, ein Ende der Besatzung und die Einhaltung von internationalem Recht auch gegenüber verbündeten Nationen stark zu machen.
Nathan Thrall: Ein Tag im Leben von Abed Salama
Aus dem Englischen übersetzt von Lucien Deprijck
336 Seiten, 26 EUR
Pendragon Verlag, Bielefeld 2024
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