Staatsbürgerschaft und Freiheit – drauf kommt es an!

(Dieser Artikel des syrischen Autors Samir Aita erschien in der ägyptischen Zeitung „Al-Shorouk“)
Seit Jahren dauert das Leid der syrischen Gesellschaft an. Die Resilienz und das Durchhaltevermögen der Syrer:innen sind beeindruckend. In nichts stehen sie den benachbarten Gesellschaften im Libanon und Palästina nach.
Die Syrer:innen meistern den Alltag unter schwersten Bedingungen, obwohl sie kaum Einkommensmöglichkeiten haben. Bis zum Fall Bashar al-Assads am 8. Dezember 2024 verschlechterte sich die Wirtschaftslage gleichermaßen durch internationale Sanktionen, staatliche Willkür, Konflikte und die herrschende Elite.
Die Kraft für ihre Hoffnung, Ausdauer und Resilienz haben die Syrer:innen aus zwei Versprechen gewonnen: Staatsbürgerschaft und Freiheit. Mit Staatsbürgerschaft ist hier die absolute Gleichberechtigung aller Mitglieder der Gesellschaft gemeint, bezüglich aller Rechte und Pflichten – und zwar unabhängig von möglichen Mehrheiten und Minderheiten oder dem Verhältnis der unterschiedlichen „Bestandteile“ der syrischen Gesellschaft zueinander.
Was ist schon unter „Mehrheit“ zu verstehen? Ist es überhaupt möglich, die Interessen einer religiösen oder ethnischen „Mehrheit“ in eine Verfassung zu gießen oder in eine politische Roadmap zu überführen? Kann das Anliegen einer solchen „Mehrheit“ überhaupt homogen sein? Und gibt es nicht wesentliche Unterschiede innerhalb jeder Gruppe, je nach Kultur, intellektueller oder politischer Strömung sowie regionaler Zugehörigkeit?
(Im Gegensatz zu den arabischen Nationalbewegungen, d. Red.) arbeitete die zionistische Bewegung seit der ersten Teilung Palästinas durch die UN 1947 daran, Siedler:innen anzuwerben und die ursprüngliche palästinensische Bevölkerung von ihrem Land zu vertreiben. Ziel war es, schrittweise eine Mehrheit auf dem besetzten Territorium zu stellen.
Zu beachten ist dabei, dass es sich bei den Vertriebenen zumindest zum Teil um Menschen handelte, deren Vorfahren möglicherweise Jüdinnen und Juden waren, später auch Christ:innen, bevor die meisten zum Islam übertraten.
Die Vertreibung diente dazu, dem Land einen jüdischen Charakter zu geben, eine Identität der „Mehrheit“, wodurch nicht-jüdische Menschen nur noch als Bürger:innen zweiter Klasse im Kontext eines rassistischen Apartheidsystems leben konnten.
Im Gegensatz dazu basierten die Befreiungsbewegungen in allen Ländern des arabischen Mashreq (wie in Ägypten ab 1919 und in Syrien ab 1932) auf der Losung „Die Religion für Gott und das Land für alle“. Die Nation sollte für alle Staatsbürger:innen da sein, unabhängig davon, ob sie sich zu einer Religion oder Glaubensrichtung bekannten.
Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch, wie die zentralen Figuren der Befreiungsbewegungen die Gesellschaft immer mit den Worten „Liebe Bürger, liebe Bürgerinnen“ ansprachen.
Ein solches Verständnis von Staatsbürgerschaft entwickelte sich zum einen aus der Ablehnung der westlich-kolonialen Einmischung, die das osmanische Reich unter dem Vorwand des Minderheitenschutzes zermürbt hatte, zum anderen als Gegenmodell zum religiös definierten Verständnis des Zionismus.
Die absolute Trennung von Staatsbürgerschaft und religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit ist in keinem Land leicht zu erreichen. Dies gilt insbesondere für Länder wie Syrien, das seit Ewigkeiten religiös, ethnisch und regional divers ist und sich damit von vielen europäischen und anderen Ländern unterscheidet. Doch für ein Land wie das unsere gibt es keine Zukunft ohne den Grundsatz „Die Religion für Gott und das Land für alle“.

Wo ist Ahmed?
Seit dem Sturz Assads in Syrien suchen Tausende nach ihren Angehörigen. Von den neuen Machthabern fühlen sie sich alleingelassen. Derweil werden Beweise für die Verbrechen des Regimes nur behelfsmäßig gesichert.
Ziele des Aufstands aus den Augen verloren
Alle Syrer:innen haben sich über den Sturz der Assad-Diktatur gefreut. Sie schöpfen Hoffnung aus dem Versprechen einer Übergangsphase, in die alle eingebunden werden, in der die Wirtschaft angekurbelt wird und sich die schlimmen Lebensbedingungen verbessern: eine blühende Zukunft in einem wiedervereinten Staat mit voller territorialer Souveränität.
Doch dieses Versprechen sollte klarer und nachdrücklicher den Schutz der allgemeinen und persönlichen Freiheiten beinhalten. „Freiheit für die Ewigkeit“ hatten Tausende in den ersten Tagen des Aufstands gegen die Diktatur (im Jahr 2011) auf den Demonstrationen gerufen. Und genau für diese Forderung haben die Getöteten und Eingekerkerten einen hohen Preis bezahlt.
Klarheit bezüglich der Freiheitsrechte ist unerlässlich, besonders weil die Übergangsregierung derzeit gegen einige zivilgesellschaftliche Organisationen vorgeht, indem sie ihnen die Arbeitserlaubnis entzieht und sie zwingt, eine neue zu beantragen.
Darunter sind auch Organisationen, deren Gründung auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeht und deren Arbeit der syrischen Bevölkerung unter der Assad-Diktatur Ausdauer und Resilienz verliehen hat. Viele dieser Organisationen waren in den letzten Jahren in Regionen aktiv, die unter Kontrolle der Assad-Diktatur standen, und erhielten deshalb keine vom Ausland finanzierte Hilfe.
Diese zivilgesellschaftlichen Organisationen dienen nun als ein Bollwerk der syrischen Gesellschaft, das in Zeiten multipler Krisen Halt bietet. Der schleppende Wiederaufbau der Wirtschaft und der Lebensgrundlagen der Menschen macht die Existenz dieser Organisationen weiterhin notwendig.
Ein weiterer Grund zur Sorge ist, dass die aktuelle Regierung die Arbeit von Berufsverbänden wie dem Verband der Anwälte behindert. Beispielsweise sind seit Dezember 2024 neue Führungskräfte aus anderen Regionen eingesetzt worden. Die Freiheit der Berufsverbände muss gewahrt werden, während gleichzeitig die Überreste der Diktatur, die die Gewerkschaften lange dominierte, entfernt werden müssen, um einen intakten Staat aufzubauen.
Alle Parteien und politischen Zusammenschlüsse, darunter die Baath-Partei und ihre Organisationen, sind aufgelöst worden. Dies hatte die Übergangsregierung am 29. Januar 2025 verkündet. Betroffen waren aber auch alle „politischen und zivilen revolutionären Organe“, die seit 2011 im Zuge des Aufstands gegen Assad entstanden waren.
Im Zuge dieser Auflösungen gab es jedoch weder eine Erklärung zu zukünftigen politischen Freiheitsrechten noch zur Gründung und Registrierung neuer politischer Parteien oder zur Organisation der Zivilgesellschaft. Auch der angekündigte „Nationale Dialog“, der die Grundlagen einer neuen Verfassung erarbeiten wird, bedarf weiterer Erklärung.
Diese Situation steht der Existenz sowohl politischer Parteien als auch zivilgesellschaftlicher Organisationen gegenüber, die im Ausland gegründet wurden und finanzielle wie ideelle Unterstützung von ausländischen Kräften erhalten. Diese Parteien und Organisationen werden zunächst als einzige aktiv bleiben, da das Ausland eine entscheidende Rolle im Prozess der Sanktionsaufhebung und der Normalisierung der internationalen Beziehungen spielt.
Dies bedeutet aber, dass die lokal gegründeten Parteien, oder jene, die derzeit versuchen, sich zu gründen, unter dem Kurs (der aktuellen Führung) leiden. Schon jetzt führt dies zu einer Schieflage des politischen Lebens in Syrien, von der das Ausland profitiert.
Hinzu kommt die Gefahr innerer Konflikte, die durch die Rhetorik mancher aus dem Ausland finanzierter Organisationen deutlich wird: Sie verwenden altbekannte Slogans und wollen sich dem Schutz von „Minderheiten“ und nicht dem von Freiheitsrechten widmen.
Die neuen Machthaber haben die wirtschaftliche Entwicklung als eines ihrer zentralen Ziele definiert. Bemerkenswert ist, dass es bei den wirtschaftlichen Vorgaben ein ähnliches Muster gibt: Von allen Unternehmen in Syrien wird eine Neuregistrierung gefordert, mit der Begründung, dass einige Unternehmen von Assad und seinem Regime als Scheinfirmen gegründet wurden. Dies betrifft sogar Unternehmen, deren Gründung auf die 1940er Jahre zurückgeht (lange bevor Hafez al-Assad an die Macht kam).
Freiheitsrechte müssen im Fokus stehen
Ein Thema, das bisher im Post-Assad-Syrien zu kurz kam, ist der Aufbau einer Übergangsjustiz und die Etablierung von Mechanismen zur gesellschaftlichen Aussöhnung. Es besteht die Gefahr, dass die Freude über den schnellen und relativ unblutigen Sturz der Diktatur in den Hintergrund rückt und es zu Übergriffen und Vergeltungsaktionen kommt.
Die Freude der Syrer:innen über den Sturz des diktatorischen Regimes beruhte auf ihrer Hoffnung auf allgemeine und individuelle Freiheitsrechte. Sie erinnern sich an Bashar al-Assads Machtantritt im Jahr 2000 und die Freiheitsrechte, die er zu Beginn seiner Amtszeit gewährte, wodurch Syrien damals den sogenannten „Frühling von Damaskus“ erlebte.
Doch die Freiheiten wurden schnell wieder eingeschränkt, was der Hauptgrund dafür war, dass Assads Credo „Wirtschaftliche Reformen vor politischen Reformen“ auf Ablehnung stieß. Die Ablehnung seiner Politik war auch deshalb stark, weil die wirtschaftlichen Reformen sich für die Bevölkerung nicht auszahlten. Stattdessen entstand ein „Kapitalismus für Freunde und Verwandte“, was 2011 dann auch einer der zentralen Gründe für den Aufstand der syrischen Bevölkerung war.
Die Menschen in Syrien wissen genau, dass es kein einfaches Unterfangen ist, Syrien wieder auf die eigenen Füße zu stellen. Es gibt viele innere und äußere Hürden zu überwinden. Die Bevölkerung ist sich bewusst, dass eine tatsächliche Demokratie nicht von heute auf morgen Wirklichkeit wird.
Gleichwohl gibt es die Hoffnung, dass auf dem Weg dorthin die persönlichen und gesellschaftlichen Freiheitsrechte sowie die Staatsbürgerschaft im Fokus stehen. Wenn diese gewahrt werden, können sie den jetzt anstehenden Aufbau des Landes unterfüttern und stabilisieren. Staatsbürgerschaft und Freiheitsrechte sind, ebenso wie sichere Lebensbedingungen und Arbeit, zentrale Bestandteile eines würdevollen Lebens für alle Syrerinnen und Syrer.
Übersetzung aus dem Arabischen von Marvin Lüdemann.
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