Kaschmir, das verlorene Paradies

Salman Rushdies wütender Roman "Shalimar der Narr" ist der untergegangenen Kultur des alten Kaschmirs gewidmet. In diesem Interview mit Lewis Gropp erzählt Rushdie, wie die indische Armee und militante Jihadisten ein Paradies zerstört haben.

Salman Rushdie; Foto: Lewis Gropp
Plädoyer für ein kulturell pluralistisches Kaschmir: Salman Rushdie (Foto: Lewis Gropp)

​​ Salman Rushdie zählte längst zu den großen englischsprachigen Autoren als "Die Satanischen Verse" 1988 veröffentlich wurden. Mit seinem Roman "Mitternachtskinder" hatte er nicht nur den Booker Prize gewonnen, die bedeutendste Literaturauszeichnung Großbritanniens und des Commonwealth, sondern auch den Booker of Bookers für den besten Booker Prize-Gewinner in 25 Jahren.

Als dann Ayatollah Khomeini die Fatwa über Rushdie verhängte, war der indischstämmige Brite gezwungen, jahrelang im Untergrund zu leben und zu arbeiten, wodurch er aufgrund der widrigen Umstände "einen ganzen Roman verloren" habe, wie er sagt.

"Shalimar der Narr", sein jüngster Roman, spielt in Kaschmir, Los Angeles, London und in Straßburg. Das Elsass wird dabei als eine Art "verschwisterte Region" von Kaschmir dargestellt, welche in ihrer Geschichte ebenso zwischen zwei verfeindeten Nationen hin- und hergerissen wurde.

Der Roman handelt von Boonyi, einem Hindu-Mädchen, und Noman – bzw. Shalimar – einem muslimischen Jungen, der religionsübergreifenden Heirat der beiden, sowie von ihrem tragischen Ende, das durch die verstörende Kraft erotisch-sinnlicher Begierde und verletztem Ehrgefühl heraufbeschworen wird.

Zu Beginn der Geschichte leben Hindus und Muslime in Kaschmir friedlich nebeneinander, doch in dem indisch-pakistanischen Spannungsfeld kippt die Balance und Gewalt und Zerstörung zieht über die Region hinweg. Rushdie hat sich entsetzt über die weltweite Teilnahmslosigkeit des Kaschmir-Konflikts geäußert und hofft, wie er sagt, mit seinem Buch ein Stück weit mehr Aufmerksamkeit für die kriegsverzehrte Region zu gewinnen.

"Shalimar der Clown" spielt größtenteils in Kaschmir, und Sie haben für das Buch umfassende Recherchen durchgeführt, insbesondere in Bezug auf Kaschmir. Nach Indien konnten Sie mittlerweile wieder zurückkehren, nach Kaschmir hat es Sie aber wohl nicht verschlagen...

Salman Rushdie: Sie meinen, um Anschauungsmaterial in einem Al-Kaida-Trainingslager zu sammeln? (lacht) Nein, dazu bin ich nicht gekommen. Ich kenne aber gleichwohl zahlreiche Spezialisten, die sich über mehrere Jahre mit dem Thema beschäftigt haben, und die dieses mysteriöse Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan, zwischen dem indischen und dem pakistanischen Kaschmir auch besucht haben. Also konnte ich auf viele Leute zurückgreifen, die mich bei meinen Recherchen unterstützt haben.

Die eigentliche Landschaft ist mir allerdings sehr vertraut. Ich habe in meinem Leben viel Zeit in Kaschmir verbracht, sowohl auf der indischen, als auch auf der pakistanischen Seite. Ein Teil meiner Verwandtschaft ging nach Pakistan, der andere blieb in Indien. Und wie viele muslimische Familien wurde auch meine Familie geteilt. Das bedeutete aber gleichwohl, dass ich in meiner Kindheit und meiner Jugend Pakistan oft besucht habe – meine Familie war im ganzen Land verstreut.

Ich musste mich aber mit den Dingen vertraut machen, die ich nicht aus eigener Anschauung kannte. Ich hatte ja keine Ausbildungslager der Terroristen aufgesucht, auch wenn ich sie auf der Landkarte markieren könnte. Sie existieren tatsächlich, auch wenn der pakistanische Geheimdienst dazu neigt, diese Tatsache zu leugnen. Ich weiß auch, von wem die Camps finanziert werden und welche Gruppen sich dort aufhalten.

Eines der größten Probleme des pakistanischen Kaschmirs ist, dass viele der Leute in den Camps überhaupt nicht aus Kaschmir stammen, sondern beispielsweise aus Afghanistan, aus arabischen Ländern oder aus Tschetschenien, und das macht die Sache noch viel schlimmer, weil diese Leute sich ausschließlich dem Jihad verpflichtet fühlen, sich sonst für Kaschmir aber überhaupt nicht interessieren.

Die Passagen, in denen Sie die Gewalt in Kaschmir beschreiben, zählen zu den stärksten und aufwühlendsten im neuen Roman, und es scheint, als ob unter der narrativen Oberfläche eine starke Wut pulsiert…

Rushdie: Absolut! Und die beschriebene Gewalt ist tatsächlich dokumentarisch zu verstehen, die verschiedenen Übergriffe auf die verschiedenen Dörfer und die geschilderten Ereignisse, die Übergriffe von sowohl der indischen Armee, als auch die der Jihadisten. Ich möchte vermitteln, dass es sich tatsächlich so ereignet hat.

Der Begriff "Crackdown", den die indische Armee benutzt, ist ein Euphemismus für "Massenvernichtung", Vergewaltigung und Brutalisierung. All das gehört zum Alltag in Kaschmir. In diesem Moment werden diese Verbrechen verübt. Es stimmt, diese Vorstellung macht mich wütend!

Die Entscheidung, alle Kaschmiris als potenzielle Terroristen anzusehen, hat diesen Zustand überhaupt erst beigeführt, diesen "Quasi-Holocaust" an den Menschen von Kaschmir. Dabei wissen wir doch, durch die jüngsten Ereignisse auch in Europa, durch die Anschläge in der Londoner U-Bahn beispielsweise, wie wichtig es ist, eben nicht alle Muslime als Terroristen anzusehen, aber die indische Armee macht genau das Gegenteil davon, sie stuft absolut jeden als potenziellen Kombattanten ein, und handelt entsprechend. Das Ausmaß an Gewalt in dieser Region ist in der Tat spektakulär, wirklich spektakulär.

Zudem muss man hinzufügen, dass die Jihadis ansonsten gar keine Resonanz von der Bevölkerung in Kaschmir erhalten hätten. Traditionell hat diese nämlich ein äußerst schwach ausgeprägtes Interesse an einem radikalen Islam. Und so sind die Menschen dort nun gefangen, zwischen dem Teufel und dem dunklen Meeresgrund - und genau darin liegt die Tragödie des Kaschmir.

In "Shalimar the Clown" taucht die Figur des "Eisernen Mullahs" auf...

Rushdie: Oh, ja - den mag ich ganz besonders! Er ist wohl die einzige unmittelbar allegorische Figur in dem Roman. Mit dieser Figur wollte ich darstellen, dass die Anziehungskraft des Jihad in Kaschmir aus den Aktivitäten der indischen Armee überhaupt erst entsteht.

Etwas, was Kaschmir mehr als alles andere auszeichnet, ist die ungeheuerliche Masse an militärischem Equipment, die man dort überall vorfindet: Panzer, Militärlastwagen, Haubitzen, Bazookas, riesige Waffenlager und endlose Waffenkonvois, die sich sechs Stunden lang diese winzigen Bergstraßen nach oben ziehen! Da darf man um Himmels Willen nicht hinten auffahren (lacht), überholen kann man den nämlich nicht.

Wenn es nicht mehr zu gebrauchen ist, wird dieses Equipment in vielen Fällen einfach den nächsten Hang herunter geschmissen, und so sind etliche Halden entstanden, und diese Idee, dass dieses Altmetall zum Leben erweckt wird und dann zum Feind der Panzer selbst aufersteht, das ist eine ziemlich unmissverständliche Allegorie. Irgendwann fing ich an, ihn richtig zu mögen; mir gefiel es, wie entsetzlich schrecklich diese Figur auf einmal war.

Die beiden wirklich schauerlichen Figuren in der Kaschmir-Geschichte sind der indische Armeegeneral und eben der "Eiserne Mullah". Die beiden sind genau genommen zwei Seiten ein und derselben Münze.

Die männliche Hauptfigur, Shalimar, der Muslim ist, agiert später als Terrorist, auch wenn er kein herkömmlicher Terrorist ist, da er eher persönliche Motive verfolgt. Haben Sie dennoch überlegt, die Geschichte mit einer weiblichen muslimischen Hauptfigur zu konzipieren?

Rushdie: Als ich anfing, die Figuren zu entwerfen, war mir überhaupt nicht klar, dass sie einen unterschiedlichen religiösen Hintergrund haben würden, das entwickelte sich erst zu einem späteren Zeitpunkt, aber wer von den beiden Muslim oder Hindu war, spielte eigentlich keine Rolle. Mir ging es in erster Linie darum, dass sie eine religiöse Trennlinie überschreiten, denn auch heute gibt es in Indien nach wie vor so gut wie keine Eheschließungen zwischen Hindus und Muslimen. Wenn überhaupt, dann nur in den obersten gesellschaftlichen Ränken, aber auch dort ist es ungewöhnlich.

Wenn man aber an einer Geschichte schreibt, dann ist es immer sehr viel interessanter, das Ungewöhnliche zu beschreiben als das Gewöhnliche. Dabei ging es mir nicht darum, ein ideelles, unrealistisches Kaschmir zu entwerfen, denn wenn Boonyi und Shalimar beginnen, sich zu lieben, dann wissen sie, wie schwierig es für sie werden wird und dass sie sich in eine äußerst prekäre Situation gebracht haben.

Dass das Dorf sie dann unterstützt, ist ungewöhnlich, und in neun von zehn Fällen wäre es nicht dazu gekommen.

In einem Ihrer Artikel haben Sie sich dazu geäußert, inwieweit Freiheit und Pornografie in Beziehung zueinander stehen...

Rushdie: In diesem Artikel habe ich geschrieben, dass Menschen, die in Gesellschaften leben, in denen die Geschlechter künstlich davon abgehalten werden, zueinander zu finden, sich zwangsläufig der Pornografie zuwenden – als direkte Reaktion auf diesen Zustand. Ich wollte also erklären, dass das Konsumieren von Pornografie eine Reaktion ist, und keine eigentliche Ursache.

Wenn man sich also mit den Ursachen beschäftigt, muss man sich damit auseinander setzen, wie unnatürlich die Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen in solchen Fällen entartet sind. Ich habe mich also weder für, noch gegen Pornografie ausgesprochen. Die Art und Weise, wie darüber in den Medien berichtet wurde, hat mich sehr aufgeregt! Pornografie interessiert mich eigentlich überhaupt nicht...

Nun, so können wir das hier an dieser Stelle zumindest ins richtige Licht rücken.

Rushdie: Immerhin, schön. Stellen Sie das mal klar!

Die Sexualität ist in "Shalimar der Clown" eine verstörende Macht, die letzten Endes das tragische Ende der drei, möglicherweise sogar aller vier Hauptfiguren einleitet...

Rushdie: In der Tat. In diesem Roman – und ich bin mir gar nicht sicher, warum, das müssten Sie mir eigentlich erklären – sind die Liebesbeziehungen, die über die Zeit bestehen, diejenigen zwischen Eltern und Kindern, diese Beziehungen scheinen im Lauf der Zeit sogar noch stärker zu werden.

In dem Fall von India [Boonyis Tochter] beispielsweise ist Max [Indias Vater] ja eigentlich ein eher abwesender Vater. Später aber, als er schon älter ist, kommen die beiden sich unwahrscheinlich nah. Und auch Shalimars Beziehung zu seinem Vater ist von starker Intimität und Liebe geprägt. Da haben wir also, wenn Sie so wollen, verschiedene generationsübergreifende Liebesgeschichten, die sehr stark sind, die die Zeit überdauern. Das, was sich zwischen Mann und Frau abspielt, das scheint sehr viel komplizierter zu sein.

Interview: Lewis Gropp

© Qantara.de 2006

Lewis Gropp ist freiberuflicher Journalist und Übersetzer in Köln und arbeitet seit 2003 als Redakteur für Qantara.de.

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