Vom Terroristen zum Friedensstifter

Am 27. Februar hat der inhaftierte Anführer der kurdischen Aufständischen in der Türkei, Abdullah Öcalan, die PKK (Partiya Karkeren Kurdistan, Arbeiterpartei Kurdistans) zur Entwaffnung und Auflösung aufgerufen. Öcalan hatte die PKK 1978 gegründet, um für einen eigenen marxistisch-leninistischen Staat in den kurdisch besiedelten Gebieten der Türkei zu kämpfen.
In seinem Statement erklärte er, die PKK habe ihr Ziel erreicht. Er verwies darauf, dass die „Leugnung der kurdischen Identität“ zurückgegangen und die „Meinungsfreiheit“ gestärkt worden sei. Die PKK sei entstanden, weil „die Kanäle der demokratischen Politik geschlossen waren“. Nun aber könnten die Kurden ihre Probleme eher durch Demokratie als durch den bewaffneten Kampf lösen, erklärte er.
Öcalan forderte die PKK auf, einen Kongress einzuberufen und sich selbst aufzulösen. Das Exekutivkomitee der PKK, das in den irakischen Qandil-Bergen ansässig ist, erklärte daraufhin am 1. März einen Waffenstillstand. In ihrer Erklärung forderte die PKK-Führung die Freilassung Öcalans und bezeichnete ihn als den einzigen Mann, der geeignet sei, den Kongress zu leiten und die Auflösung zu überwachen. Ein Termin für den Kongress wurde allerdings noch nicht festgelegt.
Bahçelis Einladung
Die letzte Waffenruhe zwischen dem türkischen Staat und der PKK hatte während des letzten Friedensprozesses 2013-2015 bestanden. Die Kämpfe, die anschließend ausbrachen, sorgten für mindestens 7.000 zusätzliche Opfer des Konflikts und lösten eine Repressionswelle gegen das politische Leben der Kurden aus.
Einige prominente kurdische Politiker:innen, die damals Teil des Friedensprozesses waren, sitzen noch immer im Gefängnis. Zudem wurden dutzende demokratisch gewählte Bürgermeister:innen von der pro-kurdischen DEM-Partei aus ihren Ämtern entfernt, auf Basis angeblichen Terrorverdachts. Die türkische Armee kämpft auch weiter gegen die PKK, in der Türkei, in Syrien und im Irak.

Zu schön, um wahr zu sein
Das Waffenstillstandsangebot des inhaftierten Chefs der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, ist zwar von der türkischen Regierung begrüßt worden. Doch wie soll es einen Frieden geben, wenn die konfliktreiche Vergangenheit nicht kritisch und öffentlich aufgearbeitet wird? Ein Kommentar von Ömer Erzeren
In dieser angespannten politischen Atmosphäre hatte sich der Anführer der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahçeli, im Oktober 2024 an Öcalan gewandt. Er rief ihn auf, die PKK aufzulösen und damit den Konflikt ein für alle Mal zu beenden. Im Gegenzug würde Öcalan für eine Rede ins türkische Parlament eingeladen werden.
Öcalans jüngster Aufruf kann als direkte Antwort auf diese Einladung verstanden werden. Doch weder Bahçeli noch Öcalan gingen detailliert darauf ein, was mit den Waffen und den Kämpfer:innen der PKK passieren soll. Auch wurde noch nicht bestätigt, ob der heute 75-jährige Öcalan realistische Aussichten darauf hat, aus dem Gefängnis entlassen und im Parlament willkommen geheißen zu werden.
Um Frieden zu erreichen, müsse der Staat eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, argumentiert Vahap Coşkun, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rechtsfakultät der Dicle-Universität:
„Wenn die PKK sich auflöst und der Staat möchte, dass sie dauerhaft entwaffnet wird, dann müssen die Führungsriege und die Kämpfer:innen zu einem zivilen Leben zurückfinden. Dazu braucht es wirtschaftliche und rechtliche Arrangements zu ihrer Unterstützung.“
„Ich gehe davon aus, dass im Hintergrund bereits ein Abkommen über die kurdischen Aktivist:innen und Politiker:innen sowie die abgesetzten Bürgermeister:innen geschlossen worden ist. Deshalb hat die jüngste Repressionswelle Öcalan nicht davon abgehalten, diesen Aufruf zu verfassen“, so Coşkun.
Ein politisch passender Moment für Frieden?
In den letzten Jahren hat die PKK schwere Verluste erlitten und hatte Mühe, ihren Kampf gegen die türkische Armee aufrechtzuerhalten. Bahçeli, der jahrelang gegen den Friedensprozess gewesen war und dessen Befürworter als „Terroristen“ bezeichnete, will nun der Mann sein, der den Krieg beendet.
Und Bahçeli ist nicht der einzige, der politisch vom Frieden profitieren könnte. Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der mächtigste Politiker der Türkei, ist seit 2016 mit Bahçeli verbündet. Seit 2018 ist Bahçelis MHP Koalitionspartner der AKP-Regierung.
Für Erdoğan wäre die Sicherung des Friedens eine Möglichkeit, die Unterstützung der pro-kurdischen DEM-Partei für eine dritte Amtszeit als Präsident zu gewinnen. Laut Verfassung ist ein Präsident auf zwei Amtszeiten beschränkt, es sei denn, das Parlament ruft vor Ablauf der zweiten Amtszeit Neuwahlen aus. Die Stimmen von AKP und MHP würden nicht ausreichen, um eine Wahl zu initiieren, aber die Stimmen der DEM könnten den Weg für weitere fünf Jahre Erdoğan als Präsident ebnen.
Frieden würde Erdoğan auch international einen Popularitätsschub geben. In den letzten zehn Jahren wurde seine antidemokratische Politik von Europa stark kritisiert, was sich auf ausländische Investitionen auswirkte. Die Militäroperationen gegen die Kurden hatten auch Sanktionen seitens einiger EU-Länder für die Rüstungsindustrie zur Folge. Die wirtschaftlichen Folgen für die Türkei haben zu einem Rückgang der Unterstützung für die AKP geführt.
Der Aufruf Öcalans ist daher ein entscheidender Moment für die Türkei. Er könnte einen 47 Jahre alten Konflikt beenden, der mehr als 40.000 Menschenleben gefordert hat. Allerdings haben die mit der PKK verbundenen bewaffneten Gruppen in Syrien den Aufruf bisher abgelehnt. Die Türkei hat mehrere groß angelegte Militäroperationen gegen Kurden in Syrien durchgeführt (2016, 2018 und 2019) und droht seit dem Sturz Assads mit einer weiteren.
Die Geschichte Öcalans und der PKK
Die moderne Türkei wurde 1923 von einer militärischen Elite auf der Grundlage der Ideologie eines säkularen, türkischen Nationalstaats gegründet. Die kurdische Identität wurde sofort unterdrückt – Türkisch war die einzige Amtssprache und Kurdisch verboten. Nach Jahrhunderten der Autonomie unter osmanischer Herrschaft konnten die Kurden diese neue Staatsform nicht akzeptieren. Schon in den 1920er Jahren kam es zu Unruhen, die brutal niedergeschlagen wurden.
Öcalan gründete die PKK 1978 als Universitätsstudent und linker Aktivist. Der Aufstand begann 1984 mit koordinierten Anschlägen, bei denen ein Soldat und zwei Polizisten getötet und elf verwundet wurden. Die Gruppe wurde als terroristische Vereinigung eingestuft und es kam zu schweren Zusammenstößen im kurdisch besiedelten Südosten der Türkei, die sich in den 1990er Jahren verschärften. Öcalan koordinierte die Angriffe von Syrien aus, wohin er sich 1979 begeben hatte, um Ausbildungslager anzuleiten.

Kampf der Narrative
Kurden und andere Minderheiten in der Türkei sind seit hundert Jahren staatlicher Repression ausgesetzt. Die kurdische Frage ist für die gesellschaftliche und politische Entwicklung der Türkei zentral, sagt der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli im Interview mit Gerrit Wustmann.
Als die Gruppe in der kurdischen Bevölkerung an Einfluss gewann, wuchs auch Öcalans Popularität. Für Millionen von Kurden wurde er zu einer wichtigen Persönlichkeit und einem mächtigen Verfechter der kurdischen Sache.
Auf diplomatischen Druck der Türkei hin wies Syrien Öcalan 1998 aus. Nachdem er einige Monate lang in Europa und Russland Zuflucht gesucht hatte, verhafteten ihn türkische Spezialeinheiten im Februar 1999 in Nairobi. Sein Prozess dauerte einen Monat, er wurde zum Tode verurteilt.
2002 gewann die AKP die Wahl in der Türkei und leitete 2004 im Bestreben, der EU beizutreten, Reformen ein, darunter die Abschaffung der Todesstrafe. Öcalans Strafe wurde in lebenslange Haft umgewandelt, die er seitdem in Einzelhaft auf der Insel Imralı im Marmarameer verbüßt. Die PKK- Führung in den Qandil-Bergen führt die Guerillabewegung weiter an, mit Öcalan als ideologischem Anführer.
Öcalan blieb einflussreich. Nach seiner Verhaftung 1999 setzten sich Unterstützer:innen vor türkischen Botschaften in unterschiedlichen Ländern selbst in Brand. 2012 beendeten dutzende PKK-Mitglieder einen Hungerstreik in türkischen Gefängnissen erst, nachdem Öcalan sie dazu aufrief.
Die Türkei weiß, dass Öcalan die einzige Person ist, die den Konflikt beenden kann. Unter den aufeinanderfolgenden AKP-Regierungen hat der Geheimdienst mit ihm Verhandlungen über einen Waffenstillstand aufgenommen. Als Resultat wurde in den 2000er Jahren das Verbot kurdischer Medien aufgehoben, und die kurdische Bevölkerung, die während der Zusammenstöße in den 1990er Jahren zur Räumung ihrer Häuser gezwungen worden war, durfte zurückkehren.
Woran scheiterte der letzte Friedensprozess?
Im März 2013, nach jahrelangen Verhandlungen mit dem Geheimdienst, ordnete Öcalan eine Waffenruhe an und wies die PKK-Kämpfer:innen an, sich aus der Türkei in den Irak zurück zu ziehen. Er sagte damals, der nächste Schritt sei die Entwaffnung.
Öcalans Ziel hatte sich von einem unabhängigen kurdischen Staat hin zu einer Föderation mit Autonomie für die Kurden entwickelt. Zwischen 2013 und 2015 umfassten seine Kernforderungen die Anerkennung der kurdischen Rechte und einen größeren Spielraum für die Bürgermeister:innen in Städten mit kurdischer Mehrheit.
Während des Friedensprozesses baute der türkische Staat weitere Wachposten in den Bergen, um Dörfer zu überwachen, und warf der PKK vor, weiterhin Soldaten anzugreifen. Beide Seiten drohten mehrfach, die Waffenruhe aufzukündigen. Die ultranationalistische MHP setzte Erdoğan unter Druck, den Prozess zu beenden.
Unterdessen erfreute sich die PKK nach ihrem Erfolg im Kampf gegen den IS in Syrien zunehmender internationaler Beliebtheit. Die mit ihr verbündeten Kräfte in Syrien erhielten erhebliche militärische und finanzielle Unterstützung aus den USA und Frankreich, und ihre Kommandeur:innen wurden plötzlich von amerikanischen und europäischen Politiker:innen empfangen, nachdem sie jahrzehntelang als Terrorist:innen bezeichnet worden waren.
Bei den Wahlen im Juni 2015 erhielt die pro-kurdische Partei (damals HDP, d. Red.) 13 Prozent der Stimmen und überschritt damit zum ersten Mal die Zehn-Prozent-Hürde. Auch die MHP konnte ihren Stimmenanteil erhöhen und zwang die AKP, eine Koalitionsregierung zu bilden. Bahçeli, der mit den Zugewinnen der HDP unzufrieden war, rief zu Neuwahlen auf.
Ende Juli 2015 – vor dem Hintergrund einer sich verändernden geopolitischen Lage und eines internen politischen Konflikts – wurden zwei türkische Polizisten tot in ihren Wohnungen aufgefunden. Erdoğan gab den Kurden die Schuld und ließ Luftangriffe auf PKK-Stützpunkte in den Qandil-Bergen fliegen, womit der Waffenstillstand beendet war.
Die Zusammenstöße weiteten sich schnell auf die Stadtzentren aus, wo hunderte Wohngebäude bei Bombardierungen zerstört und mehr als 500 Zivilist:innen getötet wurden. Die PKK wiederum tötete bei Angriffen und Bombenanschlägen seit 2015 über 150 Menschen, darunter ebenfalls Zivilist:innen.
Wird es einen dauerhaften Frieden geben?
Noch immer befinden sich zahlreiche kurdische Aktivist:innen, Journalist:innen und Politiker:innen im Gefängnis. Im Mai letzten Jahres wurden 108 Personen, darunter ehemalige Führer der pro-kurdischen Partei, wegen ihrer angeblichen Rolle bei Protesten 2014 zur Unterstützung syrisch-kurdischer Gruppen in Kobani angeklagt.
Zwischen 2022 und 2024 wurden mehr als 300 Journalist:innen und Aktivist:innen verhaftet oder unter Hausarrest gestellt. Auch der kurdische Politiker, der Öcalans Erklärung vor den Kameras verlas, Ahmet Türk, gehört zu den gewählten Bürgermeister:innen, die abgesetzt wurden.
Kann es unter diesen Bedingungen einen nachhaltigen Frieden geben? Vahap Coşkun von der Dicle-Universität glaubt, dass dass die PKK keine Bedingungen mehr für die Niederlegung ihrer Waffen stellen wird:
„2013 wurde gleichzeitig über Entwaffnung und Demokratisierung verhandelt, so dass beide Seiten Schritte unternehmen mussten, um eine dauerhafte Einigung zu erzielen. Heute sagt Öcalan, die PKK wird aufgelöst, und erst dann unternimmt der Staat Schritte zur Demokratisierung.“
In seiner Botschaft erklärte Öcalan, es gebe demokratische Wege, um Probleme zu lösen. Die Forderungen nach Föderalismus und kultureller Autonomie, die er in seinem Aufruf zur Entwaffnung im Jahr 2013 gestellt hatte, scheinen keine Rolle mehr zu spielen.
Coşkun zufolge ist die jüngste Erklärung Öcalans die klarste, die er je geschrieben hat: „Normalerweise verwendet Öcalan Formulierungen, die offen für Interpretationen sind und der PKK-Führung Spielraum lassen. Diesmal ist der Brief sehr klar. Er zeigt, dass beide Seiten, die PKK und der türkische Staat bereits eine Einigung erzielt haben.“
Er ergänzt, dass der PKK-Kongress wohl bald stattfinden werde, da beide Seiten entschlossen seien, den Prozess rasch zu beenden. „Öcalan ist der Gründer der PKK, war ihr alleiniger Anführer bis 1998 und ist ihr ideologischer Wegbereiter seit 1999. Selbst nach seiner Verhaftung wurde seine Führungsrolle nie in Frage gestellt. Wenn er sagt, dass die PKK ideologisch überholt ist und aufgelöst werden sollte, wird das zweifellos geschehen.“
Wenn dies alles eintrifft, könnten wir bald einen Mann auf freiem Fuß sehen, der einst als „Babymörder“ und „Oberterrorist“ bezeichnet wurde – und nun im Parlament eine Rede als Friedensstifter hält.
Dies ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzt von Clara Taxis.
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