Für Vertrauen ist es zu früh

Syrische Frauen schwenken „revolutionäre“ syrische Flaggen, während sie den Sturz des Assad-Regimes feiern
Frauen feiern den Sturz des Assad-Regimes in Damaskus, Dezember 2024. (Foto: Picture Alliance / AP | O. Sanadiki)

In Syrien fand Ende Februar die mit Spannung erwartete Konferenz des Nationalen Dialogs statt. Hat das Treffen die Erwartungen erfüllt? Karim El-Gawhary sprach vorher und nachher mit Frauenrechtlerinnen vor Ort.

Von Karim El-Gawhary

Damaskus, Ende Januar. Die kleine Demonstration vor der historischen Station der alten Hedschas-Eisenbahn im Zentrum der Stadt wirkt etwas verloren. Zwei Dutzend Menschen haben sich auf den Treppen vor dem fast 120 Jahre alten Gebäude versammelt. Sie fordern von Syriens neuen Machthabern einen schnellen Übergang zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. 

Unter den Aktivist:innen sind auch Frauenrechtlerinnen: „Wir stehen vor unglaublichen Chancen”, sagt die 28-jährige Nour Gheiba. „Wir haben den Kreislauf der Tyrannei durchbrochen. Mit Assads Sturz liegt eine Zukunft vor uns, voller Möglichkeiten, um eine neue Vision für Syrien zu entwickeln.“ 

Nour ist Mitglied der Syrischen Feministischen Bewegung (Musawa, "الحركة السياسية النسوية السورية "مساواة). Die Gruppe versucht, das Bewusstsein für Frauenrechte auch bei den neuen Machthabern zu stärken.  

Die Schriftstellerin Hasiba Abdul Rahman, 69 Jahre alt, ist vorsichtiger: „Der Sturz des Regimes war ein riesiger Schritt. Das Regime liegt nun hinter uns, das ist gut. Aber was liegt vor uns?“, fragt sie. „Ehrlich gesagt habe ich bisher keine deutliche Rückentwicklung gesehen, aber auch keinen Fortschritt“, lautet ihre erste Einschätzung der Frauenpolitik der neuen Machthaber.   

Mit dem alten Regime hat die Aktivistin viel Erfahrung sammeln müssen. Viermal saß Hasiba wegen ihrer Opposition zu den Assads im Gefängnis. Politische Beteiligung jenseits des Regimes in Damaskus war weder Frauen noch Männern möglich. Wer sich dem widersetzte, landete wie Hasiba in den berüchtigten Kerkern des Regimes. Das Land verließ die Schriftstellerin dennoch nie. 

Gruppe syrischer Frauen
Frauenrechtlerin Hasiba Abdul Rahman (stehend, Mitte). (Foto: Qantara | Karim El-Gawhary)

Ein halbes Jahrhundert lang waren in Syrien nur Frauenorganisationen zugelassen, die die autokratische Politik zunächst des Vaters Hafez al-Assad (reg. 1970-2000) und später des Sohnes Baschar (reg. 2000-2024) abnickten. „Frauenorganisationen konnten keine Gesetze vorschlagen, es sei denn, sie wurden von den Behörden genehmigt”, blickt Hasiba zurück. „Die Präsenz der Frauen in staatlichen Institutionen war symbolisch.“ 

„Erzieherische Rolle” der Frauen

Die Assad-Diktatur ist vorbei, doch Nour und Hasiba bewegen sich in Sachen Frauenrechte auf unsicherem Terrain. Unter Frauenrechtlerinnen in Syrien herrscht die Sorge, dass die neuen Machthaber der einst Al-Qaida-nahen Hai’at Tahrir al-Sham (HTS) das neue Kapitel ebenso schnell wieder schließen könnten, wie es aufgeschlagen wurde. 

Wird Ahmad al-Sharaa, der bisherige HTS-Chef und neue Übergangspräsident Syriens, seine eigene islamistische, konservative Klientel bedienen? Oder schafft er ein Syrien für alle? 

Die bisherigen Äußerungen der neuen Regierung sind teils widersprüchlich. Frauen würden in Zukunft eine Schlüsselrolle einnehmen, „die aber nicht über ihre von Gott gegebene Natur hinausgeht“, sagte ausgerechnet die Frauenbeauftragte der Übergangsregierung, Aisha al-Dibs, im Dezember. Frauen würden ihre „erzieherische Rolle in der Familie kennen”, umschrieb sie ihr konservatives Familien- und Frauenbild. 

Syriens neuer Außenminister, Assad al-Shaibani, konterte: Er glaube an „die aktive Rolle der Frauen in der Gesellschaft“. 

Viele in Syrien hatten gehofft, dass der erste sogenannte Nationale Dialog mehr Aufschluss geben würde. Am 25. Februar schließlich kamen 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen Teilen der Gesellschaft im Präsidentenpalast in Damaskus zusammen, um über die Zukunft ihres Landes zu diskutieren. In seiner Rede betonte al-Sharaa, er wolle auch die Rolle der Frauen in allen Bereichen unterstützen.

Doch das Ergebnis des Dialogs blieb vage. In einem Abschlussdokument formulierten die Teilnehmenden Empfehlungen an die Übergangsregierung: Möglichst schnell soll ein Expertenkomitee für eine Übergangsverfassung und einen Legislativrat ins Leben gerufen werden, der bis zur Wahl, die in vier Jahren stattfinden soll, die Rolle eines Parlaments einnimmt. Die Forderungen sind allerdings nicht bindend. Auch dass das Treffen nur auf einen Tag angesetzt war, zeigte, dass es dem Regime nicht allzu ernst war mit dem Dialog. 

„Frauenrechtsfragen spielten im Nationalen Dialog kaum eine Rolle. Eine vage Empfehlung lautete, dass Frauen in Regierungsgremien vertreten sein sollen, aber es gab keine Diskussion über spezifische Frauenfragen“, berichtete die Frauenrechtlerin Nour nach dem Dialog enttäuscht. Nur rund 15 Prozent der zum Nationalen Dialog Geladenen seien Frauen gewesen. 

„Nicht alle Syrer glauben an Frauenrechte“

Nours Enthusiasmus war schon bei der Demonstration am Hedschas-Bahnhof Ende Januar von nüchternem Realitätssinn getrübt: „Wir wissen, dass unser Kampf gerade erst beginnt und dass er nicht nur mit der Regierung geführt werden muss, die eine islamistische ist, sondern auch mit der Gesellschaft selbst. Es ist Realität, dass nicht alle Syrer:innen an Frauenrechte glauben.“ 

Bei Themen wie Erbrecht, Ehe, Scheidung und Sorgerecht gebe es viel zu tun, sagt Nour. Auch dass syrische Frauen ihre Staatsbürgerschaft bislang nicht an ihre Kinder weitergeben können, sei ein Thema. Aber die größten Probleme syrischer Frauen drehten sich um Armut und Ernährungssicherheit – und bei diesen Themen gebe es genug gemeinsame Nenner mit den neuen Machthabern. 

Porträt einer syrischen Frau
Nour Gheiba in Damaskus, Januar 2025. (Foto: Qantara | Karim El-Gawhary)

„Wir sollten jene Bereiche hervorheben, in denen es Übereinstimmung mit der Regierung gibt. Dort sind wir sind bereit, mit ihr in vollem Umfang zusammenzuarbeiten“, erläutert Nour ihre Strategie.  

Die Schriftstellerin Hasiba ist skeptischer: „Syrien ist verarmt, verwüstet und innerlich zerrissen. In einem solchen Umfeld sind Frauenorganisationen in einer besonders verwundbaren Lage.“ Dabei bräuchten diese jetzt besondere Unterstützung, denn Frauen hätten die Hauptlast des Bürgerkriegs getragen und den höchsten Preis bezahlt. 

„Frauen haben ihre Ehemänner verloren, den Haushalt allein geführt, ihre Kinder großgezogen und ihre Häuser beschützt“, beschreibt sie die Zeiten des Bürgerkrieges. Im Jahr 2017 wurden über 22 Prozent aller syrischen Haushalte von einer Frau geführt, wie aus einem Bericht des Tahrir Institute for Middle East Policy hervorgeht. Vor dem Krieg lag die Zahl bei vier Prozent. 

„Vor diesem Hintergrund sollte die HTS die Frauen für ihre Beiträge ehren und ihnen Rechte gewähren, statt ihren Status zu schmälern”, fordert Hasiba. „Wer behauptet, für Gerechtigkeit zu kämpfen, sollte die Opfer dieser Frauen anerkennen.“  

Frauen für PR-Zwecke

Für Frauenrechtlerinnen stellt sich aktuell die Frage, wie viele und welche Personen die syrischen Frauen repräsentieren werden, bevor gewählt wird – etwa in dem noch zu formenden Legislativrat, der bis zur ersten Parlamentswahl die Gesetze machen wird.  

„Es gibt viele engagierte Frauen, die für die syrische Sache kämpfen. Sie haben jedes Recht, im Staat mitzuwirken – sei es in der Legislative oder in der Exekutive“, meint Nour.  

Doch auch beim Thema Repräsentation müsse genau hingesehen werden, warnt Hasiba. Die neuen Machthaber seien stark auf Außenwirkung bedacht. „Sie könnten einige Frauen in symbolträchtige Positionen bringen – als reine Fassade“, befürchtet die 69-Jährige. Es sei eine übliche Taktik, Frauen für PR-Zwecke zu benutzen.  

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