In subversiver Mission
Seit letztem Oktober müssen sich 86 Mitglieder des nationalistischen Geheimbundes Ergenekon in der Türkei vor Gericht verantworten. Ihnen wird vorgeworfen, den Sturz Erdogans geplant zu haben. Doch die kemalistische Opposition spricht von einer juristischen Hexenjagd, um Regierungskritiker mundtot zu machen. Einzelheiten von Ömer Erzeren
Ergenekon ist der Name einer präislamischen Kriegslegende türkischer Stämme in Zentralasien, die in nationalistischen Kreisen gepflegt wurde. Heute ist Ergenekon in der Türkei in aller Munde.
Doch nicht von der Legende ist die Rede, sondern von einem Prozess, der die innenpolitische Debatte seit Monaten bestimmt und zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition geführt hat.
Nach einem Waffenfund im Jahre 2007 waren Ermittlungen aufgenommen worden, die Massenverhaftungen zur Folge hatten und schließlich zur Eröffnung des Prozesses gegen 86 Angeklagte im Oktober vergangenen Jahres führten.
Verschwörung gegen Erdogan
Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten die Gründung einer kriminellen Organisation vor, die sich zum Ziel gesetzt habe, durch terroristische Akte einen Staatstreich herbeizuführen. Ein Großteil der Angeklagten ist dem nationalistischen Lager zuzurechnen, das die islamische Regierungspartei AKP bekämpft.
Der Prozess wird sich wohl nicht auf die 86 Angeklagten beschränken, denn die Verhaftungswellen hielten auch nach Fertigstellung der 2500seitigen Anklageschrift nicht ab. Razzien förderten geheime Waffenlager zu Tage, fast 200 Personen wurden insgesamt festgenommen und ein Großteil sitzt in Untersuchungshaft. Die Staatsanwälte sind derzeit damit beschäftigt, eine weitere Anklageschrift zu verfassen.
Tatsächlich bietet der Ergenekon-Prozess die Chance, mit der blutigen Geschichte politischer Morde und Bombenanschläge in der Türkei abzurechnen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes sind auch diensthabende Offiziere und pensionierte Generäle angeklagt.
Bereits vor fünf Jahren schmiedeten die Generäle, die damals noch im Dienst waren, Putschpläne. Konkret benennt die Anklageschrift die Ermordung eines Richters des Oberverwaltungsgerichtes im Jahr 2006.
Der Mord, den laut Anklage der Geheimbund Ergenekon plante, sollte islamistischen Kräften angelastet werden, um die konservativ-muslimische Regierung unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan politisch zu schwächen.
Die Spur dieser von höchsten Stellen protegierten Terrorgruppe, die für "Nation und Vaterland" mordet und Bomben legt, reicht weit zurück. Je nach politischer Wetterlage änderte sich der Feind: die Linke in den 70er Jahren, die kurdische Bewegung in den 90er Jahren und heute der politische Islam.
Ergenekon als "Staat im Staate" – ein Rückblick
November 1996: Nach einem Verkehrsunfall im ägäischen Susurluk, bei dem ein hochrangiger Polizeifunktionär und ein mehrfacher Auftragsmörder im selben Auto starben, kamen Details ans Tageslicht, wie hochrangige Beamte im staatlichen Interesse Aufträge an Attentäter und Bombenleger erteilten.
Die politischen Morde und Bombenanschläge, die Mitte der 90er Jahre unter der damaligen Ministerpräsidentin Tansu Ciller einen Höhepunkt erreichten, waren Teil einer staatlichen Strategie, die PKK außerhalb des rechtlichen Rahmens zu bekämpfen.
Auch ein offizieller Bericht des Sonderermittlers der Nachfolgeregierung bestätigte, dass das Terrornetzwerk von oben gesteuert wurde. Einer der zentralen Figuren des Netzwerkes war der Polizeifunktionär Ibrahim Sahin, der - unmittelbar dem Innenminister unterstellt - das "Amt für besondere Operationen" leitete.
Sahin wurde damals zu acht Jahren Haft verurteilt. Er habe im "nationalen Interesse" gehandelt, beteuerte er damals. Sahin sitzt heute erneut in Untersuchungshaft. In seiner Wohnung fanden sich Skizzen, die zur Aushebung geheimer Waffenlager führten.
Doch die Art und Weise des staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Vorgehens erwecken den Eindruck, dass es nicht nur um die Zerschlagung eines kriminellen Netzwerkes geht.
Rachefeldzug der Regierung?
Neben Militärs, Geheimdienstlern und Kriminellen, schlossen die Verhaftungswellen auch Juristen, Publizisten, Hochschullehrer, Politiker und Gewerkschafter ein, die behaupteten, Ergenekon sei ein Rachefeldzug der Regierung. Unter den Beschuldigten sind auch prominente Persönlichkeiten, Wortführer des nationalistischen Lagers.
Die Beweise, dass diese Personen sich in einer Terrorgruppe engagierten, sind dürftig. Auch einer der Hauptkronzeugen, ein in Kanada lebender Spitzel, ist höchst unglaubwürdig.
Hinzu kommt, dass die türkischen Medien derzeit mit polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Verhörprotokollen und abgehörten Telefongesprächen überflutet werden, bevor das Gericht sie zu Augen bekommt. Es sind vor allem regierungsfreundliche Medien, die sich derzeit um Enthüllungen im Ergenekon-Prozess reißen.
So erstaunt es nicht, dass der Ergenekon-Prozess die Gesellschaft spaltet. Der türkische Oppositionsführer Deniz Baykal richtete bereits vor kurzem schwere Vorwürfe an die Adresse der türkischen Regierung.
Klima der Angst und Diffamierung
Sie versuche "ein totalitäres Regime" zu installieren, so der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP). Wie beim Reichstagsbrand, den die Nationalsozialisten inszenierten um ihn der Opposition in die Schuhe zu schieben, versuche die Regierung die demokratische Opposition mundtot zu machen. "Anständige Bürger" und "Intellektuelle" würden der Kollaboration mit Terroristen bezichtigt.
Während der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan sich demonstrativ hinter den zuständigen Staatsanwalt und die Polizei stellt – Erdogan sprach davon, dass man der Polizei Applaus zollen müsse – vergleichen regierungskritische, türkische Kolumnisten das Geschehen mit der Mc Carthy Ära.
Sie verweisen zum Beispiel auf Kemal Gürüz, der zwischen 1995 und 2003 Vorsitzender des mächtigen Hochschulrates war. Er wurde festgenommen, jedoch vom Haftrichter wieder freigelassen.
Als Vorsitzender des Hochschulrates setzte Gürüz das Kopftuchverbot an Universitäten durch. Die Amtsenthebung des Rektors der Universität Kirikkale aufgrund seiner politischen Nähe zur islamistischen Bewegung vor zehn Jahren, geht auf ihn zurück. Der ehemalige Rektor Besir Atalay ist heute Innenminister der Regierung Erdogan.
Unter Ergenekon-Verdacht durchwühlten Polizisten die Wohnung des ehemaligen Oberstaatsanwaltes Sabih Kanadoglu, eines ausgewiesenen Kritikers der Regierungspartei.
Absurde Verschwörungstheorien
Dabei hatte Kanadoglu entscheidenden Anteil an der Verurteilung Sahins im Susurluk-Prozess. Auch Personen, wie den verhafteten, ehemaligen marxistischen Hochschullehrer Yalcin Kücük, kann man sich schwerlich als Mitglied einer Terrorgruppe vorstellen. Kücük ist ein Politclown, der in Fernsehsendungen und Artikeln die absurdesten Verschwörungstheorien verbreitete.
Das Ausmaß politischer Einflussnahme zeigt sich auch im Falle zweier ehemaliger hochrangiger Generäle, die festgenommen wurden. Nach einem außerplanmäßigen Treffen zwischen Generalstabschef Ilker Basbug und Ministerpräsident Erdogan kamen die Generäle frei, ohne einem Haftrichter vorgeführt zu werden. Dass ein Machtwort der Militärs den Ermittlungen Grenzen setzt, stimmt bedenklich.
Dass viele prominente ideologische Wortführer des türkischen Nationalismus einer geheimen Terrorgruppe angehören sollen, erscheint auch recht abwegig.
Sollte der Prozess von der Regierung politisch gesteuert werden, um dem nationalistischen Lager, das über eine starke Basis in der Gesellschaft verfügt, den Garaus zu machen, wäre wohl eine weitere Chance vertan, mit der blutigen Vergangenheit abzurechnen.
Ömer Erzeren
© Qantara.de 2009
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