Das Militär auf der Anklagebank

Erstmals in der Geschichte der türkischen Republik standen in der letzten Woche zwei prominente Ex-Generäle vor einem zivilen Gericht, um sich wegen eines versuchten Putsches gegen die gewählte Regierung zu verantworten. Aus Istanbul informiert Jürgen Gottschlich.

Erstmals in der Geschichte der türkischen Republik standen in der letzten Woche zwei prominente Ex-Generäle vor einem zivilen Gericht, um sich wegen eines versuchten Putsches gegen die gewählte Regierung zu verantworten. Einzelheiten von Jürgen Gottschlich aus Istanbul.

Angeklagter Ex-General Sener Eruygur; Foto: AP
General Sener Eruygur, der vor seiner Pensionierung Chef der Gendarmerie war, wird vorgeworfen, Pläne für einen Putsch gegen die religiös-konservative Erdogan-Regierung geschmiedet zu haben.

​​ Zusammen mit 54 weiteren Angeklagten wird den beiden Ex-Generälen Hursit Tolon und Sener Eruygur vorgeworfen, in den Jahren 2003 und 2004 einen Putsch gegen die Ende 2002 neu gewählte islamische Regierung von Tayyip Erdogan geplant zu haben und auch anschließend weiter an führender Stelle eine Geheimorganisation geleitet zu haben, die durch Terroranschläge den Boden für einen Putsch bereiten wollte.

Dass der Prozessauftakt in der türkischen Öffentlichkeit fast wie ein Ereignis unter anderen registriert wurde, liegt daran, dass in den Wochen und Monaten zuvor die Unantastbarkeit des Militärs bereits nachhaltig erschüttert worden war.

Der "Ergenekon-Komplex"

Der Prozess gehört zum so genannten "Ergenekon-Komplex", der die Türkei bereits seit mehr als zwei Jahren beschäftigt. Ergenekon ist der Deckname einer ultranationalistischen säkularen Geheimorganisation, mit vielfältigen Verbindungen zum Militär und zum alten kemalistischen Establishment der Republik.

Laut Staatsanwaltschaft wurde Ergenekon zwar gegründet, um die islamische Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan und Präsident Abdullah Gül zu stürzen, doch Ergenekon ist mittlerweile längst eine Chiffre für den "tiefen Staat" insgesamt geworden.

Seit in der Türkei zu Beginn der 1950er Jahre im letzten Jahrhundert ein Mehrparteiensystem und entsprechend demokratische Wahlen eingeführt wurden, hat das Militär drei Mal geputscht, um das kemalistische Erbe zu retten und sich selbst als wahrer Hüter der Republik zu präsentieren.

Fast jedem ist in der Türkei bekannt, dass es neben den gewählten Regierungen und offiziellen Institutionen ein militärisch-bürokratisches Netzwerk gibt, das "tiefer Staat" genannt wird und das immer wieder intervenierte, um "die wahren Interessen" des Landes zu schützen. Dabei nahm man auch Opfer bewusst in Kauf.

Wie eine Hydra

Berüchtigt sind etwa die Killerkommandos, die zu Beginn der 1990er Jahre hunderte Kurden verschwinden ließ, denen man eine Unterstützung der PKK-Guerilla vorwarf. Verwickelt in diese Morde waren immer ehemalige Militärs und Geheimdienstler aber auch Politiker und hohe Bürokraten.

Demonstration für Tuncay Ozkan, einer der 56 Angeklagten im Ergenekon-Prozess, vor dem Silivri-Gefängnis in Istanbul; Foto: AP
Solidaritätsdemonstration für den Journalisten Tuncay Ozkan, einer der 56 Angeklagten im Ergenekon-Prozess, vor dem Silivri-Gefängnis in Istanbul

​​ Das alles spielt nun aktuell im Ergenekon-Prozess eine Rolle und macht den Versuch der juristischen Aufarbeitung der dunklen Seite der jüngeren Republikgeschichte so komplex. Der erste Prozess mit 86 Angeklagten, darunter Bürokraten, Politiker und Journalisten begann bereits im Herbst 2008 und war der eigentliche Auftakt.

Damals sparte man die hohen Ex-Militärs noch aus. Doch sie sind in der zweiten Anklagewelle nun mit dabei. Fast gleichzeitig wurde noch einmal gegen mehr als 50 Verdächtige Anklage erhoben. Der Prozess dieser dritten Welle soll in diesem Herbst beginnen.

Abrechnung mit dem "tiefen Staat"

Damit ist der Ergenekon-Komplex tatsächlich so etwas wie eine Abrechnung mit dem "tiefen Staat" und der Rolle, die das türkische Militär sich über Jahrzehnten angemaßt hatte.

Nach diesen Prozessen, davon sind alle Kommentatoren überzeugt, wird es in der Türkei keinen Putsch mehr geben und das Militär endgültig den Primat der Politik akzeptieren müssen. Das ist ein gewaltiger Fortschritt der auch genau den Forderungen entspricht, die die EU an ihren Beitrittskandidaten Türkei stellt.

Sieg der AKP bei den Wahlen im Mai 2009; Foto: dpa
Kampf gegen das alte kemalistische Establishment: Als die AKP Erdogans nach ihren Wahlsiegen politisch fest im Sattel saß, begannen die Ergenekon-Ermittlungen, schreibt Gottschlich.

​​ Doch die Prozesse lassen auch Zweifel aufkommen, ob es tatsächlich im besten Sinne um eine demokratische Erneuerung geht. Bevor der Prozess gegen Tolon und Eruygur begann, die 2003 beide dem Generalstab angehörten, wurde die türkische Öffentlichkeit fast jede Woche mit neuen Ermittlungen, groß angelegten Razzien und Verhaftungen konfrontiert.

Auch ausgewiesene Demokraten die jeder Sympathie mit potentiellen Putschisten unverdächtig sind, waren entsetzt, mit welcher Brachialität die Polizei vorging.

Verhaftungen im Morgengrauen von bekannten Journalisten, Geschäftsleuten und Professoren, die man auch schlicht zu einem Gespräch ins Präsidium hätte bitten können, führten bald zu dem Verdacht, die Regierung befinde sich auf einem Rachefeldzug gegen alle politischen Gegner, weit über das Umfeld möglicher Verschwörer hinaus.

Widerstand gegen die AKP

Darüber hinaus stützt sich die Anklage häufig auf abgehörte Telefongespräche die in Deutschland vor Gericht gar nicht hätten genutzt werden dürfen oder sie beruft sich auf geheime Zeugen, die selbst in den Prozessen nicht erscheinen.

Mit dem Antritt der Regierung Erdogan und seiner aus dem politischen Islam kommenden AKP hatte in der Türkei tatsächlich ein echter Machtwechsel stattgefunden. Alle Parteien, die bis dahin das politische Establishment der Republik repräsentiert hatten, waren entweder ganz aus dem Parlament verschwunden oder in die Opposition verbannt.

Dieses Establishment wehrte sich verzweifelt gegen seine Entmachtung, bis hin zu dem Versuch, die AKP durch das Verfassungsgericht verbieten zu lassen. Doch Erdogan konnte alle Angriffe abwehren. Als dann die AKP fest im Sattel saß, begannen die Ergenekon-Ermittlungen.

Die Brisanz der Auseinandersetzung besteht zusätzlich darin, dass es bei dem Machtkampf nicht nur darum geht, wie die zivile Gesellschaft sich endlich gegen die Vormundschaft des Militärs durchsetzt, sondern dass dies unter der Führung einer religiösen Partei geschieht, die immer im Verdacht steht, die Vormundschaft des Militärs durch die Anweisungen des Korans zu ersetzen.

An den Schaltstellen der Macht

Zwar ist die Türkei weit davon entfernt das bürgerliche Gesetzbuch durch die Scharia zu ersetzen, aber es macht doch misstrauisch, dass die AKP jetzt, wo sie Macht hat, die undemokratischen, nach dem Militärputsch von 1980 eingeführten gesellschaftlichen Kontrollinstanzen nicht abschafft, sondern mit ihren eigenen Leuten besetzt.

Ein Beispiel unter vielen sind die Universitäten. Jahrelang hatte die AKP zu Recht den Hochschulrat kritisiert, ein beim Präsidenten angesiedelter politischer Rat, der sämtliche Universitäten überwacht und dafür sorgte, dass weder kritische linke, noch religiöse Professoren berufen wurden.

Über diesen Rat wurde auch die Einhaltung des Kopftuchverbotes an den Hochschulen kontrolliert. Jetzt hat die AKP den Hochschulrat mit ihren Leuten besetzt und sorgt nun dafür, dass die ihr genehmen Rektoren die Universitäten regieren.

Vor kurzem erst hat der Hochschulrat das dringende Anliegen der AKP erfüllt und beschlossen, dass künftig auch die Absolventen von Berufsschulen zur Ausbildung von Imamen unbeschränkten Zugang zu den Universitäten erhalten sollen.

Was der Türkei derzeit fehlt, ist eine schlagkräftige demokratische Opposition, die verhindert, dass die Entmachtung des Militärs, für die alle Demokraten des Landes seit Jahrzehnten gekämpft haben, nun durch eine Vormundschaft der Religiösen ersetzt wird.

Jürgen Gottschlich

© Qantara.de 2009

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