„Das kulturelle Gedächtnis der Araber”

Qantara: Herr Weidner, in Ihrem Buch „Der arabische Diwan” haben Sie den Gedichten jeweils Einführungen an die Seite gestellt. Darin vergleichen Sie die vorislamischen Gedichte mit den sozialen Medien von heute. Wie ist das zu verstehen?
Stefan Weidner: Auf der arabischen Halbinsel vor 1.500 Jahren war die Poesie sozusagen das offizielle Mittel, um sich untereinander – zwischen den Stämmen – zu verständigen. Sie wurde genutzt, um sich selbst darzustellen, politische Botschaften zu verbreiten, den eigenen Standpunkt klarzustellen, aber auch, um andere anzugreifen, zu beschimpfen, zu bedrohen. Die alte arabische Poesie wimmelt nur so vor Beleidigungen einerseits, Verkündung der eigenen Leistung andererseits. Trump hätte sich wohlgefühlt.
Gedichte dienten aber auch der Verarbeitung von Trauer oder als Liebesbrief. Poesie hat Reim und Metrum, sie ließ sich auch deswegen leicht verbreiten, weil sie gut im Gedächtnis zu behalten war. Poesie hat damals Funktionen übernommen, die heute unsere Medien ganz allgemein übernehmen.
Das ist der größte Unterschied zur Rolle der modernen Dichtung im Westen: Bei uns heute dient sie vor allem zum Ausdruck dessen, was sich in den übrigen Medien nicht sagen lässt, etwa komplexe Gefühle, tiefe Gedanken. Die Poesie ist bei uns von den anderen Medien im Lauf der Zeit zurückgedrängt worden. Bei den alten Arabern sehen wir die Poesie in ihrer ursprünglichen Fülle, und das ist ein faszinierendes Leseerlebnis.

Wonach entschied sich, welche dieser Verse erst mündlich weitergegeben und schließlich aufgeschrieben wurden – und wie viel ist heute vom Original noch übrig?
Es hat sich im Laufe der Zeit ein Kanon herausgebildet. Überdauert haben Texte, die als besonders wichtig oder als sprachlich besonders gelungen galten. Ferner solche, die das kulturelle Gedächtnis des Stammes, aus dem der Dichter kam, bewahrt haben. Also Texte, denen man historische Bedeutung zuschrieb.
Die Texte im Buch stammen aus dem sechsten und siebten Jahrhundert, spätestens ab dem achten wird man sie aufgezeichnet haben. Bis in unsere Zeit erhalten haben sich Manuskripte aus dem zehnten Jahrhundert, aber wir wissen, dass die Aufzeichnung früher begann.
Früher gab es Diskussionen darüber, wie viele Verse wirklich auf vorislamische Zeit zurückgehen. Heute geht die Wissenschaft davon aus, dass der Großteil dieser Verse authentisch ist. Aber es gibt Ausnahmefälle wie die Gedichte des Liebesnarren Madschnun, der seine Geliebte Laila besang. Diese Texte waren überaus populär. Was davon Madschnun selbst verfasst hat und was dem Dichter von begeisterten Nachahmern später in den Mund gelegt wurde, lässt sich heute kaum noch sagen.
Sie sprechen von einem etablierten Kanon. Sind die Gedichte in der arabischen Welt heute noch bekannt? Welche Rolle spielen sie für die heutige arabische Dichtung?
Es sind Klassiker, die an Schulen und Universitäten unterrichtet werden. Die alte Dichtung gilt bis heute als das kulturelle Gedächtnis der Araber. Die Poesie ist der Diwan, also das kulturelle Archiv der Araber, heißt es in einem alten Spruch. Darauf spielt auch der Titel des Buchs an: Der arabische Diwan.
Das Wort diwan kann Behörde, Versammlungsort, Archiv, aber ebenso Gedichtband bedeuten. Auch die offizielle Politik besinnt sich inzwischen wieder auf das vorislamische Erbe und fördert es aktiv, etwa durch Literatur- und Übersetzungsförderung. Man setzt nicht mehr nur auf den Islam, der politisch problematischer ist als die alte Poesie. Bis heute stehen Literatur und Poesie für die säkulare Tradition der arabischen Kultur.
Sie sagten, die Texte stammten aus dem sechsten und siebten Jahrhundert, also aus der Zeit unmittelbar vor dem Wirken des Propheten Mohammed beziehungsweise bereits während des Aufkommens des Islam. Inwiefern sind diese Gedichte noch vorislamisch?
Rein chronologisch betrachtet endet die vorislamische Epoche mit dem Auftreten des Propheten Muhammads im Jahr 610, aber faktisch gibt es Überlappungen. Viele dieser Dichter waren schon zuvor bekannt, haben aber Muhammad noch erlebt. Abgesehen von einem berühmten Huldigungsgedicht an ihn haben die ausgewählten Gedichte aber nichts mit dem Islam zu tun. Wenn sie überhaupt darauf anspielen, distanzieren sie sich eher von der neuen Religion. Vorislamisch ist im Buch als 'nicht islamisch geprägt' zu verstehen.

Was verraten uns die Gedichte über ihre Zeit und Gesellschaft?
Es sind sehr konkrete Texte, die die Umwelt und die arabische Stammeskultur ihrer Zeit beschreiben, die Familienstrukturen, die Kriege, die rauen Sitten. Die Jagd und der Alltag kommen vor, die Seefahrt, die Wüstenhitze, es werden Liebesgeschichten erzählt. Der Realismus und die detailgetreue Darstellung des damaligen Lebens in allen seinen Aspekten, das macht die Faszinationskraft dieser Literatur aus.
Im Gegensatz zur Poesie späterer Zeit, sei es im muslimischen Raum, sei es in Europa, gibt es keinen hochkulturellen Überbau, der die bloße Existenz dieser Menschen zivilisatorisch abfedert und überformt. Die alte arabische Dichtung ist archaisch und direkt wie kaum eine andere, wenn es um Hass, Liebe, Natur, Sexualität und viele weitere Themen geht.
Was aber wichtig ist: Viele der Motive und literarischen Formen der alten Araber fanden im Zuge der Ausbreitung des Islam ihrerseits größere Verbreitung, wurden in der persischsprachigen Welt und schließlich in Europa gelesen, entfalteten großen Einfluss. Das berühmteste Beispiel ist der Laila-und-Madschnun-Mythos, der in unzähligen Epen zunächst auf Persisch und dann in zahlreichen weiteren muslimisch geprägten Sprachen weitergedichtet wurde.

"Fanatismus der Liebe"
Die Ruhrtriennale 2010 wurde mit einem Musiktheaterstück über "Leila und Madschnun" eröffnet. Schwerpunkt des Festivals ist die islamische Kultur.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Texte für dieses Buch ausgewählt?
Grundlage war der bereits erwähnte Kanon, der sich im Laufe der arabischen Literaturgeschichte herausgebildet hat. Die Araber haben früher Ranglisten mit ihren besten Dichtern und Gedichten erstellt und viel darüber diskutiert und gestritten, welche Dichter die größten sind. Daraus ist übrigens die mittelalterliche arabische Literaturwissenschaft entstanden.
Ferner habe ich geschaut, welche dieser Gedichte in der westlichen arabistischen Forschung, zu der ich mich selber zähle, als bedeutend gelten. Eine weitere Frage war: Was kann ich persönlich nachempfinden, und was wird auf Deutsch gut funktionieren?
Schließlich wollte ich auch an die abendländische Übersetzungsgeschichte anknüpfen, denn die früheren Übersetzungen etwa von Goethe, der aus Drittsprachen übersetzt hat, oder von Friedrich Rückert (deutscher Orientalist, 1788-1866) wirken heute veraltet und werden nicht mehr gelesen.
Es fällt auf, dass Sie im Gegensatz zu Goethe und Rückert auf Reime weitgehend verzichten.
Das stimmt nicht ganz, vielmehr wechselt die sprachliche Form von Text zu Text. Ich habe sogar öfter gereimt, als ich es ursprünglich für möglich hielt – einfach, weil es oft sehr leicht war und gut passt.
Priorität hat bei mir aber eine zeitgemäße Sprache. Selbst Rückert hat sich nur selten an die formalen Vorgaben des Originals gehalten. Aus den altarabischen Monoreimen hat er Paarreime gemacht. Die langen arabischen Verse hat er aufgeteilt und so weiter. Letztlich hat er in die Sprache der deutschen Romantik übersetzt. Goethe hat in seinen Nachdichtungen aus orientalischen Sprachen gar keine Reime benutzt, sondern auf freie Rhythmen gesetzt.
So betrachtet ist meine Übersetzung eine Mischung aus Rückert und Goethe, aber mit der Sprache des 21. Jahrhunderts. Ich war selbst überrascht, wie gut es funktioniert, diese alten Texte in eine moderne Sprache zu übertragen.
Empfiehlt es sich nicht, mehrere Übersetzungen zu lesen, um einen Eindruck vom Original zu erhalten?
Kommt drauf an, was man will. Im Zweifel stiftet das eher Verwirrung, weil man mehr über die jeweiligen Übersetzungsvorlieben früherer Epochen erfährt als über das Original, zumal unsere alten Übersetzer oft eine schlechtere Textgrundlage hatten als wir heute und sie natürlich auch Fehler gemacht haben.
Wer ohne Arabisch zu können möglichst nah an das Original herankommen will – und die Verständnisschwierigkeiten erahnen möchte! –, kann eine Interlinearübersetzung (Wort-für-Wort-Übersetzung, d. Red.) hinzuziehen, wie sie von Arabisten vor hundert Jahren angefertigt worden sind. Wer das tun möchte, findet entsprechende Literaturhinweise im ausführlichen Anhang meines Buchs. Aber das ist mehr für die Spezialisten als für allgemein interessierte Leserinnen und Leser. Die möchte ich mit meinem Buch ja vor allem ansprechen, genauso wie Studierende und andere Interessierte, die kein Arabisch können.
Der arabische Diwan: Die schönsten Gedichte aus vorislamischer Zeit
Die Andere Bibliothek
Dezember 2024
420 Seiten
© Qantara