"Es ist an der Zeit, diesen Krieg zu vergessen"
In der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region Berg-Karabach ist der Krieg zwar längst Vergangenheit, der Konflikt schwelt jedoch weiter: Sowohl Armenier als auch Aserbaidschaner sind bereit, wieder Krieg zu führen, wenn es dazu kommt. Andreas Brenner mit einer Reportage aus Berg-Karabach.
Zu Zeiten der UdSSR wurde das autonome Gebiet, das ungefähr zwei Mal größer ist als Saarland, Teil der aserbaidschanischen Sowjet-Republik. Damals stellten Aserbaidschaner ein Viertel der Bevölkerung von Berg-Karabach.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion führten die ethnischen Spannungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern in den beiden Republiken Armenien und Aserbaidschan und in Berg-Karabach zu einem blutigen Krieg, der durch die Unabhängigkeits-Erklärung von Berg-Karabach 1991 weiter eskalierte.
1994 wurde ein Waffenstillstand vereinbart. Seitdem werden unter Obhut der OSZE Friedensverhandlungen geführt – bislang jedoch ohne durchgreifenden Erfolg. Inzwischen leben kaum noch Aserbaidschaner in Armenien und in Berg-Karabach.
"Karabach" – der "schwarze Garten"
"Gandzasar", Berg der Schätze – so lautet die Übersetzung aus dem Armenischen für eines des ältesten Klosters im Südkaukasus. Eine prachtvolle Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert, umrahmt von einer einzigartigen Bergkulisse, steht auf der Spitze eines Hügels.
Weiter unten im Tal liegt das Dorf Vank. 16 Zivilisten und 36 Soldaten aus diesem Dorf kamen während des Krieges um Berg-Karabach ums Leben. Sie sind hier auf einem Friedhof hinter der Klostermauer begraben. Auf den Grabsteinen sind die Porträts der Kämpfer in voller Größe und in Militär-Uniform eingemeißelt.
Den dreijährigen Krieg haben die Armenier für sich entschieden. Damals, Anfang der 90er Jahre, starben verschiedenen Angaben zufolge zwischen 25.000 und 50.000 Menschen. So wurde der Name "Karabach", was "schwarzer Garten" bedeutet, für beide Seiten zu einem tragischen Omen.
Wirtschaftliche Gegensätze
Im Gegensatz zu den umliegenden Gebäuden wurde die Kathedrale von Gandzasar – trotz des Beschusses – wie durch ein Wunder nicht zerstört. Für die Restaurierung der Anlage hat der in Russland lebende Unternehmer armenischer Herkunft, Levon Airapetjan, viel Geld gespendet. Ihm gehören mehrere Unternehmen in seinem Heimatdorf Vank.
Nur wenige Kilometer von Vank entfernt stehen sich noch immer zwei verfeindete Armeen gegenüber, die eine aus Aserbaidschan und die andere aus der selbst ernannten Republik Berg-Karabach. Aber in Vank spürt man nichts davon. Denn Vank ist ein reiches Dorf, geplant sind umfangreiche Projekte, wie der Bau von Straßen, einer Schule und eines Krankenhauses.
Weniger Glück haben dagegen die Einwohner von Stepanakert – der Hauptstadt von Berg-Karabach. Sie ist 50 Kilometer von Gandzasar entfernt. Die große Schuhfabrik in Stepanakert ist geschlossen, da es zurzeit keine Aufträge gibt.
In der benachbarten Milchfabrik ist die Lage nur wenig besser. In der Sowjetzeit, aus der noch die ganze Fabrik-Einrichtung stammt, erhielt die Molkerei 100 Tonnen Milch am Tag zur Verarbeitung. Davon kann der Direktor, Arkadij Grigorjan, heute nur träumen.
Seine Hoffnungen knüpft er daher an ausländische Investoren. Bald – versichert Grigorjan – werde die Fabrik wieder schwarze Zahlen schreiben. Vielleicht verdienen dann seine Mitarbeiter mehr als die heutigen 100 Dollar im Monat.
Minensuche als lohnendes Geschäft
Dreimal soviel Lohn erhalten die Minensucher von "The Halo Trust". Die britische Nichtregierungsorganisation setzt sich weltweit für das Aufspüren und die Beseitigung von Minen ein. Seit 2000 ist "The Halo Trust" mit fast 200 Mitarbeitern in Berg-Karabach vertreten.
Noch gibt es viel zu tun. "Die Gesamtfläche, die wir im letzten Jahr gesäubert hatten, beträgt fünf Millionen Quadratmeter", erklärt Jurij Schachramanjan, Offizier für operative Einsätze der Organisation. "Wir haben etwa 1.500 Minen geräumt, darunter – 148 Anti-Panzerminen – der Rest sind Anti-Personenminen."
Zwölf Zivilisten, darunter fünf Kinder, sind im letzten Jahr durch Explosionen von Anti-Personen-Minen verletzt worden, zwei sind gestorben, berichtet Schachramanjan. Nach Einschätzung von "The Halo Trust" werden die Minensucher noch fünf bis sechs Jahren in Berg-Karabach beschäftigt sein.
Aber das heißt noch lange nicht, dass es danach keine Minen mehr gibt. Große Minenfelder bleiben dort bestehen, wo die aserbaidschanische Armee und die Armee von Berg-Karabach aufeinander treffen. Denn obwohl der Konflikt als beruhigt gilt, ist er noch lange nicht gelöst.
"Leider gibt es nicht nur in Berg-Karabach immer noch viele Minen", berichtet der studierte Philologe Jurij Schachramanjan, der zum Minensucher ausgebildet wurde.
Unsicherheitsfaktor für die Wirtschaft
Wenige Kilometer nördlich von Berg-Karabach verläuft eine – aus geopolitischer Sicht – strategisch bedeutende Pipeline. Durch sie wird das kaspische Öl aus Aserbaidschan über Georgien und die Türkei weiter in den Westen transportiert.
Ein ungelöster Konflikt in unmittelbarer Nähe zur Pipeline, die mit Hilfe von den USA und Großbritannien gebaut wurde, stellt einen Unsicherheitsfaktor dar – nicht nur für den Südkaukasus.
Eine Milliarde Dollar beträgt der Etat des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums. So viel Geld haben Armenien und Berg-Karabach nicht.
20.000 Mann stehen unter Waffen – eine große Anzahl angesichts der Tatsache, dass in Berg-Karabach nicht mehr als 150.000 Menschen leben. Fakt aber ist, dass alle erwachsenen Männer Reservisten sind, die mehrmals im Jahr an militärischen Übungen teilnehmen müssen.
Sowohl Armenier, als auch Aserbaidschaner sind bereit, wieder Krieg zu führen, wenn es dazu kommt. Deswegen sind die Militär-Parolen aus Baku, Stepanakert oder Eriwan durchaus ernst zu nehmen. Dennoch gibt es Hoffnung auf Frieden. Immerhin haben die gegnerischen Seiten seit fast 13 Jahren den Waffenstillstand eingehalten – ohne die Hilfe von UN-Truppen.
Ende 2006 geriet die Region erneut kurz in den Blickwinkel der Weltöffentlichkeit: Am 10. Dezember wurde ein Referendum über die Verfassung der selbst ernannten Republik abgehalten. Dies führte zur heftigen Kritik seitens europäischer Organisationen und Enttäuschung bei der Führung in Berg-Karabach.
Die Abstimmung über die Verfassung in Berg-Karabach betrachtet Aserbaidschan als eine Verletzung des Völkerrechts. Dass aber die internationalen Organisationen das Referendum verurteilen, finden Politiker, wie Vize-Außenminister Massis Mailjan, ungerecht.
Unterstützung für die junge Demokratie
In dieser Hinsicht sind sich Regierung und Opposition, dessen Vertreter im Parlament Gegam Bagdasarjan ist, einig: "Ich weiß nicht, was die Weltöffentlichkeit will", fragt sich Bagdasarjan. "Soll etwa Berg-Karabach eine Kaserne bleiben? Ich verstehe nicht, warum das Streben nach Demokratie bei einer der Konfliktparteien negative Auswirkungen auf die Friedensverhandlungen haben könnte?"
Für mehr Demokratie und Menschenrechte setzt sich in Berg-Karabach das Komitee "Helsinkier Initiative 92". Dessen Vorsitzender Karen Ogandschanjan hat eine eigene Vision, wie der Konflikt um Berg-Karabach beigelegt werden kann.
Er ist der Ansicht, dass die internationale Gemeinschaft für fünf Jahre die Unabhängigkeit von Berg-Karabach anerkennen sollte. Dafür müssten Bedingungen für die Rückkehr aserbaidschanischer Flüchtlinge geschaffen und eine gemeinsame Regierung gebildet werden.
Ferner sollte ein Vertreter der armenischen Mehrheit für ein Jahr Präsident werden, und ein Vertreter der aserbaidschanischen Minderheit Ministerpräsident. Nach einem Jahr sollten sie die Posten untereinander tauschen.
Nach Meinung des Menschenrechtlers ist in diesen fünf Jahren die Europäische Union aufgerufen, der jungen Demokratie vor allem finanziell unter die Arme zu greifen. Sollte aber die armenische Seite einen neuen Gewaltausbruch verantworten, müsse Berg-Karabach zu Aserbaidschan zurückkehren.
Zeige sich aber, dass in der Republik das friedliche Zusammenleben von Armeniern und Aserbaidschanern möglich sei, bleibe Berg-Karabach unabhängig - so der Vorschlag von Ogandschanjan.
Doch solche Ideen finden keine Unterstützung – weder in Stepanakert, noch in Eriwan oder in Baku. Auch die Reisen nach Aserbaidschan, die Karen Ogandschanjan noch vor wenigen Jahren mit Hilfe internationaler Organisationen machen konnte, stoßen inzwischen auf Argwohn, sowohl bei Armeniern als auch bei Aserbaidschanern.
Flucht der Aserbaidschaner
Wegen der Verschärfung des Tons bei den Friedensverhandlungen sind solche Reisen jetzt unmöglich. Im Jahr 2000 konnte auch Almaz Antonowa den Menschenrechtler nach Baku begleiten. Sie ist Lehrerin für russische Sprache und Literatur und sie ist Halb-Aserbaidschanerin. Die aserbadschanische Minderheit zählt heute in Stepanakert nur noch etwa 100 Menschen. Im Gegenzug zu anderen verbirgt Almaz Antonowa ihre Herkunft nicht:
Für Almaz Antonowa ist es einfach nachzuvollziehen, weshalb sie in Stepanakert geblieben ist, während fast alle Aserbaidschaner Berg-Karabach verlassen haben: "Mein Mann ist Armenier, meine Kinder sind Armenier, wohin hätte ich gehen sollen?", fragt sie und fügt rasch hinzu: "Nur wenn ich hier verfolgt worden wäre, wäre ich gezwungen, aus Berg-Karabach zu flüchten, so wie meine Mutter und Geschwister dies getan haben."
Aber das sei nicht nötig, versichert Antonowa. Vielleicht weil ihr Mann, ein Bauingenieur, von vielen respektiert wurde. Oder vielleicht, weil sie perfekt Armenisch spricht.
Im ersten Stock der Schule, in der Almaz Antonowa unterrichtet, kann der Besucher eine Gedenktafel sehen. Auf ihr sind etwa 70 Fotos von Schülern, die während des Krieges gefallen sind: "Das armenische Volk, das ist das Volk meines Vaters, und das aserbaidschanische das meiner Mutter. Man kann doch nicht zwischen Vater und Mutter entscheiden", sagt sie.
Eine andere Entscheidung hingegen haben die jungen Armenier in Berg-Karabach getroffen. Sie verstehen sich als Bürger des Staates Berg-Karabach, wie etwa der 24jährige IT-Spezialist Marut.
Die Probleme der selbst ernannten Republik sind für die jungen Leute noch längst gelöst. Doch vielleicht ergeben sich positive Veränderungen, wenn die Welt die Unabhängigkeit von Berg-Karabach anerkennt – so hoffen sie zumindest.
Und immer sprechen sie über den letzten Krieg – so auch Marut: "Natürlich vergisst man das alles nicht. Nun gewöhnen wir uns auch an ein anderes Leben. Aber sucht man im Internet nach Berg-Karabach, wird dort nur über den Krieg erzählt. Seitdem hat sich aber viel geändert. Es ist an der Zeit, diesen Krieg zu vergessen."
Andreas Brenner
© DEUTSCHE WELLE 2007
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