„Deutschland stellt sich blind und taub“
Der Konflikt um Bergkarabach brodelt seit Jahrzehnten. Warum dauert es so lange, um eine Lösung zu finden?
Ilias Uyar: Die Lösung heißt Frieden und Sicherheit für die Menschen in Bergkarabach. Dafür haben sich die internationale Gemeinschaft und die Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in den letzten Jahren nicht stark genug eingesetzt.
Die Menschen in Bergkarabach berufen sich auf ihr Selbstbestimmungsrecht, wie es Artikel Eins der Charta der Vereinten Nationen aufführt. Die territoriale Integrität, auf die sich Aserbaidschan beruft, beruht auf einer Entscheidung des Diktators Stalin, der Bergkarabach eigenmächtig an Aserbaidschan abgetreten hat.
Eben dieses oberste Völkerrechtsprinzip, das Selbstbestimmungsrecht der Bergkarabach-Armenier, wurde durch Aserbaidschan Ende der 1980er Jahre mit Pogromen und immer wieder mit Angriffen und Krieg beantwortet.
Seither hat sich die Republik Arzach, also Bergkarabach, als demokratischer Staat etabliert. Es gibt Wahlen, es gibt ein Parteiensystem, Universitäten, Schulen, kulturelle Einrichtungen und die politisch Verantwortlichen sind nicht miteinander verwandt. Es gibt keinen Familienclan, der alles beherrscht. Aserbaidschan ist das genaue Gegenteil.
Trotzdem wird Bergkarabach völkerrechtlich nicht anerkannt...
Uyar: Juristisch sind dafür alle Voraussetzungen gegeben, es fehlt der internationale politische Wille. Die Anerkennung wird vom Ölstaat Aserbaidschan mit Geld, Lobbyfirmen aus der Washingtoner K Street und der berühmten Kaviardiplomatie torpediert.
Aus den Recherchen von fünfzehn internationalen Medienhäusern des Global Anti-Corruption Consortium wissen wir, dass Aserbaidschan in den USA , der EU und in Deutschland Abgeordnete bestochen und Entscheidungsträger manipuliert hat.
Stimmen für den Frieden im Abseits
2016 sagte der ehemalige armenische Außenminister Vartan Oskanian in einem Interview: „Entscheidend wird sein, die Mentalität des Kriegszustandes zu überwinden. Letztlich glaube ich an eine Versöhnung.“ Der aserbaidschanische Abgeordnete Rasim Musabeyov äußerte sich ähnlich, er sagte: „Ich möchte daran glauben, den Frieden mit eigenen Augen zu sehen.“ Wenn wichtige Akteure auf beiden Seiten sagen, dass sie Frieden wollen, warum ist der Konflikt dann erneut explodiert?
Uyar: Das liegt ganz wesentlich am Einfluss der Türkei. Der türkische Präsident Erdogan und der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev sind Brüder im Geiste. Es geht ihnen nicht um das Wohl ihrer Länder, sondern um den Machterhalt ihrer Regime mit allen Mitteln. Beide Länder sind in einer wirtschaftlich prekären Situation, sie setzen darauf, dass der Krieg sie innenpolitisch zusammenschweißt.
Die Stimmen, die für friedliche Lösungen plädieren, werden in beiden Ländern mundtot gemacht. In der Türkei lässt Erdogan seit Jahren Oppositionelle verfolgen und verhaften, Aliyev macht es genauso. In Aserbaidschan wurde der Schriftsteller Akram Aylisli verfemt. Ihm wurden alle Titel aberkannt, nachdem er sich 2012 in seinem Roman „Steinträume“ kritisch mit den Pogromen an den Armeniern auseinandergesetzt hatte.
Der Menschenrechtler Giyas Ibrahimov hat sich bei Kriegsbeginn öffentlich für Frieden ausgesprochen und daraufhin Besuch von der aserbaidschanischen Polizei bekommen. Auf solche Stimmen sollte man hören, aber genau das will das Alijew-Regime verhindern.
Die Minsk-Gruppe der OSZE versucht seit 1992, in diesem Konflikt zu vermitteln. Ist dieses Vorhaben nun gescheitert?
Uyar: Es wurden drei Waffenruhen auf Betreiben Frankreichs, der USA und Russlands vereinbart. Doch Aserbaidschan hat kein Interesse daran, dass die Waffen schweigen. Nachdem sich in Genf die Außenminister Armeniens und Aserbaidschans getroffen hatten, twitterte Carl Bildt: „Armenien will einen Waffenstillstand, Aserbaidschan will den Sieg.“
Frieden ist für Aserbaidschan keine Option. Aserbaidschans Militärhaushalt ist größer als der gesamte Staatshaushalt Armeniens. Aliyev glaubt, mit Hilfe von israelischen und türkischen Drohnen militärisch gewinnen zu können.
Israelische Waffenlieferungen an Aserbeidschan
Warum unterstützt ausgerechnet Israel diese Aggression?
Uyar: Israel beruft sich auf vertragliche Vereinbarungen mit Aserbaidschan über Waffenlieferungen. Das ist zynisch. Israel verspielt damit jeden moralischen Anspruch. Heute schießen die türkischen Enkel der Täter des Völkermordes von 1915 mit israelischen Waffen auf die Enkel der Überlebenden. Trotz dieser bedrohlichen Lage hat Israel mehrfach Aufforderungen ignoriert, keine weiteren Waffen als Nachschub für diesen Krieg zu liefern. Das macht fassungslos.
Welche Rolle spielt die Türkei als enger Verbündeter Aserbaidschans?
Uyar: Die Türkei hat nach Gefechten im Sommer Kampfflugzeuge und hochrangige Offiziere nach Aserbaidschan verlegt, die Waffenverkäufe sind explodiert. Der Luftraum über Aserbaidschan wird von türkischen Offizieren überwacht, die Türkei hat verbündete Dschihadisten aus Syrien in die Region geschickt, die nun dort in ihrem Namen morden.
Ein von armenischen Kräften gefangener Dschihadist hat ausgesagt, dass den Kämpfern 100 Dollar für den Kopf eines jeden getöteten Armeniers gezahlt werden. Die Türkei, ein Nato-Partner und EU-Beitrittskandidat, ist damit eine aktive Partei in einem völkerrechtswidrigen Krieg.
Aus der Türkei, die den Genozid an den Armeniern von 1915 bis heute leugnet, kommt nun erneut scharfe Rhetorik. Im Sommer sprach der türkische Präsident Erdogan bereits unmissverständlich davon, „zu beenden, was unsere Großväter im Kaukasus begonnen haben“. Ich habe den Eindruck, dass diese Drohungen in der EU nicht wirklich ernstgenommen werden. Wie ist das einzuschätzen?
Uyar: Die EU und auch Deutschland stellen sich blind und taub. Das scheint in Deutschland Tradition zu haben, wenn es um das Schicksal der Armenier geht. Das Schweigen erinnert mich nämlich an 1915. Die Bundesregierung hat offenbar andere Interessen. Sie will wohl den Flüchtlingsdeal mit der Türkei schützen, außerdem nehme ich an, dass sie Problemen mit Teilen der türkischen Gemeinde hierzulande aus dem Weg gehen möchte.
Die Rolle der türkischen Community
Auch in Deutschland macht die Ditib – wie schon als es gegen die Kurden ging – Stimmung für den Krieg...
Uyar: Was die Ditib in ihren Moscheen tatsächlich predigt, weiß ich nicht. Dass sie aber beim Einmarsch in Nord-Syrien für den Krieg gepredigt hat, ist bekannt. Ditib-Moscheegemeinden posten Kriegspropaganda zum Krieg in Bergkarabach in den sozialen Netzwerken, während die armenische Kirche in Deutschland Friedensgebete abhält.
Wenn die Bundesregierung hierzu schweigt, spielt sie Nationalisten und Hetzern in die Hände. Die verstehen das als Ermutigung zum Weitermachen. Die Bundesregierung trägt eine Mitverantwortung, wenn die Situation eskaliert. Es ist zynisch, wenn Ditib-Gemeinden als Kooperationspartner für Integrations- und Antirassismus-Projekte auch noch politisch gefördert werden. Wieso werden eigentlich in diesem Land türkische Organisationen und Verbände finanziell gefördert, die den Völkermord an den Armeniern leugnen?
Die französische Regierung hat die rechtsextremen Grauen Wölfe verboten, nachdem es Gewalt gegen Armenier in Frankreich gab. Wäre das für Deutschland auch eine Option?
Uyar: Das ist längst überfällig, zumal die Grauen Wölfe lange schon vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Im Sommer gab es bereits Angriffe auf armenische Geschäfte in Deutschland durch türkische und aserbaidschanische Extremisten. Auf diese Bedrohung hatte ich Anfang Oktober in der Bundespressekonferenz schon hingewiesen. Wir sollten nicht darauf warten, bis so etwas wie in Frankreich auch hier passiert. Die Bundesregierung muss ihre Untätigkeit aufgeben, dabei darf es aber keine Unterscheidung zwischen deutschen, türkischen und anderen Rechtsextremen geben. Die Organisationen der Grauen Wölfe gehören verboten.
Seit den 1990ern ist der Friedensprozess kaum vorangekommen. Ist er nun überhaupt noch möglich? Wie schätzen Sie die Zukunft der Region ein?
Uyar: Ich wünsche mir sehr, dass Frieden einkehrt, denn das ist die einzig realistische Option. Dafür arbeite ich tagtäglich. Die Armenier leben seit Jahrtausenden in Bergkarabach und werden sich auch weiterhin gegen Aggressionen wehren. Aber ich bin pessimistisch. Denn international werden die Armenier mit ihren Friedensbemühungen nicht gehört, nur der Aggressor mit seinem Öl und viel Geld.
Gerrit Wustmann
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