Unkonventioneller Orientalist der alten Schule
Viele nehmen für sich in Anspruch, die lange Zeit verstaubte deutsche Orientalistik für moderne Themen geöffnet und ihr politische Relevanz verliehen zu haben. Wenige dürften in diesem Bereich jedoch so nachhaltige Impulse gesetzt haben wie Gernot Rotter – der dabei auf eigentümliche Weise doch immer auch ein Orientalist alter Schule blieb. Wie jetzt bekannt geworden ist, starb der Islamwissenschaftler und Publizist bereits am 9. Juni. Er wurde nur 69 Jahre alt.
Der 1941 in Troppau (Schlesien) geborene Rotter war ein Kriegskind, und über den Krieg kam er auch zur Kritik: Nach einer klassisch-orientalistischen Ausbildung in Bonn, Köln und Tübingen wurde Rotter 1980 Direktor des Beiruter Orient-Instituts – mitten im libanesischen Bürgerkrieg. Dessen schlimmste Phase mit dem Einmarsch israelischer Soldaten und den Massakern von Sabra und Schatila erlebte er hautnah mit.
Später erzählte Rotter oft in launigem Ton Geschichten aus dieser Zeit – wie er nachts im Auto zufällig den "Spiegel"-Korrespondenten auf einer dunklen Straße auflas oder wie wieder einmal eine Granate in seiner Wohnung einschlug und "die ganze Wohnzimmereinrichtung demolierte". Doch die Jahre haben ihn tief geprägt. Einen ihrer beiden Söhne adoptierten Rotter und seine Frau im Libanon.
Beiruter Bomben und deutsche Friedenspolitik
Auch der Entschluss, sich politisch zu engagieren, sei in einer Bombennacht in Beirut gefallen, erzählte er einmal im Gespräch: "Ich saß mit meiner Frau im Keller, und es hat gekracht und gescheppert. Da haben wir uns gesagt: Wenn wir hier heil rauskommen, dann müsste einer von uns wirklich aktiv in die Politik gehen."
Zurück in Deutschland, schloss der Wissenschaftler sich der Friedensbewegung an und übernahm 1984 die neu geschaffene Professur für Gegenwartsbezogene Orientwissenschaft in Hamburg.
Eine Legislaturperiode lang, von 1987 bis 1991, diente er als Abgeordneter der Grünen in Rheinland-Pfalz, wo er einmal für einen Mini-Skandal sorgte, als er als Salier verkleidet im Landtag auftrat, um eine "Büttenrede" zu halten.
Generell hielt er es jedoch mehr mit den Sarazenen. In der von ihm begründeten "Bibliothek arabischer Klassiker" übersetzte Rotter zahlreiche Standardwerke der arabischen Literatur ins Deutsche mit dem expliziten Ziel, sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Ein politisch engagierter Intellektueller
Dass manche Kollegen ihm Theorieferne vorwarfen, störte ihn nicht, und sowieso verfehlte solche Kritik den Punkt. Der knurrige Rotter, bis vor wenigen Jahren stets mit Zigarette in der Hand, sah sich als politisch engagierten Intellektuellen, der ebenso hartnäckig gegen den Islamismus anschrieb wie gegen westliche Klischees vom Morgenland. Immer wieder attackierte er Samuel Huntington, dessen These vom Zusammenprall der Kulturen er für eine gefährliche "self-fulfilling prophecy" hielt.
Unschätzbar sind seine Verdienste für die deutsche Nahost-Publizistik. Nicht nur, dass er den vermeintlichen Islam-Experten Gerhard Konzelmann in seinem Buch "Allahs Plagiator" als Scharlatan enttarnte; Rotter zog als einer der ersten auch die logische Konsequenz: Die Orientalisten selbst müssen sich stärker in den Medien einbringen. Ein solches Engagement schien ihm selbstverständlich: "Ich finde, der Wissenschaftler hat eine Pflicht, der Öffentlichkeit etwas von dem Wissen, das er mithilfe von Steuergeldern erworben hat, zurückzugeben."
Zahlreiche von Rotters Schülern sind heute für deutsche Medien tätig, und auch die Orient-Zeitschrift "zenith" ist aus der Medien-affinen Atmosphäre an seinem Institut heraus entstanden.
Jenseits ausgetretener Pfade
Gernot Rotter war immer für eine Überraschung gut. Als wir ihn einmal um einen Beitrag für "zenith" baten, schickte er einen Artikel über die Liebe der Araber zum Knoblauch. Seit jeher bewegte er sich mit Vorliebe jenseits ausgetretener Pfade: Seine Doktorarbeit von 1967 hatte den Titel "Die Stellung des Negers in der islamisch-arabischen Gesellschaft", später erforschte er die Geschichte der Komoren.
In den letzten Jahren wandte der Orientalist sich aus familiärem Interesse der mährisch-schlesischen Landesgeschichte zu und schrieb – bestimmt mit diebischem Vergnügen – Zeitungsartikel über die Ortschaft Hotzenplotz. Wenn man ihn nach dem Antrieb für seine Arbeit fragte, antwortete Rotter jedoch zutiefst ernst "Frieden und Aufklärung".
Im Empfangsraum des Beiruter Orient-Instituts hängt eine Ahnengalerie mit Schwarz-Weiß-Fotografien großer deutscher Orientalisten. Nun wird auch Gernot Rotter seinen Platz unter ihnen einnehmen – im Kreise von Lehrern und Kollegen und im Herzen der geschundenen Stadt Beirut, deren schwerste Stunden er miterlebt hat.
Christian Meier
© Qantara.de 2010
Christian Meier ist Islamwissenschaftler und Mitherausgeber der Orient-Zeitschrift "zenith".
Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de
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