Türkei: Erdoğans Scherbenhaufen
Im Gegensatz zum deutschen oder italienischen Totalitarismus des 20. Jahrhunderts ging dem Abdriften der Türkei in eine Despotie im 21. Jahrhundert keine wirtschaftliche oder soziale Krise voraus. Im Gegenteil. "Die Türkei der frühen 2000er-Jahre war ein vielversprechendes Land, in dem es sich zu leben lohnte und dem eine strahlende Zukunft bevorstand", erinnert sich der türkische Wirtschaftswissenschaftler Cengiz Aktar.
Ein Reformgewitter fegte nach dem ersten Wahlsieg von Recep Tayyip Erdoğan vor fast 20 Jahren in der Türkei historische Tabus hinweg, die politische Patronage durch das Militär ebenso wie das Verbot des Kurdischen. Sein Land habe damals eine "beispiellose Metamorphose" erlebt, europäisch inspiriert und paradoxerweise von einer islamisch-konservativen Partei getragen, urteilt Aktar im Rückblick. Er lehrte in jenen Aufbruchsjahren an einer renommierten Istanbuler Universität.
Sein besonderes Interesse galt der Entwicklung der EU und den Dunkelfeldern der türkischen Geschichte, wie dem Genozid und dem Raubzug an den osmanischen Armeniern, der "Mutter aller Tabus", bewahrt durch staatlich verordnetes Schweigen und Leugnen. Zivilgesellschaftliche Initiativen hatten damit begonnen, die offizielle Erinnerungspolitik infrage zu stellen. Alles schien möglich zu sein.
Der Autor lebt im Exil
Inzwischen ist von dem türkischen Modell, das weit über die Landesgrenzen hinaus strahlte, nur ein Scherbenhaufen übrig. Aktars bittere Bilanz: Die Türkei befindet sich im Zustand des institutionellen, gesellschaftlichen und psychologischen Zerfalls. Der Autor, 1955 in Istanbul geboren, beobachtet die "türkische Malaise" inzwischen von außen. Er lebt in einem EU-Staat im Exil. Nach wie vor aber kommt er nicht los von seinem Land, er will wissen, wie es so weit kommen konnte, dass sämtliche Errungenschaften der Demokratisierungsepoche "in einem atemberaubenden Tempo" seit etwa 2010 wieder rückgängig gemacht wurden. Was also lief schief?
Aktar greift zur Erklärung auf die osmanische Geschichte zurück, beleuchtet die jahrhundertealte Interaktion zwischen der osmanisch-türkischen und der westlichen Welt, erläutert Verklärungen wie Missverständnisse zwischen den "ewigen Alter Egos", präzise, knapp und so hellsichtig wie schonungslos. Im ausgedehnten Ringen um eine EU-Mitgliedschaft der Türkei entdeckt er die alten Antagonismen wieder, auch in jenen Zeiten, als die Türkei noch ein Land voller Reformstolz war.
Er geht dabei vor allem mit dem damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy hart ins Gericht, der die 2005 offiziell eröffneten EU-Verhandlungen nach seinem Aufstieg ins Präsidentenamt 2007 praktisch wieder beendete. Weder Sarkozy noch Kanzlerin Angela Merkel hätten den "manifesten und außergewöhnlich starken Willen der Türkei zu proeuropäischen Reformen" verstanden oder ihm den richtigen Wert beigemessen. Daraus folgert Aktar: "Von der EU gedemütigt, berauschte sich der politische Islam" in Ankara, "eingelullt von den Legenden einer mythischen imperialen Vergangenheit", an seinen mehrheitlich konjunkturbedingten Erfolgen im In- und Ausland.
2013 rebellierte die Jugend im Gezi-Park
Damals noch strotzend vor Selbstbewusstsein folgte eine Mehrheit der Türken Erdoğans Versprechen, das Land werde sich als Regionalmacht schon den nötigen Respekt verschaffen, der ihm vom Westen verweigert werde. Bis 2013 eine bürgerliche Jugend im Istanbuler Gezi-Park gegen ein Übermaß an staatlicher Gängelung rebellierte. Die Macht geriet in Panik. Eine "epische Wut" und die Angst vor Machtverlust trieben Erdoğan seither an, die Schrauben immer enger zu ziehen. Die Hintergründe des Putschversuchs von 2016, nach dem sich Repression und Rechtsstaatszerfall beschleunigten, sind für Aktar nicht genügend aufgeklärt.
Von der EU erwartet der Autor inzwischen nichts mehr. Die sei in erster Linie daran interessiert, dass die Türkei eine Flüchtlingsbarriere bleibe. Daraus folge eine "Politik des gezielten Wegguckens" und des "ohrenbetäubenden Schweigens" zu Menschenrechtsverletzungen.
Begleitet wird der Niedergang von ökologischer Zerstörung: Dämme, Goldabbau, Rodungen, eine Vorliebe für Beton in den Städten, für ein "osmanisches Disneyland". Aktar braucht für seine Abrechnung nur knapp 90 Seiten, er hat seinen "kritischen Essay" durch zwei kluge Interviews ergänzt. Dabei gibt das Gespräch mit der in Paris lehrenden türkischen Soziologin Nilüfer Göle die Hoffnung, die Frauen blieben auch in der Türkei Trägerinnen des Wandels. Muss sich also niemand wundern, dass Erdoğan jüngst per Dekret die Istanbul-Konvention zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen kippte, als müsse er den Frauen schnell noch mal zeigen, wer im Land die Macht hat?
© Süddeutsche Zeitung 2021
Cengiz Aktar: Die türkische Malaise. Ein kritischer Essay. Aus dem Französischen von Julia Förderer und Katja Buchecker. Kolchis Verlag, Remetschwil/Schweiz, 2021.