Afghanen als Sündenböcke

Seit Ausbruch des Kriegs mit Israel sind etliche Menschen im Iran den Raketen wortwörtlich ausgeliefert. Laut iranischem Gesundheitsministerium waren bis Sonntag mindestens 430 Menschen durch israelische Angriffe getötet worden. Menschenrechtsgruppen gehen davon aus, dass es womöglich doppelt so viele Todesopfer gibt wie bekannt.
Vor allem wohlhabende Iranerinnen und Iraner haben die Hauptstadt Teheran in den letzten Tagen verlassen und sich in Regionen abgesetzt, die vorerst nicht vom Krieg betroffen sind. Für Minderheiten, Randgruppen und ärmere Bevölkerungsschichten ist es jedoch oft schwierig, Zufluchtsorte zu finden.
Nach UNHCR-Schätzungen leben etwa 4,5 Millionen Afghaninnen und Afghanen im Iran. Seit Jahrzehnten flüchten Menschen aus Afghanistan ins Nachbarland. Im Iran leben viele in der Illegalität und werden als billige Arbeitskräfte ausbeutet.
Die meisten Skylines iranischer Großstädte sind auf den Schultern afghanischer Geflüchteter entstanden. Nun müssen viele dieser Arbeiter auf Baustellen oder in Fabriken Schutz suchen vor den Luftangriffen.
„Das noch schlimmere Übel“
„Wir sind hierher gekommen, weil wir uns in Afghanistan nicht mehr sicher gefühlt haben. Die Repressalien der Taliban haben tagtäglich zugenommen”, erzählt Khatera Ahmadi*, eine 50-jährige Mutter, die mit ihrer Familie erst vor zwei Monaten nach Teheran gereist ist. „Was sollen wir nun tun? Wieder flüchten?“
Vielen Geflüchteten gehe es im Iran zwar schlecht, aber das Leben sei immer noch besser als in der Heimat unter den militant-islamistischen Taliban. Seit deren Rückkehr im Jahr 2021 hat nicht nur die Geschlechtertrennung im Land zugenommen – die deutlich strikter ist als im Iran –, sondern auch die willkürliche Unterdrückung.
Ahmadis Haus in Afghanistan war mehrfach von bewaffneten Taliban-Soldaten gestürmt und durchsucht worden. „Ich bin eine Witwe, doch die Soldaten interessierten sich nicht dafür. Sie dachten, IS-Terroristen hätten sich bei uns verschanzt“, erzählt sie am Telefon.
Ahmadi fragt sich, was das Ziel Israels und der USA ist. „Hier gibt es Infrastruktur, Bildung und Kultur“, sagt sie über den Iran, „soll das alles nun weggebombt werden?“
Jenen, die jetzt auf einen Machtwechsel in Teheran mit amerikanischer oder israelischer Unterstützung hoffen, hat Ahmadi eine Lehre aus ihrer eigenen Lebenserfahrung mitzuteilen: „Ich verstehe, dass viele Iraner das Mullah-Regime verabscheuen“, sagt sie. Aber in Afghanistan hätten Regimewechsel von außen nie das gewünschte Ergebnis gebracht. „Meist kam nach dem Übel nur das noch schlimmere Übel.“
Im Fernsehen vorgeführt
In den Augen des Regimes in Teheran scheint es für das aktuelle Übel auch Verantwortliche innerhalb des Landes zu geben. Konkret stellt sich hier die Frage: Wer steht auf der Gehaltsliste des Mossad, des israelischen Auslandsgeheimdienstes?
Im iranischen Staatsfernsehen wurden vor wenigen Tagen mehrere afghanische Männer vorgeführt, die unter fadenscheinigen Vorwürfen verhaftet worden waren und für „Terror“ oder „Spionage“ verantwortlich gemacht wurden.
Verschiedenen Berichten zufolge, die nicht unabhängig bestätigt werden können, fanden auch zahlreiche Razzien in Stadtvierteln statt, in denen afghanische Geflüchtete leben.
„Das Regime wirft den Afghanen Zusammenarbeit mit dem Mossad vor“, erklärt Mohammad Halim*, der vor rund zwei Jahren Afghanistan verlassen hat, um sich in Teheran niederzulassen. Nach den israelischen Angriffen ist er mit iranischen Freunden in den Norden des Landes geflüchtet.
„Es heißt, dass afghanische Spione Koordinaten geliefert hätten“, sagt Halim per Videocall, der dank einer Starlink-Verbindung noch möglich ist. Im Gegensatz zu den restlichen Leitungen im Land funktioniert der Internetzugang über Satellit weiterhin.
„Nun finden wieder kollektive Bestrafungen statt. Als Afghane muss man noch mehr aufpassen als früher.“
Dabei ist anti-afghanischer Rassismus im Iran schon lange verbreitet, sowohl gesellschaftlich als auch institutionell. In mehreren Provinzen ist es Menschen aus Afghanistan offiziell untersagt, sich niederzulassen. Bekannt wurden in den letzten Jahren auch öffentliche Parks, in denen ihnen der Zutritt verwehrt wurde.
Mossad im Land
Im Iran werden afghanische Geflüchtete in zahlreichen Gefangenenlagern festgehalten und seit Jahren in Massen abgeschoben. An der iranisch-afghanischen Grenze sind sie oft massiven Menschenrechtsverletzungen seitens der Regimesoldaten ausgesetzt.
Dass einige Afghanen im Iran tatsächlich gegen das Regime gearbeitet haben, hält Halim dennoch für realistisch. Ebenso wie viele Iranerinnen und Iraner ist auch er überzeugt, dass der Mossad schon lange vor den jüngsten Angriffen im Iran aktiv gewesen sein muss.
„Wie sonst hätten derartige Angriffe stattfinden können? Klar, die sind hier”, sagt Halim. Er will gehört haben, dass auch einige arme Afghanen für niedere Dienste angeheuert worden sein. „Aber es sind in erster Linie Iraner, die mit den Israelis zusammenarbeiten.”
Diese Mutmaßung lässt sich nicht bestätigen, doch viele Afghaninnen und Afghanen halten dies für wahrscheinlich. Die meisten afghanischen Geflüchteten leben in Armut und sind auf Geld für sich und ihre Familien angewiesen, die meist weiter in Afghanistan leben. Dass man in einem solchen Fall auch Geld von fragwürdigen Quellen annimmt, sei nachvollziehbar und menschlich.
Bis vor einiger Zeit hat auch das iranische Regime Geflüchtete mit Geld gelockt. Während des Kriegs in Syrien wurden tausende afghanische Geflüchtete, darunter auch Minderjährige, für die sogenannte Fatemiyoun-Brigade rekrutiert, um das mittlerweile gefallene, mit Teheran verbündete Assad-Regime zu verteidigen. Meist wurden den jungen Männern und ihren Familien iranische Aufenthaltspapiere sowie Zugang zu Bildung versprochen. Doch viele kehrten nie zurück.
*Namen aus Sicherheitsgründen geändert
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