Das perfekte Profil

Istanbuls charismatischer Bürgermeister Ekrem İmamoğlu – stärkster Konkurrent des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan – wurde am 19. März in den frühen Morgenstunden in einer dramatischen Durchsuchungsaktion zu Hause verhaftet. Die Festnahme folgte nur einen Tag nachdem ihm sein Universitätsdiplom aberkannt worden war und wenige Tage, bevor er zum Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP) gewählt werden sollte.
In einer schriftlichen Erklärung bezeichnete die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul İmamoğlu als „Anführer eines profitorientierten Verbrechersyndikats“. Eine Bezeichnung, die normalerweise der Mafia vorbehalten ist. Er und 99 weitere Verdächtige wurden unter dem Vorwurf der Veruntreuung, der Bestechung, des schweren Betrugs, der unrechtmäßigen Beschaffung personenbezogener Daten und der Manipulation öffentlicher Auftragsvergaben festgenommen.
İmamoğlu und sechs weitere Personen wurden außerdem wegen Terrorismusdelikten angeklagt. Die Staatsanwaltschaft behauptet, dass die Zusammenarbeit zwischen der CHP und der pro-kurdischen Partei für Gleichheit und Demokratie (DEM) bei den Kommunalwahlen 2024 auf Betreiben der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) inszeniert wurde, die von der Türkei, den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft wird.

Rechtsexpert:innen betonen die Tragweite des Terrorismusvorwurfs und warnen, dass dies den Weg zur Ernennung eines nicht gewählten Treuhänders zum Bürgermeister von Istanbul ebnen könnte. Seit den Kommunalwahlen 2024 wurden neun Bürgermeister:innen aufgrund von Terrorismusvorwürfen ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder ersetzt.
Am 18. Januar, nach der Verhaftung des Bürgermeisters von Beşiktaş, Rıza Akpolat – ebenfalls von der CHP – warnte Erdoğan, dass weitere Entlassungen folgen könnten. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel reagierte empört und nannte dies eine „Kriegserklärung“. In einem Kommentar zu İmamoğlus Verhaftung am Mittwoch beschuldigte Özel Erdoğan, „einen Putsch gegen seinen Rivalen zu inszenieren, weil er glaubt, dass dieser ihn besiegen wird“.
Ausnahmezustand in Istanbul
Während die Polizei am frühen Morgen İmamoğlu und andere festnahm, verhängte die Provinzregierung von Istanbul ein viertägiges Demonstrationsverbot. Der Zugang zu X, Instagram und YouTube wurde eingeschränkt, während WhatsApp-Funktionen gezielt gedrosselt wurden.
Öffentliche Verkehrsmittel und wichtige Straßen zu zentralen Orten wie Taksim und Fatih – wo İmamoğlu festgehalten wird – wurden geschlossen. Dennoch versammelten sich am Mittwochabend Tausende vor dem Hauptsitz der Istanbuler Stadtverwaltung und skandierten Slogans wie „Tayyip ins Gefängnis, Ekrem raus!“ und „Allein gibt es keine Rettung – alle zusammen oder keiner von uns!“

Vom Terroristen zum Friedensstifter
Die PKK hat Anfang März eine Waffenruhe verkündet, nachdem ihr Gründer Öcalan zur Selbstentwaffnung aufrief. Ein jahrzehntealter Konflikt, der mehr als 40.000 Menschenleben gefordert hat, könnte enden. Wird es dieses Mal gelingen?
Nach den Verhaftungen stürzten sowohl der Aktienmarkt als auch die türkische Lira ab. Expert:innen gehen davon aus, dass die Regierung versucht, die Verluste durch Interventionen durch die Hintertür abzumildern – in erster Linie durch die Verringerung der nationalen Reserven der Zentralbank – was die Inflation verschärfen und die anhaltende Wirtschaftskrise des Landes vertiefen dürfte.
Wer ist Ekrem İmamoğlu?
Bevor er im Dezember 2018 als Kandidat der CHP für das Amt des Bürgermeisters von Istanbul bekannt gegeben wurde, kannten nur sehr wenige Menschen den Namen İmamoğlu. Er war bis dato Bürgermeister von Beylikdüzü, einem sich schnell entwickelnden Bezirk am Rande Istanbuls. Diesen Sitz gewann er 2014 mit einem Vorsprung von 12 Punkten gegenüber der regierenden AKP, die den Bezirk ein Jahrzehnt lang regierte.
Im Vorfeld der Kommunalwahlen 2019 hatte die CHP eine Parteikommission eingesetzt, um einen erfolgreichen Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters von Istanbul zu ermitteln. Sie skizzierte ein bestimmtes Profil: ein 45- bis 55-jähriger Mann mit Erfahrung in der Kommunalverwaltung, einer Erfolgsgeschichte, einer überparteilichen Haltung, Respekt vor der Religion und Wurzeln in der Schwarzmeerregion, aus der ein großer Teil der Istanbuler Wähler:innenschaft stammt.
İmamoğlu passte perfekt. Er wurde 1970 in der Nähe von Trabzon, einer wichtigen Stadt in der Schwarzmeerregion, geboren und stammt aus einer gläubigen Familie. Ab 2009 besuchte er als Vorsitzender des Beylikdüzü-Zweigs der CHP regelmäßig die Freitagsgebete und organisierte am 10. November Gebete zum Gedenken an Mustafa Kemal Atatürk, den Gründer der modernen Türkei.

Ende der AKP-Herrschaft?
Die Kommunalwahlen in der Türkei bedeuten eine Schlappe für die regierende AKP und Präsident Erdoğan - doch läuten sie auch das Ende der unangefochtenen Macht der Partei ein?
Sein religiöser Background unterschied sich vom Image des streng säkularen CHP-Politikers, doch er führte unter dem Banner der CHP einen dynamischen Wahlkampf um das Amt des Bürgermeisters von Istanbul. Als relativ Unbekannter machte er sich einen Namen, indem er von Tür zu Tür ging und sich den Wähler:innen persönlich vorstellte.
Seine Popularität stieg sprunghaft an, als er nach einem Terroranschlag auf eine Moschee in Neuseeland im März 2019 aus dem Gedächtnis Verse aus dem Koran für die Opfer rezitierte. Durch einen kurdischen Dolmetscher gelang es ihm, sowohl kurdische Wähler:innen als auch religiöse und jene aus der Schwarzmeerregion zu gewinnen.
Sein inklusiver Ansatz, der im Gegensatz zur polarisierenden Rhetorik der AKP steht, half ihm, seinen Rivalen Binali Yıldırım mit einem Vorsprung von 13.729 Stimmen zu schlagen. Die regierenden AKP tat sich schwer, das Ergebnis zu akzeptieren. Am 6. Mai 2019 erklärte der Oberste Wahlrat der Türkei die Bürgermeisterwahl in Istanbul für ungültig und ordnete eine Wiederholung der Wahl an.
An diesem Abend, bevor er sich an eine große Menschenmenge wandte, die sich vor der Istanbuler Stadtverwaltung versammelt hatte, vollführte İmamoğlu eine Geste, die zu seinem Markenzeichen werden sollte. Er zog sein Jackett aus, lockerte seine Krawatte, krempelte die Ärmel hoch und erklärte: „Unser Weg ist lang, unsere Begeisterung ist groß und wir sind jung. Wir sind die türkische Jugend – durstig nach Gerechtigkeit und der Demokratie zutiefst verpflichtet. Wir werden niemals aufgeben.“
Für das Amt des Präsidenten bestimmt?
Während des Wahlkampfs für die Wiederwahl im Juni 2019 deutete İmamoğlu seine langfristigen Ambitionen an. Auf die Frage eines BBC-Interviewers, ob er der nächste Präsident der Türkei werden würde, antwortete er: „Das weiß nur Gott“. Am 23. Juni 2019 gewann er die Wahl, diesmal mit einem Erdrutschsieg, bei dem er fast 800.000 Stimmen mehr erhielt und einen Vorsprung von neun Punkten vor seinem Gegner erzielte.
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2023 galt İmamoğlu als potenzieller Kandidat, wurde jedoch von Kemal Kılıçdaroğlu, dem damaligen CHP-Vorsitzenden, an der Kandidatur gehindert. Die Wahl endete mit einem Sieg für Erdoğan und die AKP. Nach der Wahlniederlage leitete İmamoğlu einen Umbau in seiner Partei ein, rief zu Optimismus auf und betonte die Notwendigkeit von Reformen. Er gewann allmählich mehr Einfluss innerhalb der Partei und setzte den Prozess für einen Wechsel in der Führungsstruktur der Partei in Gang.
Bei den Kommunalwahlen 2024 wurde die CHP zum ersten Mal seit den 1970er Jahren wieder stärkste Partei. İmamoğlu erhielt mehr als 51 Prozent der Stimmen und verteidigte das Istanbuler Bürgermeisteramt mit einem noch nie dagewesenen Vorsprung, sodass er für viele zum natürlichen Führer der Opposition wurde.
Ein turbulenter Aufstieg in der Politik
Mit İmamoğlus politischer Stärke und seinem Auftreten als potenzieller Herausforderer Erdoğans, wuchsen auch die politischen Herausforderungen. Im Jahr 2022 wurde er wegen Beleidigung von Amtsträgern zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Grund dafür war eine Rede aus dem Jahr 2019, in der er Mitglieder des Obersten Wahlrats als „Idioten“ bezeichnet haben soll. Er verteidigte sich damit, dass die Äußerungen nur an den damaligen Innenminister Süleyman Soylu gerichtet waren, der İmamoğlu zuvor bereits einen Idioten genannt hatte.
Sein Universitätsabschluss wurde er wiederholt gerichtlich angefochten. Nach der türkischen Verfassung ist ein Hochschulabschluss eine Voraussetzung für die Kandidatur für das Präsidentenamt. İmamoğlu begann sein Studium in Zypern, wechselte aber später an die Universität Istanbul. Anfang dieses Jahres wurde ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet, mit der Begründung, sein Wechsel sei unrechtmäßig gewesen. Sein Diplom wurde am 18. März widerrufen – angeblich auf Druck der Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft.

Niederlage für Erdogan - Triumph für Opposition
Bei den Kommunalwahlen in der Türkei erlitt Erdogans AKP eine herbe Niederlage. Die Opposition hat nicht nur in den Großstädten gewonnen, sie liegt auch landesweit vorn. Es ist ein historischer Sieg für die Sozialdemokraten der CHP.
Am 23. März 2025 hatte die CHP eine Vorwahl geplant, um den Kandidaten der Partei für die kommenden Präsidentschaftswahlen zu bestimmen. Diese ist bisher für 2028 geplant.
Die Wahl sollte İmamoğlu einen politischen Schutzschild bieten. Die CHP glaubte, dass die Regierung es nicht wagen würde, ihn ins Visier zu nehmen, wenn er erst einmal durch eine demokratische Abstimmung nominiert worden wäre. Doch jetzt, nur wenige Tage vor den Vorwahlen, sitzt er in Untersuchungshaft.
„Ich werde nicht aufgeben!“
Trotz seiner Inhaftierung und der Annullierung seines Diploms wird İmamoğlu bei den Vorwahlen der CHP weiterhin auf dem Stimmzettel stehen. Um seine Kandidatur zu untermauern, hat die Partei außerdem eine zweite landesweite Abstimmung angesetzt, um seine breite Unterstützung in der Öffentlichkeit zu beweisen. Die CHP und İmamoğlu schrecken auch deswegen nicht vor ihren Präsidentschaftsambitionen zurück, weil sie einen starken historischen Präzedenzfall vor Augen haben.
Im Jahr 1994 wurde ein Politiker mit rund 25 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister von Istanbul gewählt – weit weniger als İmamoğlu Jahrzehnte später erhielt. Damals wurde auch gegen ihn wegen Korruption ermittelt. Im Jahr 1998 wurde er wegen Hetze zu einer viermonatigen Haftstrafe verurteilt und aus der Politik verbannt. Doch wie immer in der türkischen Politik ging es schnell. Nur vier Jahre später, im Jahr 2003, wurde derselbe Politiker Premierminister, und die Korruptionsermittlungen wurden eingestellt. Dieser Mann ist heute der Präsident der Türkei – Recep Tayyip Erdoğan.
İmamoğlu, der Mann, der symbolisch seine Ärmel hochkrempelte, um den Beginn seines politischen Kampfes zu markieren, ist in einer am Morgen seiner Verhaftung aufgenommenen Videobotschaft zu sehen, wie er ruhig seine Krawatte zurechtrückt. Mit entschlossener Miene erklärt er:
„Wir sind großen Schikanen ausgesetzt, aber ich möchte, dass ihr wisst, dass ich nicht aufgeben werde! Ich liebe euch alle sehr. Ich vertraue mich meinem Volk an.“
© Qantara.de