Türkische Verbände fordern Sachlichkeit

Die Diskussionen nach dem mutmaßlichen Ehrenmord an der türkisch-stämmigen Hatun Sürücü in Berlin lassen die Öffentlichkeit seit zwei Wochen nicht mehr zur Ruhe kommen. Ist die Integration gescheitert und die Religion des Islam für Ehrenmorde verantwortlich?

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Sind Migranten mit islamischem Glauben integrierbar? - Türkische Verbände sind optimistisch

​​Die in Deutschland aufgewachsene türkisch-stämmige Hatun Sürücü ist am 7. Februar in Berlin vor ihrer Haustür ermordet worden. Die Polizei nahm drei Brüder des Opfers fest. Sie stehen unter Verdacht, ihre Schwester getötet zu haben, weil sie die Familienehre verletzt habe. Denn Hatun Sürücü war vor einigen Jahren in der Türkei zwangsverheiratet worden, kehrte aber nach Deutschland zurück, heiratete erneut, ließ sich scheiden und lebte danach mit ihrem neuen Freund zusammen.

Wenn verletzte Familienehre tatsächlich das Tatmotiv gewesen sein sollte, wäre es der fünfte Fall dieser Art in den letzten Monaten in Berlin. Doch nicht die Häufung von Ehrenmorden führten zu einer heftigen Debatte, sondern erst die Reaktionen einiger türkischstämmiger Schüler: Auf die Frage ihrer Lehrer verteidigten sie die Ermordung Hatun Sürücüs - worauf Politiker öffentlich die Frage stellten, ob Migranten mit islamischem Glauben überhaupt integrierbar seien.

Vertreter türkischer Verbände in Deutschland verurteilen die Tat, bemühen sich aber auch um eine sachlichere Diskussion: Ehrenmorde hätten mit dem Islam nichts zu tun. Der Mord an Hatun Sürücü und die Äußerungen türkisch-stämmiger Schüler an einer Berliner Schule, die die Tat verteidigten, haben eine Welle der Empörung ausgelöst.

Ehrenmorde nicht durch Islam gerechtfertigt

Der sozialdemokratische Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, sagte der 'Berliner Morgenpost': "Was läuft falsch bei der Integration von Muslimen? Leider gibt es immer noch eine große Zahl Muslime, die sich in ihrer Welt abschotten und unsere westlichen Werte ablehnen."

Wissenschaftler warnen nun davor, Ehrenmorde mit der islamischen Religion in Verbindung zu bringen. Die Berliner Ethnologin Michi Knecht sagt, dass diese Taten eher auf eine patriarchal geprägte Kultur im Mittelmeerraum zurück zu führen seien. Schließlich habe es früher auch Ehrenmorde in Italien gegeben. Auch wenn dort in den letzten Jahrzehnten keine Morde mehr vorkommen, diene dort das Motiv "Ehre" durchaus zur alltäglichen Unterdrückung der Frau.

Auch der türkische Theologe Hasan Elki beteuert, dass Ehrenmorde im islamischen Recht keinen Platz hätten: "Während der Geschichte hatten alle Gesellschaften ihre eigenen Lebensformen. Doch so etwas existiert weder in den demokratischen modernen Gesellschaften, noch im islamischen Recht. Das heißt, auch in dem, was wir 'islamisches Recht' nennen – welches die islamischen Gesellschaften vor dem modernen Recht entwickelt hatten - gab es so etwas nicht. Eine Person darf weder im eigenen Namen, noch im Namen anderer mit Gewalt für Recht sorgen."

Manche Muslime, so der Theologie-Dozent an der Istanbuler Marmara-Universität, besäßen vielmehr immer noch das Bewusstsein primitiver Stämme. Deshalb ruft er alle Muslime auf, ihren Glauben zu modernisieren.

Forderungen an deutsche Politik

Und der Türkische Bund Berlin-Brandenburg will nun über die eigenen Werte eine offene Diskussion führen. Dazu hat er bereits einen "Zehn-Punkte-Plan" vorgeschlagen, in dem er seine Landsleute dazu aufruft, der Gewalt gegen Frauen keine Toleranz mehr entgegen zu bringen.

Außerdem fordert er eine inner-türkische beziehungsweise eine inner-islamische Diskussion über die Gleichberechtigung der Frauen. Alle türkischen und islamischen Organisationen sollten sich öffentlich und aktiv zum Selbstbestimmungsrecht der Frauen bekennen.

Safter Cinar, Sprecher des Türkischen Bundes, erteilt Ehrenmorden eine klare Absage: "Natürlich muss sich, sofern es in bestimmten Teilen solche Vorstellungen gibt, die eigene Community kritisch mit sich selbst auseinandersetzen. Aber auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft muss natürlich einiges tun. Dazu gehört zum Beispiel, den Menschen politisch das Gefühl zu nehmen, diskriminiert zu werden, weil das immer zur Abkapselung und zur Konservierung von hergebrachten Werten oder Wertvorstellungen führt."

Der "Zehn-Punkte-Plan" beinhaltet deshalb auch mehrere Forderungen an die deutschen Politiker und Institutionen: eine strikte Strafverfolgung der Zwangsehe, eine interkulturelle Öffnung der Bildungseinrichtungen und ein Lehrstuhl für islamische Theologie in Berlin.

Kampfansage an Migranten

"Falsch verstandenes Verständnisgefühl" der Deutschen sei bei Ehrenmorden fehl am Platz, sagt Safter Cinar: "Das Problem ist, so bitter das ist, nicht der Mord, sondern die Frage: Wie wird über das Selbstbestimmungsrecht der Frau diskutiert? Und da ist das Bildungswesen, damit also auch die Politik, gefragt."

Cinar hält die Reaktionen deutscher Politiker teilweise für übertrieben. Deshalb fühlten sich türkischstämmige Migranten in Berlin nach dem Tod von Hatun Sürücü ungerecht angegriffen. Die Rufe nach christlicher Werte-Erziehung - wie es die CDU in der Hauptstadt nun fordert - kämen unter diesen Umständen einer Kampfansage an die Migranten gleich.

Cinar fordert in der aktuellen Situation eine rationale Debatte: "Immer, wenn es bestimmte Fragen in der Migranten-Community gibt, besteht natürlich die Gefahr, dass bestimmte Kreise das in einer zum Teil rassistischen Weise ausnutzen, Vorwürfe gegen die ganze Community erheben oder auch deren - angebliche - allgemeine Werte anprangern. Deshalb denken wir, dass diese Diskussion nicht auf der Basis deutscher, türkischer, christlicher oder islamischer Werte zu führen ist. Sondern es gibt die Werte des Grundgesetzes - und wir müssen gucken, dass man auf dieser Basis gemeinsam lebt."

Cem Sey

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005

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Hintergründe zum Ehrenmord an Hatun Sürücü