Eine Botschaft von Liebe, Toleranz und Frieden
Hayat Nur Artıran ist eine Sufi-Lehrerin des Mevlevi-Ordens, der auf Rumis spirituellen Prinzipien aufbaut und einst von dessen Sohn Sultan Valad ins Leben gerufen wurde. Die Mevleviyye ist über die Jahrhunderte zu einem der einflussreichsten Sufi-Orden Anatoliens geworden, zu dessen Merkmalen die Betonung von Schönheit und Ästhetik, das Studium von Poesie und der Dienst an den Menschen zählt.
Bereits in jungen Jahren ging Artıran bei diversen Sufi-Mentoren in Lehre, zuletzt als engste Schülerin und Assistentin des Mevlevi-Meisters Şefik Can (1908-2005), dem sie bis zu seinem Lebensende diente. Şefik Can beging einen Traditionsbruch, indem er mit Hayat Nur Artıran eine Frau zu seiner Nachfolgerin ernannte. Artıran ist Autorin diverser Bücher über Rumis Lehre und Präsidentin der "Şefik Can International Mevlânâ Education and Culture Foundation".
Heutzutage stellen sich die Menschen ganz verschiedene Dinge unter dem Wort “Sufismus” vor. Wie würden Sie tasawwuf definieren?
Artıran: Der Mensch kommt mit einer Pflicht auf diese Welt, nämlich seinen Schöpfer zu erkennen. So wie es im berühmten Hadith Qudsi (Hadithe sind Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed, Anm. der Red.) heißt: “Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden, darum schuf Ich die Welt.” Wir können unseren Herrn nur mit Liebe erkennen. Doch um seinen Herrn zu erkennen, muss der Mensch zuerst sich selbst kennen. Wer sich selbst nicht kennt, kann seinen Herrn nicht erkennen. Der Sufismus ist die Wissenschaft der Selbsterkenntnis, des Friedens mit sich selbst und damit auch des Friedens mit der Gesellschaft.
Dschalaluddin Rumi (Türkisch “Mevlana”) gilt heutzutage vielen als größter, der aus der Tradition des Sufismus hervorgegangen ist. Wer ist Mevlana für Sie?
Artıran: Es ist mir nicht möglich, Mevlana zu erklären. Nur Mevlana selbst kann Mevlana erklären. Mevlana, wie er heute in der ganzen Welt bekannt ist, repräsentiert die Liebe und Einheit auf Erden, das wahre tawhid (arab. Einheit). Mevlana hat den Menschen sowohl im Masnawi, als auch im Diwan-e Kabir sowie dem Fihi Ma Fihi von Liebe, Einheit, Toleranz und Frieden erzählt.
Er mahnte sie, sich von Dualität und Trennung fern zu halten. Doch Mevlana beließ es nicht bei Worten. Er gab ein Beispiel durch sein eigenes Leben. Denn so wie ein Mensch lebt, so ist auch seine Botschaft. Nie fiel er in die Dualität, er machte keinen Unterschied zwischen den Menschen.
Bei Mevlana kann es kein “meine Religion” und kein “deine Religion” geben. Als er starb, strömten mehr Christen auf seine Beerdigung als Muslime. An sich sollte jeder Muslim diese Form von Einheit verkörpern, denn dies ist die wirkliche Ethik Mohammeds. Jedoch haben wir unseren Propheten und den Koran nicht ausreichend verstanden. Wir sind unserem Ego erlegen.
Die Schulung des Egos ist das zentrale Anliegen jedes Sufi-Pfads. Was macht den Pfad der Mevlevis aus?
Artıran: Der Mevlevi-Weg lebt den Islam auf die eleganteste und schönste Weise. Er ist eine Lebensweise im tiefsten Sinne. Es geht darum, die Ethik Mohammeds zu leben. Der Prophet sagte einst: “Ich wurde gesandt, um die guten Charaktereigenschaften zu vervollständigen." Mit anderen Worten, das erste, was ein Mevlevi-Sufi in sich erlangen muss, ist einen edlen Charakter, wie unser Prophet ihn verkörpert hat. Doch Moral ohne Liebe ist nutzlos. Ein weiterer Hadith lautet: “Der beste unter den Menschen ist derjenige, der den Menschen dient.”
Wie in anderen Sufi-Orden auch gibt es in der Mevlevi-Tradition Praktiken wie das dhikr und die Kontemplation. Doch bei den Mevlevis hat der Dienst oberste Priorität. Es gibt auf dem Mevlevi-Weg die sogenannten 18 Dienste, das sind die Aufgaben, welche Novizen bei ihrem Eintritt in den Orden bekommen (insbesondere in der Küche).
Der Meister achtet darauf, ob seine Schüler ihren Dienst auch wirklich mit Liebe verrichten oder ob sie einfach nur eine Pflicht ausführen. Mit anderen Worten, der Wert des Dienens ist nur so groß wie die Liebe, die in ihm steckt. Bei uns wird jedem Gast auf die gleiche Weise gedient, ohne dass er nach seinem Glauben, seiner Meinung, seinem Sufi-Orden, seinem Alter oder Geschlecht gefragt wird.
Eine der wichtigsten spirituellen Praxen der Mevlevis ist das Studium von Rumis Masnawi. Ihr Meister Şefik Can war ein mesnevihan und hat diese Funktion auf Sie übertragen. Was bedeutet das?
Artıran: Ein mesnevihan ist bei den Mevlevis jemand, der das Masnawi vorliest und kommentiert. Der erste mesnevihan war Husamuddin Chelebi (Rumis engster Schüler und Schreiber, dem er das Masnawi diktierte, Anm. der Red.). Dieser bildete dann einen zweiten aus, der zweite einen dritten, der dritte den vierten und so fort.
Ein mesnevihan ist jemand, der eine Ausbildung mit diesem Buch durchlaufen und die innere Bedeutung der Worte tief in sich verinnerlicht hat. Dies ist also ein Weg der Initiation. Şefik Can war ein mesnevihan, aber gleichzeitig war er selbst zum Masnawi geworden. Man brauchte nur seinen Zustand, sein Verhalten und seine Ausdrucksweise zu beobachten und konnte daraus unmittelbar die Verse des Masnawi lesen.
Şefik Can wählte vor seinem Tod mit 99 Jahren Sie, eine Frau, zu seiner Nachfolgerin aus. Ist dies nicht eher ungewöhnlich bei den Mevlevis?
Artıran: Şefik Can verfügte in seinem Testament, dass ich seine spirituellen Aufgaben übernehmen sollte, unter anderem jene des mesnevihan. Das hatte es in der Mevlevi-Tradition zuletzt vor 400 Jahren gegeben, als eine Frau in Afyonkarahisar das Amt des mesnevihan bekleidete. Nicht nur das; er schrieb außerdem in seinem Testament, dass Frauen auf seiner Beerdigung den Gästen dienen sollten.
Dies hätte kein anderer Sufi-Meister gewagt, doch Şefik Can war eine so angesehene Persönlichkeit, dass niemand wagte, dagegen etwas zu sagen. Er war überzeugt, dass es im Sufismus weder Frau, noch Mann geben könne. Ursprünglich hatte die Frau im Islam einen hohen Stellenwert. Leider jedoch hält die arabische Kultur der dschahiliyya (die vorislamische “Zeit der Ignoranz”, Anm. der Red.) bis heute an. Dieser Irrtum ist sogar in den Sufi-Orden zu finden. Şefik Can war sich dessen bewusst und wollte deshalb mit einem Tabu brechen.
Im Jahr 1926 ließ Mustafa Kemal Atatürk in der Türkei die Derwisch-Logen schließen, auch den Mevlevi-Orden. Die Wurzeln einer jahrhundertealten spirituellen Kultur wurden damit abgeschnitten. In manchen Sufi-Orden wird dem noch heute nachgetrauert. Wie empfinden Sie das?
Artıran: Manche mögen diese Entwicklung bitter finden, aber ich sehe es nicht so. Im Islam kann es nichts zwischen Mensch und Gott geben. Deshalb gibt es auch keine Notwendigkeit für eine tekke, eine Derwisch-Loge oder eine Moschee. Ein Muslim kann jederzeit und überall bei seinem Herrn sein, es gibt da keine Grenzen.
Der Sufismus ist, wie wir gesagt haben, die Wissenschaft der Selbsterkenntnis, ein Zustand der Nähe zu Allah. Dieser Zustand kann vom Staat weder gegeben noch genommen werden. Man kann allem Grenzen setzen, aber nicht der Liebe.
Die Liebe kennt keine Grenzen. Natürlich ist mit der Schließung der Derwisch-Logen ein Kapitel beendet worden, aber ich denke, dass sich für die Wahrheitssucher nicht viel geändert hat.
Ist es in der chaotischen Welt von heute nicht schwierig, sich auf die Suche nach Gott zu begeben?
Artıran: Es ist gut, mit dem Studium von Büchern über den Sufismus zu beginnen, solange die Quelle eine gute ist. Doch reines Wissen ist nicht genug. Wir müssen die Lehre leben. Dafür wiederum brauchen wir einen Lehrer. Ein Mensch, der mit einem reinem Geist nach Gott sucht, wird ohne jeden Zweifel finden, wonach er sucht.
Auch hier möchte ich Mevlana zitieren: "Wer sucht, wird finden, was er sucht, und wer etwas will, wird finden, was er will.” Das Wichtige ist, dass wir uns mit reinem Geist auf die Suche machen. Dann werden wir mit Sicherheit eines Tages finden, wonach wir suchen. Wir sollten also hoffnungsvoll sein.
Das Interview führte Marian Brehmer
© Qantara.de 2023
Marian Brehmer hat Iranistik studiert und schreibt als freier Autor mit dem Schwerpunkt islamische Mystik. Er ist Autor von "Der Schatz unter den Ruinen: Meine Reisen mit Rumi zu den Quellen der Weisheit” (Herder, 2022), einem spirituellen Reisebericht, der von Begegnungen mit Sufis, Suchenden und Weisen in Afghanistan, Iran, Syrien und der Türkei erzählt.