Vereint, aber unterschiedlich

Frauen und Männer auf einer Demonstration in Syrien mit der Flagge der Revolution
Syrer:innen feiern gemeinsam den Sturz des Assad-Regimes, Damaskus, 27. Dezember 2024. (Foto: Picture Alliance / Anadolu | E. Sansar)

In Syrien wird über „Säkularismus” gestritten: Assad-Anhänger:innen bringen den Begriff gegen die Revolution in Stellung, die demokratische Opposition versucht, ihn neu zu definieren. Der Streit sollte jedoch nicht vom Kern der Revolution ablenken: der demokratischen Teilhabe.

Von Leila Al-Shami

Am 19. Dezember 2024 wurden auf Social-Media-Plattformen Fotos des Umayyaden-Platzes in Damaskus geteilt, wo für einen säkularen, zivilen und demokratischen Staat demonstriert wurde. Die Fotos sprangen ins Auge, denn im Gegensatz zu anderen Massendemonstrationen in den Tagen nach dem Ende des Regimes waren sehr wenige Flaggen der Revolution in der Menge zu sehen.  

Im Laufe des Tages stellte sich heraus, dass viele der Teilnehmer:innen frühere Anhänger:innen des Regimes waren – Leute, die in der Vergangenheit ihre Unterstützung für Assads Milizen, für Fassbomben und den Einsatz chemischer Waffen zur Schau getragen hatten. Anhänger:innen der Revolution waren verständlicherweise empört, dass ausgerechnet diese Leute nun Rechte in Anspruch nahmen, die sie anderen lange Zeit verweigert hatten.  

Trotzdem gab mir die Demonstration auch etwas Hoffnung. Sie wurde von der neuen Übergangsregierung genehmigt, niemand wurde verhaftet oder erschossen. Ein bewaffneter Kämpfer der HTS-geführten Militärverwaltung sprach bei der Veranstaltung. Zwischen den Rufen der Menge nach „Säkularismus, Säkularismus!“ – einem Wunsch, den der Kämpfer offensichtlich nicht teilte – sprach er eloquent von der Notwendigkeit, sich geeint gegen Sektarismus zu stellen.

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In sozialen Medien und syrischen Chatgruppen entbrannten daraufhin leidenschaftliche Debatten zwischen Befürworter:innen des Säkularismus und Anhänger:innen eines Staates, der auf islamischen Prinzipien basiert. Während die Revolutionär:innen miteinander stritten, beschlich mich ein beklemmendes Gefühl. Es ist viel einfacher zusammenzustehen, wenn man gegen etwas kämpft, als wenn man formulieren muss, wofür man einsteht. 

Doch dann wurde mir klar, dass die syrischen Revolutionär:innen genau dafür gekämpft haben: ein Land, in dem Debatten im öffentlichen Raum stattfinden können, in dem verschiedene Meinungen geäußert werden und in dem man einander mit Respekt zuhört. Die harte Arbeit des gemeinsamen politischen Aufbaus unseres Landes hat gerade erst begonnen. 

Und doch gingen die Diskussionen am Kern der Sache vorbei. Die Trennlinie in Syrien verlief nie zwischen Religion und Säkularismus, sondern zwischen Diktatur und Demokratie. 

Syrien hat mit etwa siebzig Prozent der Bevölkerung eine große sunnitische Mehrheit. Es ist verständlich, dass religiöse Muslim:innen ihre Gesellschaft und Politik im Einklang mit ihrer Kultur, ihren Werten und Traditionen gestalten wollen. Im Westen wird Islamismus als reaktionärer Monolith gesehen – den man mit erzwungener Geschlechtertrennung und harten Strafen assoziiert. Doch die meisten Muslim:innen verbinden damit eine gerechte Regierung und einen öffentlichen Raum, der frei ist von Korruption.  

Islamismus hat viele Gesichter. Er kann Befreiungstheologie sein, bourgeoise Demokratie, Diktatur oder apokalyptischer Nihilismus. Es sollte nicht davon ausgegangen werden, dass Demokratie im Nahen Osten den westlichen liberalen Demokratien entsprechen wird. Durch die volle Unterstützung vieler westlicher Staaten für Israels Genozid in Gaza haben diese zuletzt auch den Rest ihrer Glaubwürdigkeit verloren. 

„Säkularismus” – ein belasteter Begriff

Nachdem das alte Regime der Bevölkerung seine eigene Vision des „Säkularismus“ aufgezwungen hat – als Instrument der sozialen Kontrolle bis hin zu genozidaler Gewalt gegen die eigene Bevölkerung – können viele Syrer:innen nicht anders, als dem Begriff eine gewisse Antipathie entgegenzubringen. Das Regime setzte auf konfessionelle Spaltung und spielte Bevölkerungsgruppen gegeneinander aus. Die Revolutionär:innen haben hart daran gearbeitet, diese Spaltung zu überwinden.  

Auf Twitter postete eine junge Frau ein Foto von sich in einer Bomberjacke aus Leder mit der Flagge des freien Syriens, ihre hellblau gefärbten Haare in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. „Ich bin eine junge, unverschleierte, freie syrische Frau“, schrieb sie, „und ich lasse mich lieber von konservativen, gottesfürchtigen Muslimen regieren als von Assads genozidalen Milizen“.  

Jemand anders kommentierte in einer Chatgruppe: „Ehrlich, egal ob Syrien muslimisch ist oder säkular, ich möchte ein Land mit Elektrizität, Nahrung, vernünftigen Preisen, Einheit, Sicherheit und ohne Korruption. Ein Land auf das ich stolz sein und das ich Heimat nennen kann.“ 

Heute lebt ein Großteil der säkularen, demokratischen Opposition im Ausland. Viele wurden auch in den Gulags der Assads ermordet. Die im Exil organisierte Opposition hat innerhalb des Landes zudem nur bedingt Legitimität. 

Hinzu kommt eine eindeutige Klassendimension: Die exilierte Opposition stammt überwiegend aus der Mittelschicht, während die tendenziell ärmere sunnitische Mehrheit zu den Gruppen gehört, die unter der Herrschaft von Hafez und Baschar al-Assad am stärksten gelitten haben.“ Gleichzeitig waren die Sunnit:innen meist von Machtpositionen ausgeschlossen, die eher an Angehörige von Minderheiten vergeben wurden. 

Die syrische Revolution begann in der Peripherie, unter anderem in sozial und religiös konservativen Bevölkerungsteilen. Diejenigen, die sich bewaffnet und ihr Leben geopfert haben, haben eine große Rolle bei der Befreiung Syriens von einem Tyrannen gespielt. Sie wollen nun zurecht mitreden über die zukünftige Richtung des Landes.  

Die Frage ist jedoch, inwieweit sie es anderen erlauben werden, das Land mitzugestalten, und wie weit sie den Übergang zu einer zivilen Regierung mittragen – oder ob sie die Macht unter Warlords aufteilen. Wer behauptet, Syrer:innen zu repräsentieren, muss dies an den Wahlurnen beweisen.  

Repräsentative Demokratie kann zu Autoritarismus führen

Der Westen stellt derweil seine Islamophobie zur Schau. In einem BBC-Interview mit Ahmed al-Sharaa (al-Jolani) war eine der ersten Fragen von Jeremy Bowen, ob im neuen Syrien „Toleranz gegenüber Leuten, die Alkohol trinken“, herrsche. Und das, während im ganzen Land noch weitere Massengräber ausgehoben werden, syrische Mütter noch immer verzweifelt nach Informationen über verhaftete Familienmitglieder suchen und Israel die Besetzung von Gebieten an Syriens südlicher Grenze ausweitet.  

Weiße Feminist:innen haben schon ihre Sorge über Kleidungsvorschriften für Frauen zum Ausdruck gebracht – dabei haben einige von ihnen nie ein Wort über die vom Regime organisierten Gruppenvergewaltigungen gegen Dissidentinnen verloren oder über Frauen, deren Körper in den Gefängnissen missbraucht und abgeschlachtet wurden. Assads Unterstützer:innen im Westen formulieren ihre Sorge um Minderheiten – dieselben Leute, die still blieben, als Assad jene systematisch umbringen ließ, die gegen seine Herrschaft aufbegehrten.  

Hier wird eindeutig mit zweierlei Maß gemessen. Repräsentative Demokratie (falls es das ist, was Syrer:innen erreichen) repräsentiert die Ziele der Mehrheit und grenzt andersdenkende Minderheiten aus. Die CDU in Deutschland repräsentiert die recht große muslimische Bevölkerung nicht, trotzdem kommt niemand auf die Idee, dass die Partei deswegen in der deutschen Politik keine Rolle mehr spielen sollte.  

Hinzu kommt, dass auch repräsentative Demokratie zu Autoritarismus führen kann. Syrer:innen sollten vorsichtig sein, nicht dieselben Fehler zu begehen wie Trumps Amerika. Dort gewinnen autoritäre, konservative und religiöse Gruppen an Einfluss und Macht, sie schränken Frauenrechte ein, bedrohen Minderheitenrechte, untergraben demokratische Räume und lassen weniger Möglichkeiten, eine Alternative zu organisieren.  

Jeder Schritt Richtung Freiheit muss gefördert werden

Zur Klarheit: Es ist meine persönliche Überzeugung, dass ein säkulares System das diverse soziale Gefüge Syriens am besten repräsentieren kann. Säkularismus bedeutet die Trennung von Staat und Religion. Er hindert Menschen nicht daran, ihre Religion auszuüben; er respektiert den Wunsch, zu praktizieren oder eben nicht zu praktizieren – ganz, wie die einzelne Person es wünscht.  

Er zwingt der Gesellschaft keine Vision auf und er bevorteilt nicht eine religiöse Gruppe gegenüber einer anderen. Minderheiten wollen nicht einige wenige, paternalistisch verliehene Sonderrechte; sie wollen gleiche Chancen, um am politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben des Landes teilzuhaben.  

Befürworter:innen des Säkularismus in Syrien sind keine homogene Gruppe. Unter ihnen gibt es Anhänger:innen des alten Regimes und Angehörige der Opposition. Die säkulare Opposition wiederum spaltet sich in zahlreiche politische Richtungen: Linke, Liberale, Konservative und auch Menschen unterschiedlichen Glaubens, inklusive vieler sunnitischer Muslim:innen. Umgekehrt haben viele Sunnit:innen in Syrien und auf der ganzen Welt das Assad-Regime unterstützt. 

Doch um glaubhaft zu sein, muss der Diskurs zu Säkularismus von den Assadist:innen zurückerobert werden. Keine konterrevolutionären Kräfte dürfen ihn vereinnahmen. Die Befürworter:innen des Säkularismus müssen die Lektion aus Ägypten lernen. Dort hat die Ablehnung jeder Form der islamistischen Demokratie – wie unvollkommen auch immer – einen „säkularen“ Faschismus wieder aufleben lassen, der heute schlimmer ist als unter Mubarak.  

Auch Islamist:innen müssen sich fragen, ob der von ihnen verteidigte islamische Staat wirklich die Werte der Revolution garantiert, das heißt, ob er die Unterdrückungsstrukturen abschafft und den Autoritarismus nicht unter anderem Namen weiterführt. Ein Staat, der die diversen Gruppen Syriens wirklich repräsentieren kann und nicht zu Gefühlen des Ausschlusses und zu weiterer politischer Instabilität führt.  

Tatsächlich ist es so, dass fundamentalistische Vorstellungen vom Islam potenziell vor allem sunnitische Muslim:innen bedrohen: Wer sich nicht an die von den Machthabern vertretenen Interpretationen hält, läuft Gefahr, der Apostasie bezichtigt zu werden. Jeder Schritt Richtung größerer Freiheit muss gefördert werden, jeder Schritt zurück vehement bekämpft.

Islamists too must ask whether the Islamic state they defend is one which could really guarantee the values of the revolution, dismantle the repressive structures of the state and not replicate authoritarianism under another name; one which could truly represent all of Syria’s diverse communities and not lead to feelings of exclusion and create further political instability. 

Indeed, fundamentalist visions of Islam may threaten Sunni Muslims above all: those who do not conform to the interpretations expressed by those in power are at risk of accusations of apostasy. Every step towards greater freedoms should be encouraged, every step backwards fiercely resisted.

Basisdemokratie schon seit 2011

Manche behaupten herablassend, Syrer:innen seien noch nicht bereit für die Demokratie. Doch in den letzten 13 Jahren hat in Syrien ein reiches demokratisches Erbe Form angenommen. Die lokalen Koordinationskomittees, die Proteste gegen das Regime organisierten, waren horizontal organisierte Einheiten, Frauen und Männer aus allen der diversen Bevölkerungsgruppen Syriens waren vertreten. In den befreiten Gebieten organisierten sich die Gemeinschaften selbst und richteten lokale Räte ein, um Dienstleistungen für die Bevölkerung zu organisieren. In vielen Fällen wählten sie ihre Vertreter:innen demokratisch.  

Es handelte sich um ein demokratisches System, das Menschen vieler verschiedener Glaubensrichtungen und auch Menschen ohne Glauben einbeziehen konnte: eine Basisdemokratie, die den Gemeinschaften die Autonomie gab, sich im Einklang mit ihren eigenen lokalen Werten und Traditionen zu organisieren. Diese Autonomie der Gemeinschaft entspricht keiner territorialen Aufteilung, sondern kann vielmehr eine organische Einheit schaffen, die zwar geeint, aber nicht homogen ist.  

Außerdem verteidigten revolutionäre Syrer:innen die hart errungenen Erfolge gegenüber autoritären Kräften und protestierten schnell gegen jeden, der die Freiheiten der Bevölkerung einschränkte. Auch gegen Personen, die heute an der Macht sind. 

Syrer:innen sind mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Es wird lange dauern, bis sich das Land von der politischen und wirtschaftlichen Zerstörung erholt. Es braucht Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht sowie eine Phase der Versöhnung. Es muss Zeit geben für den Wiederaufbau einer lebendigen Zivilgesellschaft und politischen Kultur. 

Syrien drohen jetzt viele konterrevolutionäre Gefahren. Syrer:innen müssen sich nicht an großen Ideologien orientieren, um ihre Zukunft zu gestalten. Sie sollten eher auf ihre eigene Erfahrung der letzten Jahre blicken und die Revolution weiterführen, denn es ging schon immer um mehr, als nur den Tyrannen zu stürzen. Das autoritäre Erbe des Assad-Regimes muss abgebaut und der demokratische Raum um jeden Preis verteidigt werden.  

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals auf Al-Jumhuriya. Übersetzt von Clara Taxis. 

 

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