Der Nachfolger des verheißenen Messias
Wie darf man sich einen "Kalifen des Verheißenen Messias" vorstellen, den weltweit Millionen Anhänger der Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) als spirituelles Oberhaupt betrachten? Als charismatische Persönlichkeit, der mit flammenden Worten den Gläubigen die Botschaft verkündet oder eher als jemand, der als eine Art ferner Heiliger vor allem schriftlich mit seinen Anhängern kommuniziert?
Weder noch. Hadhrat Mirza Masroor Ahmad, der 2003 in London zum inzwischen fünften Khalifat ul-Masih ("Nachfolger und Vertreter des Verheißenen Messias") gewählt wurde – auf Lebenszeit, so wie alle anderen auch vor ihm seit 1908 –, reist zu Ahmadiyya-Veranstaltungen weltweit. Auch zum 35. Jahrestreffen deutscher Ahmadis in Mannheim im Juni 2010 kam er und las nüchtern und unemotional vor etwa 30.000 Teilnehmern seine englischsprachige Rede über die Überwindung der Rastlosigkeit und Erlangung von Frieden vom Blatt ab.
Von Beruf Agrarökonom, hatte der 59-jährige, im Punjab geborene "Kalif des Verheißenen Messias" erst einige Jahre in der Entwicklungshilfe in Ghana gearbeitet. Er ist auch ein Urenkel von Mirza Ghulam Ahmad, dem Gründer und "Verheißenen Messias" der Ahmadiyya, der 1891 im indischen Qadiyan erklärte, der wiedergekehrte Jesus sowie der Mahdi zu sein, eine islamische endzeitliche Figur, die vor dem Jüngsten Gericht durch sein Kalifat die Erde mit Gerechtigkeit füllen soll.
Ahmadiyya-Führer als Prophet
Für die Mehrheit der Muslime, Sunniten wie Schiiten, ist nicht nur der Anspruch von Mirza Ghulam Ahmad, den Messias und Mahdi zu verkörpern, inakzeptabel, sondern vor allem seine Stellung als Prophet. Da im Koran Muhammad als "Siegel der Propheten" bezeichnet wird, kann es ihrer Auffassung nach weder einen Propheten noch eine weitere Offenbarung nach ihm geben. Die Erklärung der AMJ, diese koranische Bezeichnung bedeute zwar, dass Muhammad der beste und letzte gesetzgebende Prophet gewesen sei, schließe aber nachfolgende Propheten nicht aus, ist in ihren Augen blasphemisch.
Erst recht die Aussage der AMJ, jeder Mensch könne durch spirituelles Wachstum zum Propheten werden. Ein weiterer großer Streitpunkt ist der über Jesus: Während die meisten Muslime glauben, Jesus sei nicht am Kreuz gestorben, sondern in den Himmel aufgefahren, sehen Anhänger der AMJ darin einen Widerspruch zu göttlichen Naturgesetzen. Sie glauben, dass Jesus gen Osten gewandert und im Alter von 120 Jahren in Kaschmir eines natürlichen Todes gestorben ist. Mirza Ghulam Ahmad war für sie deshalb nicht der wiedergekehrte Jesus in dessen physischem Körper, sondern die Erfüllung seiner prophezeiten Wiederkehr durch eine ihm vollkommen ähnelnde Person. Daher werden Ahmadis von vielen Muslimen nicht als Muslime akzeptiert.
Spiritueller Dschihad
Sie selbst halten sich für die 'wahren' Muslime und den Glauben der Nicht-Ahmadis für verfälscht. Dabei betonen sie jedoch, dass Gewalt dem Islam völlig fern sei, der Dschihad genauso wie das Kalifat nicht politisch-weltlicher, sondern rein spiritueller Natur sei. Dementsprechend verkündete auch ein großes Spruchband auf der diesjährigen Jahresversammlung das wiederkehrende Motto: "Liebe für alle – Hass für keinen".
In ihrem Ursprungsland Pakistan sind Ahmadis seit 1974 per Gesetz Nichtmuslime und vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen; ähnlich auch in Malaysia, Indonesien und Saudi-Arabien. Seit der Islamisierung Pakistans durch General Zia ul-Haq (1977-1988) werden sie strafrechtlich verfolgt, wenn sie sich als Muslime bezeichnen oder in der Öffentlichkeit als solche verhalten. Immer wieder kam und kommt es zu Übergriffen auf Ahmadis, wie zuletzt die Ermordung von 92 Betenden in zwei Moscheen in Lahore am 28. Mai 2010.
Dass Anhänger dieser Gemeinschaft in Europa und in den USA ihren Glauben und Ritus freier ausleben können als in vielen arabischen Ländern, wo sie verfolgt werden, wird auch von Imam Abdul Basit Tariq von der Ahmadiyya-Moschee in Berlin-Heinersdorf festgestellt: "Die AMJ wird in islamischen Ländern verfolgt, in Ägypten und Saudi-Arabien wurden unschuldige Ahmadis darunter auch Frauen inhaftiert. Ahmadis ist auch die Pilgerfahrt verboten, weil die pakistanische Regierung im Jahr 1974 Ahmadis zur nicht-muslimischen Minderheit erklärt hat. 1984 hatte der Militärdiktator Zia ul-Haq alle Veranstaltungen und Publikationen der Ahmadiyya verboten." Ahmadis erhalten nach seinen Aussagen von Saudi-Arabien kein Visum zur Pilgerfahrt, wenn sie ihre religiöse Identität offenlegen.
Abstand von Stolz, Eitelkeit und Lüge
Mit islamischen Glaubensvorschriften sind Ahmadis streng. In ihren Freitagspredigten, die auch von ihrem eigenen TV-Sender MTA in mehreren Sprachen ausgestrahlt werden, auf ihren Websites und in ihren Schriften warnen sie immer wieder vor Vielgötterei und mahnen zur Einhaltung des Gebets sowie Beachtung islamischer Kleidervorschriften und züchtigen Verhaltens für sowohl Frauen als auch Männer. Die Mitglieder verpflichten sich in einem Gelübde (bay'a) zum Einhalten von zehn Bedingungen bzw. Verhaltensvorschriften wie das Einhalten der Gebete, das Aufgeben von Stolz und Eitelkeit und das Abstandnehmen von Lüge.
Außerdem beinhaltet das Gelübde auch, dass der Glaube und die Sache des Islam dem Gläubigen lieber als sein eigenes Leben und seine Kinder sein sollen.
Einer der Teilnehmer Muhammad L. erläutert dazu: "Die bay'a hat in erster Linie die Funktion des Gelübdes zur individuellen spirituellen Erneuerung, die in der mystischen Tradition des Islam zu sehen ist, wo die Entsagung der Welt im Mittelpunkt steht." Dies gehe auf Mirza Ghulam Ahmads intensive Beschäftigung mit der Mystik zurück. Auch der Pressesprecher der AMJ, Hadayatullah Hübsch, erklärt dieses Gelübde als "spirituellen Akt", um sich "in den Dienst der Menschheit zu stellen" und die "Befreiung des Menschen von Sünde" zu erreichen.
In diesem Sinne lautete auch eines der Spruchbänder im Frauenzelt: "Die Freude des Lebens liegt darin, die Grenzen der Moral nicht zu überschreiten". Ein anderes verhieß: "Durch Mühsal und Anstrengung können die Charakterzüge eines Menschen verbessert werden."
Heimliche Islamisierung?
Das Projekt "100 Moscheen", finanziert von Mitgliederspenden für den Bau von 100 Moscheen in Deutschland, sorgte in der Vergangenheit in verschiedenen deutschen Städten für Aufruhr. In Schlüchtern beispielsweise war Hiltrud Schröter, Dozentin im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt/M., eine der heftigsten Kritikerinnen, die die Ahmadiyya als "brainwashing-Sekte" bezeichnete. Auch in ihrem Buch "Die Ahmadiyya-Bewegung im Islam" (2002) stellt sie die Organisation als demokratiefeindlich dar und unterstellte ihr eine heimliche Islamisierung.
Besonders im Internet, in so genannten "islamkritischen" Foren, finden sich Befürchtungen, die Aussagen der AMJ zu Toleranz und Trennung von Religion und Politik im Sinne von Mirza Ghulam Ahmad seien rein strategischer Natur. In Wirklichkeit würden sie die deutsche Gesellschaft unterwandern. Der Pressesprecher Hübsch hält dem entgegen, dass die Jamaat keinerlei Interesse an der Ausübung weltlicher Macht habe. Er betont, dass aus den koranischen Anweisungen vielmehr eine strikte Trennung von Politik und Religion hervorgehe, wie auch Ahmadiyya-Kalifen stets darlegten.
Kopfbedeckung für Männer
Nach Selbstaussage soll auf der dreitägigen Zusammenkunft ein "Fest der Liebe zu Gott und Seinem Heiligen Propheten Muhammad, der Abkehr von weltlichen Vergnügen und der ernsthaften, aber freudigen Zuwendung zu der Schönheit der spirituellen Welt" gefeiert werden. Imam Abdul Basit Tariq erklärt: "Die Jahresversammlung ist eine reine religiöse Veranstaltung, dessen Grundstein Gott mit seiner eigenen Hand gelegt hat, und nach der Prophezeiung werden verschiedene Nationen an dieser Veranstaltung teilnehmen. Diese Veranstaltungen sind ein Kennzeichen der Brüderlichkeit und des liebevollen Umganges Miteinander."
Zu den verschiedenen Dienstleistungen gehörte auf dem Jahrestreffen auch Profanes: ein Bazar mit pakistanischen Lebensmitteln und pakistanischer Kleidung sowie Pizza, Kebab und Cola, eine kostenfreie BMI-Messung inklusive Beratung im Frauenbereich und – in beiden Bereichen – ein Zelt für Heiratsvermittlung. Pakistanisch war nicht nur das Essen, sondern auch die Kleidung vieler Teilnehmer.
Die meisten Frauen trugen den farbenfrohen und reichhaltig verzierten Salwar Kameez, die traditionelle pakistanische Kleidung, bestehend aus einer längeren geschlitzten Tunika über einer Hose. Auch viele Männer trugen den Salwar Kameez mit pakistanischen Kopfbekleidungen, denn nach der Lehre der Ahmadiyya sollten nicht nur Frauen unbedingt ein Kopftuch tragen. "Der Heilige Prophet Muhammad lehrte, dass auch Männer sich unauffällig kleiden und ihre Haare bedecken sollten, wenn sie außer Haus gehen. Er selbst trug stets einen Turban", erklären religiöse Führer der Ahmadiyya.
Von der Hippie-Bewegung zur Ahmadiyya
In der Frage-Antwort Sitzung für vor allem deutschsprachige Gäste am zweiten Tag der Veranstaltung führten Hadayatullah Hübsch und Abdullah Uwe Wagishauser das Wort. Beide sind deutsche Konvertiten, die während der 1968er aktive Mitglieder der Außerparlamentarischen Opposition waren, sich u.a. in Kommune 1 engagiert hatten.
Nachdem Wagishauser in Indien zur Ahmadiyya fand, ist er seit 1984 Vorsitzender der AMJ in Deutschland. Hübsch hat neben seinem politischen Engagement in den 1960er Jahren mehrere Gedichtbände und Artikel in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht, war unter anderem auch als Redakteur des Hessischen Rundfunks tätig. Nach Zusammenbrüchen durch den Konsum von LSD hatte er erst während einer Reise nach Marokko ein visionäres Erlebnis mit Gott, trat dann 1970 der AMJ bei. Nun ist er nicht nur Pressesprecher der AMJ Deutschland, sondern auch Prediger in der zur Ahmadiyya gehörenden Nuur-Moschee in Frankfurt. Von ihrer bewegten Hippie-Vergangenheit sah man den beiden mittlerweile über 60-jährigen Herren nichts mehr an.
Ebenso eloquent wie freundlich erklärten sie, was die Ahmadiyya von anderen Muslimen unterscheide. Auch hier betonten beide wieder die friedliche Seite ihrer Religion, die Ablehnung jeder Form von Gewalt und die Abgrenzung von radikalen islamistischen Gruppierungen. Umrahmt wurde das Jahrestreffen durch die Fahnenwache, die sich seit 1939 etabliert hat: Eine Garde bewacht dabei sowohl die schwarze Ahmadiyya-Fahne mit dem weißen Minarett, Vollmond und Mondsichel, als auch die deutsche Fahne.
"Es ist eine Verantwortung jedes Muslims, dass er immer als ein loyaler und vollkommen gesetzestreuer Bürger seines Landes lebt", hatte Mirza Masroor Ahmad bei der Eröffnung der Bait ul-Futuh Moschee in London 2003 erklärt. In dieser Moschee, die als größte Westeuropas gilt, hält der "Kalif des Verheißenen Messias" auch regelmäßig seine Freitagsansprachen. Wenn er nicht grade auf einer seiner zahlreichen Reisen ist.
Sabine Damir-Geilsdorf und Leslie Tramontini
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