Hoffnung und Resignation

Während die türkische Regierung versucht, die Rechte von Minderheiten zu stärken, halten die Interessenskonflikte in der südostanatolischen Region Tur Abidin zwischen Armeniern, Aramäern und Kurden und dem türkischen Staat weiter an. Hintergründe von Harald Brandt

Kloster Mor Gabriel, Midyat; Foto: Harald Brandt
Das Kloster Mor Gabriel: Die Rückkehr der syrisch-orthodoxen Christen, die ihre verlassenen Häuser wieder in Besitz nahmen und ihr Land beanspruchten, führte zu massiven Konflikten mit den kurdischen Nachbarn.

​​ "Es ist schwer, die Politik der Regierungspartei AKP zu verstehen ", sagt Jacob Gabriel beim Gespräch im Kulturverein der syrisch-orthodoxen Christen in Midyat. "Auf der einen Seite stärkt sie die Rechte der Minderheiten, auf der anderen Seite habe ich manchmal den Eindruck, dass für die AKP gute wirtschaftliche Beziehungen zu den Kurden im Nordirak wichtiger sind als die Menschen im eigenen Land."

Jacob Gabriel spricht fließend Deutsch mit starkem Schweizer Akzent. Im Alter von 17 Jahren hat er aus wirtschaftlichen Gründen seine Heimat in Südostanatolien verlassen, in der Schweiz eine Familie gegründet und viel gearbeitet. Seit kurzer Zeit lebt der 45-Jährige mit seiner Frau wieder in der Region des Tur Abdin im Südosten der Türkei, hat den alten Familiensitz renoviert und in Midyat ein Juweliergeschäft eröffnet.

Im Oktober 2009 war er noch Abgeordneter der prokurdischen DTP (Partei der Demokratischen Gesellschaft); als diese im Dezember 2009 vom Verfassungsgericht wegen ihrer mutmaßlichen Nähe zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK aufgelöst wurde, verlor er sein Amt.

"Die Menschen hier im Südosten wollen nicht mehr kämpfen", sagt er, "solange es aber keine Sicherheit gibt, wollen sie auch nicht einfach die Waffen niederlegen. Die Kurden haben die Konsequenzen daraus gezogen, sie haben sich organisiert, und die anderen Minderheiten in der Türkei wissen, dass ihre Zukunft mit dem Schicksal der Kurden verbunden ist."

Zweisprachige Ortsschilder

Als der türkische Innenminister Atalay im Juli 2009 die so genannte "kurdische Initiative" vorstellte, die den Minderheiten mehr kulturelle Rechte einräumte, waren die Reaktionen der Kurden, aber auch der syrisch-orthodoxen Christen, die heute noch in geringer Zahl im Südosten der Türkei leben, überwiegend positiv.

Kurdische Dorfnamen wurden wieder zugelassen, zweisprachige Ortsschilder tauchten zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei auf; an der Universität in der Provinzhauptstadt Mardin wurde ein Fachbereich für lebendige Sprachen eingerichtet, an dem neben Persisch, Arabisch und Aramäisch auch Kurdisch gelehrt werden darf. Im Februar 2010 erhielten 14 Fernseh- und Radiostationen eine Lizenz für die Ausstrahlung zeitlich unbegrenzter Programme in kurdischer Sprache.

Scherenschleifer im Suk von Mardin am türkischen Nationalfeiertag; Foto: Harald Brandt
Scherenschleifer im Suk von Mardin am türkischen Nationalfeiertag: Anfangs noch als Demokratisierungsprozess begrüßt, scheiden sich mittlerweile die Geister an der "kurdischen Initiative", die den Minderheiten mehr Rechte einräumt.

​​ Aber Jacob Gabriel ist nicht davon überzeugt, dass die Reformkräfte innerhalb der AKP die Oberhand behalten werden:

"Keine andere Partei hat die Fortschritte machen können, die die AKP gemacht hat. Sie wollen die Türkei in Richtung Demokratie und Frieden verändern. Aber das Militär stellt sich immer gegen sie und lenkt gegen ihre Arbeit."

In der Region des Tur Abdin, der Tafelberglandschaft zwischen Mardin und Midyat, lebten bis in die 1970er Jahre noch etwa 70.000 syrisch-orthodoxe Christen. Mit über 80 Klöstern und 33 wohlhabenden Dörfern war der "Berg der Knechte Gottes - Tur Abdin" viele Jahrhunderte lang ein Zentrum der Assyrer oder Aramäer, wie die syrisch-orthodoxen Christen auch genannt werden.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte eine Massenemigration nach Westeuropa ein, weil der wirtschaftliche und politische Druck, der sich besonders im Verbot der aramäischen Muttersprache Turoyo äußerte, immer stärker wurde.

1500 bis 2000 syrisch-orthodoxe Christen leben heute noch in der Grenzregion zu Syrien, etwa 10.000 in Istanbul und zwischen 120.000 und 150.000 in Europa.

Konflikte mit kurdischen Nachbarn

Das 397 nach Christus gegründete Kloster Mor Gabriel, knapp 30 Kilometer südöstlich von Midyat, gilt als geistliches Zentrum der syrisch- orthodoxen Christen in der Türkei. Etwa 70 Mönche, Schwestern und Schüler leben unter der Führung des Erzbischofs Timotheos Samuel Aktas heute noch in der historischen Anlage, die mit den Geldern zurückgekehrter Gemeindemitglieder vor einigen Jahren aufwendig renoviert worden ist.

Die Rückkehr der Christen, die ihre verlassenen Häuser wieder in Besitz nahmen und ihr Land beanspruchten, führte allerdings zu massiven Konflikten mit den kurdischen Nachbarn, die auf den Ländereien des Klosters weiterhin ihr Vieh weiden wollen.

Im August 2010 kassierte der oberste Gerichtshof ein Urteil des Kreisgerichts Midyat, in dem die staatlich dokumentierten Grenzen des Klosters bestätigt wurden. Dagegen hatten die Nachbardörfer Berufung eingelegt.

"Die aktuellen Probleme kommen daher, dass der Landbesitz früher nicht eingetragen wurde. Und als man damit begonnen hat, wurden sehr viele Fehler gemacht. Beim Privatbesitz, bei der Grenzziehung zwischen den Dörfern, und natürlich auch beim Eigentum der Kirche, bzw. der Klöster", erklärt der Sekretär des Bischofs, John Gültan.

1936 wurde eine Stiftung gegründet, die von der türkischen Verfassung anerkannt ist und als juristische Person das Kloster vertritt; auf Papieren von 1936 sind die Besitztümer des Klosters registriert.

"Und trotzdem haben wir Probleme, weil manche Leute sagen, dass das Kloster nicht so viel Land braucht. Das ist natürlich Unsinn", sagt Gültan. "Das Kloster ist eine legale Stiftung, wir haben die Eigentumsrechte seit 1600 Jahren. Das ist einer der strittigen Punkte zwischen der christlichen Minderheit hier und der Regierung."

Entschuldigung für Armeniermassaker

Die Frage der Eigentumsrechte betrifft nicht nur die syrisch-orthodoxen Christen im Südosten der Türkei sondern auch die zahlenmäßig viel größere Minderheit der christlichen Armenier, die 1915/16 fast vollständig ausgelöscht wurde.

Mine Kirikkanat; Foto: Wikipedia
"Heute wollen die Kurden den Status einer Minderheit erlangen, den sie anfangs nicht hatten und niemals haben werden, weil sie Mitbegründer dieser Republik sind", erklärt die Journalistin Mine Kirikkanat.

​​ Die Türkei befürchtet, dass die Anerkennung des Völkermords, dem schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, zu Reparationsforderungen von armenischer Seite führen könnte. Ein großer Teil des Bodens in Südostanatolien gehörte armenischen Bauern oder Grundbesitzern. Sprecher der armenischen Diaspora verlangen dafür Ersatz ebenso wie die Herausgabe der Guthaben auf osmanischen Banken, die dann in türkischen Besitz übergegangen sind.

Mine Kirikkanat, Kolumnistin der Zeitung Vatan, sieht ihr Land an einem Wendepunkt. Sie gehört zu den Initiatoren des Manifests aus dem Jahr 2008, in dem sich 200 türkische Intellektuelle für das Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs entschuldigten. Diese Initiative hat ihr viel Feindschaft in der Türkei eingebracht. Aber auch viel Anerkennung innerhalb der Zivilgesellschaft.

"Es geht nicht nur um die syrisch-orthodoxen Christen, sondern um alle Minderheiten. Ihre Situation wird sich nur verbessern, wenn sich auch die Situation der Kurden ändert", erklärt Kirikkanat und meint, christliche Türken sollten nicht alles auf die kurdische Karte setzen:

"Im Vertrag von Lausanne, dem Gründungsdokument der modernen Türkei, werden die Kurden nicht als Minderheit eingestuft, weil sie zusammen mit den Türken gegen die europäischen Eindringlinge gekämpft haben. Es war Inönü, der spätere Nachfolger von Atatürk, selbst ein Kurde, der diesen Vertrag unterzeichnet hat", erklärt sie und fährt fort: "Heute wollen die Kurden den Status einer Minderheit erlangen, den sie anfangs nicht hatten und niemals haben werden, weil sie Mitbegründer dieser Republik sind."

Harald Brandt

© Qantara.de 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

Qantara.de

Armenischer Gottesdienst in der Türkei
Tabubruch in Akdamar
Nach fast 100 Jahren empfing die ostanatolische Stadt Van tausende armenische Gäste, die zum Gottesdienst in der Kirche zum Heiligen Kreuz angereist waren - ein Wendepunkt für den Umgang mit christlichen Minderheiten in der Türkei. Susanne Güsten berichtet.

Christliche Liturgie in der Türkei
Das Wunder von Sumela
Die türkische Regierung will die Rechte der religiösen Minderheiten weiter stärken: Deswegen erlaubte sie dem orthodoxen Patriarchen, eine Messe im Kloster Sumela nahe Trabzon zu feiern. Iason Athanasiadis berichtet.

Interview mit Patriarch Mesrob II. Mutafyan
"Diese gereizten Beziehungen stören uns"
Der Patriarch der armenischen Minderheit in der Türkei, Mesrob II. Mutafyan, glaubt, dass Einmischungen von außen den Beziehungen zwischen Armeniern und Türken schaden. Mit ihm sprach Hülya Sancak.

Die aramäische Minderheit in der Türkei
Mehr als nur ein Landstreit
Der Streit um das Kloster Mor Gabriel im Südosten der Türkei, eines der ältesten christlichen Klöster der Welt, wirft ein Schlaglicht auf die jahrzehntelange wirtschaftliche und gesellschaftliche Benachteiligung der aramäischen Minderheit in der Türkei. Ayşe Karabat mit einem Rückblick