Ideologie der Festung Europa?
Der Begriff "Europäische Werte" hat seit Beginn der so genannten Karikaturenkrise vor zwei Jahren viel von seiner Unschuld verloren. Die Presseerklärung der Europäischen Kommission vom 15. Februar 2006 zu den damals teilweise gewalttätigen Protesten in islamischen Ländern, die nahezu gleich lautende Erklärungen fast aller Regierungen der EU-Mitgliedstaaten widerspiegelte, ist nur einer von vielen Indikatoren eines Trends zu mehr Ideologie für Europa:
"Meinungs- und Pressefreiheit gehören zu den Prioritäten unserer europäischen Werte", ist die Kernbotschaft, die sich an die Öffentlichkeit sowohl in Europa als auch in den arabischen und anderen überwiegend islamischen Ländern richtet.
Sind die Werte der Menschenrechte eine Besonderheit europäischer Zivilisation, die unseren Kontinent abgrenzt von anderen Weltregionen? Viele hatten gehofft, dass der Missbrauch der Menschenrechte als ideologische Waffe im Kalten Krieg sein historisches Ende gefunden hätte mit der UNO-Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien, die feierlich alle Menschenrechte als "unteilbares Ganzes" erklärte.
Werte als Mittel zur Abgrenzung
Die gegenwärtige Debatte um "europäische Werte" kreist um zwei alternative Denkansätze. Eine "substantielle" Position betont fundamentale kulturelle Unterschiede zwischen Europa und anderen Weltregionen. Eine andere Position fordert mehr "Engagement" Europas für die Umsetzung der universalen Menschenrechte, die – zumindest auf dem Papier – die Wertegrundlage der gesamten internationalen Gemeinschaft bilden.
Beide Positionen der Debatte um europäische Werte haben unterschiedliche politische Zielvorstellungen, die sich unter anderem im Ringen um die Beeinflussung der öffentlichen Meinung für oder gegen einen EU-Beitritt der Türkei und unterschiedliche Modelle einer Integration muslimischer Bevölkerungsgruppen äußern.
Damit wird die Debatte um die Besonderheit kultureller Werte Europas auch zu einer wichtigen Dimension des soeben mit zahlreichen Veranstaltungen eröffneten "Europäischen Jahres 2008 des Interkulturellen Dialogs".
"Die Bewahrung des europäischen Lebensstils ("preservation of the 'European way of life'") und die Zurückweisung des türkischen Antrags auf EU-Mitgliedschaft gehören zu den Kampagnenzielen des Netzwerks „Europäische Werte“. Das gescheiterte Projekt einer Europäischen Verfassung enthielt eine Definition europäischer Werte, die weitgehend der "Engagement-Position" entsprach.
Eurozentrische Werteorientierung
Es dürfte interessant sein, die Bezugnahme auf "europäische Werte" in künftigen Dokumenten der Europäischen Kommission und des Europaparlaments sowie in Erklärungen der jeweiligen Europäischen Präsidentschaft zu verfolgen.
Vor 20 Jahren startete der damalige Präsident der Europäischen Kommission Jacques Delors die Kampagne "Europa eine Seele geben", in Erinnerung an ein schon von Robert Schuman geprägtes Motto für das vereinte Europa.
Delors sah die Notwendigkeit, das Image der europäischen Institutionen als über-bürokratisierte Einrichtungen zu überwinden. In der Folge öffnete sich die Europäische Kommission für einen – seither etablierten – Dialog mit der Zivilgesellschaft einschließlich der Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften.
Ich habe jedoch den Eindruck, dass eine Reihe der Akteure in diesem Feld bewusst oder unbewusst eine sehr eurozentrische Werteorientierung pflegen. Dies verengt die historisch gewachsene Perspektive, in der Europa seine Vielfalt und seinen Pluralismus in ständigem Austausch mit anderen Weltregionen aufgebaut und geformt hat.
Das Recht zur kulturellen Selbstbestimmung
Zu Beginn des Kalten Krieges übernahm der – damals überwiegend westeuropäische – Europarat (mit der Türkei als Gründungsmitglied) von den Vereinten Nationen die Aufgabe, die Werte und Ziele der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 im Detail zu definieren. Die Europäische Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1950 war das wichtigste Instrument für die Herausbildung eines europäischen Verständnisses von bürgerlichen, politischen, soziale und kulturellen Rechten.
Diese Konvention ist jetzt – zusammen mit einer Reihe von Zusatzprotokollen zu ihrer Umsetzung – die Wertegrundlage des europäischen Kontinents. Das darin verankerte Recht zur kulturellen Selbstbestimmung spiegelt ein Verständnis von Kultur, das sich nicht im Kulturerbe erschöpft, sondern offen ist für Kreativität und Veränderung.
Es hat jedoch den Anschein, dass zahlreiche Akteure in der gegenwärtigen Debatte um europäische Werte die weitere Entwicklung in den Vereinten Nationen nicht wirklich zur Kenntnis genommen haben: 1966, vor mehr als 40 Jahren, wurde die gesamte Substanz der Europäischen Menschenrechtskonvention von den Vereinten Nationen in Form des Wirtschafts- und Sozialpakts über bürgerliche und politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verabschiedet.
Die Besonderheit Europas liegt seither nicht mehr in gemeinsamen Werten, die andere wären als in der übrigen Welt. Die Besonderheit Europas liegt in den Instrumenten zur Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention; dazu gehört insbesondere der Europäische Menschenrechtsgerichtshof.
Verteidigung der Meinungsfreiheit
Nimmt man das Engagement der Bürger zum Maßstab, wäre es vermessen zu behaupten, dass Europa stets die Avantgarde in der Verteidigung der Menschenrechte und der ihnen zugrundeliegenden Werte wäre.
Kurz nachdem die Presseerklärung der Europäische Kommission zu den Protesten gegen die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen herausgegeben worden war, war ich Gast einer Vollversammlung des Arab Press Freedom Watch – einer Vereinigung der Journalistenverbände aller arabischen Länder, in Kairo. Die Abschlusserklärung dieser Tagung ist deutlich:
"Wir verteidigen die Meinungsfreiheit jeden Tag. Anders als die meisten unserer Kollegen in Europa gehen viele von uns ins Gefängnis, weil sie diese Freiheit verteidigen, und werden oft Opfer härtester Sanktionen. Wir stehen ständig in der Gefahr, von den politisch und wirtschaftlich Mächtigen wegen 'übler Nachrede' in Prozesse verwickelt zu werden. Unsere Werte sind keine anderen als die unserer europäischen Kollegen. Wir hoffen deshalb, dass unser Appell zur Achtung der religiösen Gefühle von Muslimen auch bei den europäischen Medien Gehör findet."
Es scheint, als würden bis heute der Menschenrechtsdiskurs und die Debatten um Kultur auf getrennten Ebenen stattfinden, die kaum durch gemeinsame Werte und gemeinsame Sprache verbunden sind.
Traugott Schoefthaler
© Traugott Schoefthaler 2008
Original: Englisch; deutsche Übersetzung durch den Verfasser. Leicht aktualisierte Fassung eines Abschnitts aus Kapitel 8 "The European Values Dilemma", S. 143-145, in: Traugott Schoefthaler: Adventures in Diversity. New Avenues for the Dialogue between Cultures. Bonn. German Commission for UNESCO 2007, 176 S. (Buchbestellung bei: info-bibliothek@unesco.de)
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Dr. Traugott Schöfthaler hat als Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission (1993-2004), Initiator der euro-arabischen Task Force der Nationalkommissionen für die ALECSO, ISESCO und UNESCO (seit 2001) und Gründungsdirektor der Euro-Mediterranen Anna Lindh-Stiftung für Kulturdialog in Alexandria, Ägypten (bis 2007) langjährige Erfahrung im Kulturdialog zwischen Europa und der arabischen Welt. Er ist derzeit als Berater für den Europarat tätig.
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