Eine Metropole voller schöner Makel
Zwei Arbeiter hängen an Seilen hoch oben an der Spitze eines Minaretts. Weiter unten, aber immer noch in schwindelerregender Höhe, ein hölzerneres Baugerüst, auf dem ein weiterer Arbeiter balanciert. Dahinter ein atemberaubender Panorama-Blick auf die Galata-Brücke: Winzig kleine Menschen und Autos, eine alte Straßenbahn, Bosporus-Dampfer in Spielzeug-Größe auf dem Meer und die bebauten Hügel der Stadt, die sich hinter Karaköy erstrecken. Der türkische Fotograf Ara Güler hat diese Szene 1957 festgehalten. Das Bild ist Teil seines außerordentlichen Lebenswerks, das er ganz unprätentiös und schnörkellos "das Archiv" nennt. Damit wird deutlich, wie Ara Güler seine Arbeit sieht: Als dokumentarische, journalistische Fotografie. Auf den Betrachter wirkt jede einzelne seiner Fotografien aber wie ein sorgsam komponiertes Kunstwerk. Bekannt geworden ist Güler mit seinen monumental wirkenden Schwarz-Weiß-Fotografien von Istanbul, dem sich jetzt ein ganzer Bildband widmet. In diesen Fotografien hat Güler das Istanbul der 1940er bis 1980er Jahre festgehalten, eine Zeit des großen Aufbruchs. "Das Archiv" in Galata Ara Gülers fotografisches Werk ist in seinem Umfang gigantisch und in seiner Bedeutung auch historisch hoch interessant. Zum Beispiel für Schriftsteller, die ein Rest des alten, wenn nicht bereits vergangenen, dann doch verfallenden Istanbul suchen.
Wenn die Erinnerungen an das Istanbul ihrer Jugend zu blass ist, um die Einzelheiten zu Papier zu bringen. In Ara Gülers Bildern können sie sich das unwiederbringlich verlorene Leben wieder in Erinnerung rufen und mehr als das: Sie können die großen Veränderungen und Brüche und den Aufbruchsgeist dieser Zeit mit all ihren Details in fotografischen Dokumenten sehen. Einer dieser Schriftsteller, der das "Archiv" in Galata nutzte, war Orhan Pamuk. Die Fülle des Materials soll ihn schier erschlagen haben. Ara Güler hat die Stadt an allen möglichen Punkten und Himmelsrichtungen fotografiert. Er hat keinen wichtigen Ort ausgespart. Vor allem hat er die Menschen nicht ausgespart. Ara Gülers Istanbul ist ohne seine Menschen nicht denkbar, mit all ihrem Freud und Leid. So hat sich der Fotograf nicht wie der klassische Tourist etwa für menschenleere Sehenswürdigkeiten interessiert, sondern für das Leben der Armen und Mittellosen: Mühe, Not, Arbeitslosigkeit, Verfall, aber auch Fleiß und Hoffnung werden in seinen Bildern greifbar. Das alles aber ist so poetisch und melancholisch verpackt, dass diese Bilder weit mehr sind als nur dokumentarische Fotografien. Sie sind das menschliche Vermächtnis der Bewohner von Istanbul. Armut, Not und amerikanische Autos Malerisch und atmosphärisch glitzert der Bosporus mit seinen Stadtdampfern, den Rußwolken und bleiernem Nebel auf dem Meer. Lastträger und Straßenhändler schleppen sich auf Kopfsteinpflastern dahin. Die Menschen leben und arbeiten in Ruinen, verfallenen Häusern, kaputten, schlammigen Straßen.
Man sieht Lastkutschen neben amerikanischen Autos. Alte Männer, die sich betrinken oder gelangweilt in Cafés herumsitzen. Kinder spielen mit Murmeln vor einer byzantinischen Kirche. An anderer Stelle Männer in zerschlissener Kleidung, die darauf warten, dass ihnen jemand Arbeit gibt: Den Menschen ist der schlichte Kampf ums Überleben ins Gesicht geschrieben. Neben all der Not aber auch deutliche Zeichen von Industrialisierung und urbanem Komfort: Autos, Straßenbahnen, Fabriken, Hochhäuser. Eine ganz normale Metropole. Dann aber stehen fromme Frauen vor den filigranen Ornamenten der Heiligengräber in Eyüp und sitzen vor Moscheewänden, die mit kostbaren osmanischen Kacheln verziert sind. Viele Bilder könnten wie vor 50 Jahren auch heute entstanden sein. Andererseits: Wer heute auf den Hügeln von Eyüp steht und auf das Goldene Horn hinunterblickt, kann sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass es hier einmal ganz anders aussah. Ara Güler fotografierte 1975 die Landschaft um Eyüp, die im Vergleich zu heute nackt dasteht. Fragile Menschen vor imposanter Kulisse Pomp und Verfall, Größe und Not sind in diesen Bildern sehr nah beieinander. Vor einem imposanten Stadtbild, das von mächtigen Minaretten und Kuppeln geprägt ist, wirken die Menschen auf Gülers Fotografien besonders fragil. Es sind die Menschen, die den Betrachter emotional berühren. Ara Güler gehört heute zu den bedeutendsten Fotografen weltweit. Er begann seine Karriere als Zeitungsfotograf, dabei wollte er eigentlich Maler werden. Bereits 1947 fotografierte er seine Heimatstadt Istanbul. Ab 1958 arbeitete er für internationale Magazine wie Time Life, Paris Match und Stern. 1961 wurde er von der wichtigsten internationalen Fotoagentur Magnum aufgenommen. 1999 wurde er in der Türkei als "Fotograf des Jahrhunderts" geehrt. Orhan Pamuk nennt Gülers Werk das "visuelle Gedächtnis von einem halben Jahrhundert Stadtgeschichte". Die Fotografenlegende Ara Güler wird nicht umsonst auch "das Auge Istanbuls" genannt. Nimet Seker © Qantara.de 2010 Ara Güler, Orhan Pamuk: Istanbul. DuMont Verlag 2010. Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de
Qantara.de Der "Orient" aus der Sicht arabischer Fotografen Blick in den toten Winkel Sie werden viel kritisiert und noch öfter gezeigt: orientalisierende Bilder. Die Arab Image Foundation zeigt in ihrer Online-Sammlung auch andere Sichtweisen. Eine Entdeckungsreise zu historischen Stätten und verschleierten "Orientalinnen" – und weiter. Von Mona Sarkis Fotoausstellung in Sharja: "Focus Orient" Eine fotografische Reise in die Vergangenheit Im Emirat Sharja zeigt die Ausstellung "Focus Orient" erstmals über 200 historische Fotografien aus der gesamten islamischen Welt. Diese von Europäern angefertigten Fotografien zeigen sowohl Architektur als auch Alltagsszenen und Porträts im orientalistischen Stil. Georg Ossenbach war auf der Eröffnung der Ausstellung dabei. Historische Orient-Fotografie 1864-1970 Mit Kamel und Kamera Jahrzehntelang lagerte im Hamburger Museum für Völkerkunde vollkommen unbeachtet eine einzigartige Sammlung von historischen Orient-Fotografien. Nun ist der Bestand von 18.000 Fotografien erschlossen und in einer öffentlichen Ausstellung zu sehen. Nimet Seker berichtet. Sevrugian: Bilder des Orients in Fotografie und Malerei Grenzgänger zwischen Armenien und Persien In einer einzigartigen Ausstellung zeigt das Museum der Weltkulturen in Frankfurt das Werk und die besondere Familiengeschichte der armenisch-iranischen Künstler Antoine-Khan Sevruguin und André "Darvish" Sevrugian. Einzelheiten von Nimet Seker